Gastarbeiter im Internet

Für die meisten subalternen Online-Dienstleistungen werden nach wie vor Menschen gebraucht – und mit Hungerlöhnen bezahlt.

Im Jahr 1769 erregte der ungarische Ingenieur Johann Wolfgang von
Kempelen in ganz Europa Aufsehen mit dem modernsten Automaten seiner
Zeit: einer Schach spielenden Maschine. Der “Schachtürke”, eine
lebensgroße Puppe mit Schnurrbart und Turban, saß hinter einem großen
Holzkasten. Darin befand sich eine ausgetüftelte Konstruktion aus
Zahnrädern, Hub- und Schubstangen, die sich mit einem langen Schlüssel
aufziehen ließ und die ihr Erfinder als künstliche Intelligenz
vorstellte, die der Intelligenz der meisten Menschen überlegen sei.

In der Tat spielte der “Türke” gut Schach. Auf seiner Rundreise durch
Europa gewann er die meisten Partien und schlug zum Beispiel 1783
Benjamin Franklin in Paris und 1809 Kaiser Napoleon I. in Schloss
Schönbrunn bei Wien.

Dass die Sache “getürkt” war, also die Zeitgenossen einem Betrug
aufsaßen, wurde erst später bekannt. Hinter dem Räderwerk des Kastens
befand sich ein Hohlraum, in dem ein Schachmeister aus Fleisch und Blut
versteckt war. Über eine Reihe von Spiegeln behielt er das Brett im Blick
und lenkte die Bewegungen des Automaten. Der “mechanische Türke” spielte
gut, weil der verborgene Spieler gut spielte – von künstlicher
Intelligenz also keine Spur.

Erst 200 Jahre später, 1997, unterlag der Schachweltmeister Garri
Kasparow in einer Partie gegen einen Computer. “Deep Blue” war der erste
Computer der Welt, der gegen einen Schachweltmeister gewann. Da mochte
man bereits glauben, dass für viele geistige Tätigkeiten schon bald keine
grauen Zellen mehr erforderlich sein würden.

Dennoch geriet der “mechanische Türke” nicht in Vergessenheit. Das
Internet-Handelsunternehmen Amazon ließ ihn wieder aufleben, und zwar in
Gestalt des “Amazon Mechanical Turk” oder MTurk, den es im November 2005
der Öffentlichkeit vorstellte.1 Dabei geht es freilich nicht mehr ums
Schachspielen, sondern um die Einbindung menschlicher Intelligenz in die
Lösung von Aufgaben, die ein Computer nicht oder nur schlecht bewältigen
kann. “Menschen können viele einfache Aufgaben nach wie vor weit besser
erledigen als selbst die rechenstärksten Computer, beispielsweise die
Identifizierung von Gegenständen auf Fotografien, eine Fähigkeit, über
die Kinder schon verfügen, bevor sie sprechen können”, meint Amazon.

Ursprünglich wollte der Online-Buchhändler die Hirne seiner Klienten nur
für den Eigenbedarf nutzen, etwa um das beste Werbefoto auszuwählen,
Produktbeschreibungen anzufertigen oder die Interpreten eines Musikstücks
zu identifizieren. Solche Aufgaben sind schwer zu automatisieren, werden
jedoch offenbar von Millionen Surfern gegen ein geringes Entgelt oder
Einkaufsgutscheine gern erledigt.

Amazon begriff schnell, dass es für den MTurk ein kolossales
Betätigungsfeld gibt, und baute mturk.com zu einem eigenen
Dienstleistungsangebot aus. Nun kann weltweit jeder dem neuen “Türken”
eine geistige Aufgabe anvertrauen und die Entlohnung nach eigenem
Ermessen festlegen, und jede Person “über 18 Jahre mit einem Computer mit
Internetanschluss” kann sich um die Erledigung dieser Aufgabe bewerben.
Amazon kassiert dabei jeweils eine Kommission von 10 Prozent.

Als der neue Dienst online ging, hofften tausende von Surfern, auf
einfache Weise Geld verdienen zu können. Die Ernüchterung folgte rasch:
Die Entlohnung für eine “menschliche Intelligenz erfordernde Aufgabe”
bewegt sich in der Größenordnung von wenigen Cent. Amazon selbst bietet
meistens nur 1 Cent für die Beantwortung von Fragen wie “Welches sind die
drei besten Alben von Metallica?” oder “Wie heißen die drei besten
irischen Pubs in Seattle?”. Bis zu 2 Cent darf erwarten, wer weiß, wo man
in New York am besten einen Ölwechsel machen lassen kann – egal ob er
die Stadt selbst kennt oder eine passable Antwort mit Hilfe einer
Suchmaschine findet.

Tippen zu einem Drittel des marktüblichen Preises

Ähnliche Anwendungen bringen nicht viel mehr ein. Das
Start-up-Unternehmen Casting Words zum Beispiel bietet über Amazon
“automatisches Abtippen durch menschliche Schreibkräfte” zu einem Drittel
der marktüblichen Preise an.2 Trotz der undankbaren Aufgabe und der
lächerlichen Entlohnung finden sich genügend fleißige Hände, die – “meist
innerhalb von 24 Stunden” – die getippten Texte abliefern.

Erstaunlicher noch ist, dass man für bestimmte Aufgaben überhaupt kein
Entgelt zu bieten braucht. Das gilt etwa für “Google Answers” – ein
System, bei dem Surfer kostenlos die Fragen anderer Surfer beantworten.
Auch die Entwickler freier Software und die Redakteure der
Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeiten im Grunde kostenlos.

Wer sind diese im Verborgenen Werkelnden? Laut Amazon Personen, die “in
ihrer Freizeit Geld verdienen” möchten und über MTurk Tätigkeiten finden,
die sie überall und zu jeder Zeit erledigen können. Aber offenbar auch
in einem rechtsfreien Raum, in dem Arbeit nicht wirklich Arbeit ist (die
“Belohnungen” sind kein wirkliches “Entgelt”). Und es gibt auch keine
Arbeitsverträge zwischen den “Anbietern”, die die Aufgaben ins Netz
stellen, und den “Lieferanten”, die für die Erledigung dieser Aufgaben
nur bei Zufriedenheit des Anbieters bezahlt werden.

Dabei ist Amazon durchaus klar, dass der originelle Begriff “künstliche
künstliche Intelligenz”3 nichts weiter als menschliche Arbeit meint. Denn
das Unternehmen weist die “Lieferanten” darauf hin, dass sie die
arbeitsrechtlichen Vorschriften ihres Landes einzuhalten haben,
insbesondere die für Freiberufler geltenden Meldepflichten und die
Höchstarbeitsdauer. Durch die Inanspruchnahme des Dienstes komme weder
mit den Anbietern noch mit Amazon selbst ein Beschäftigungsverhältnis
zustande. Ebenso wenig könnten die “Lieferanten” Leistungen beanspruchen,
die die Anbieter oder Amazon den eigenen Beschäftigten gewähren – wie
bezahlten Urlaub, Krankenversicherung oder Rentenansprüche.

IT-Chronist David L. Margulius hat den neuen “Stücklohn” ausprobiert und
herausgefunden, dass er damit höchstens 3,60 Dollar (2,85 Euro) pro
Stunde verdient. Der gesetzliche Mindestlohn in den USA liegt seit neun
Jahren bei 5,15 Dollar. Margulius sieht hier eine neue Form des
Outsourcings, die sich nicht als solche zu erkennen gibt. “Sieht man
einmal davon ab, dass es sich um eine Unterschreitung des garantierten
Mindestlohns handelt, fasziniert mich daran, dass Amazon hier einen Weg
gefunden hat, die Tendenz zur Auslagerung (Offshoring) ins Extrem zu
treiben, was ich als ‘Webshoring’ bezeichnen würde. Wo der Arbeiter
sitzt, interessiert überhaupt nicht mehr, er soll nur seine Arbeit gut
machen und keine zusätzlichen Managementkosten verursachen.”4

Ein Paradebeispiel hierfür sind die neueren Entwicklungen bei
Online-Spielen. Im bekanntesten dieser Spiele, “World of Warcraft”,
bewegt sich der Spieler in einer virtuellen Online-Welt, in der er mit
anderen Spielern in Interaktion (Dialoge, Handel, Kämpfe) tritt. Am
Anfang muss er noch Waffen, Geld und Punkte sammeln, um auf die höheren
Spielebenen zu gelangen, wo das Spiel erst richtig interessant wird.

Aber er muss nicht unbedingt warten. Auf elektronischen Märkten, die dem
MTurk ähneln, kann ein reicherer Spieler einen anderen kaufen, der schon
weiter aufgestiegen ist. Zum Beispiel einen Chinesen, der mit dieser
Tätigkeit weit mehr Geld verdienen kann als mit einem normalen Job.
Schätzungsweise 100 000 Chinesen arbeiten derzeit täglich an der
Absolvierung von Ebenen, die andere nicht gern spielen.5 Der Käufer aber
erfährt nie, wer in dem Spielkasten steckte.

In manchen Fällen muss man die Kompetenzen der im Verborgenen bleibenden
Arbeitskräfte aber doch kennen. Erwartet der Auftraggeber das Genie
eines Bobby Fischer, würde ein mittelmäßiger Schachspieler den Automaten
nur in Verruf bringen. Je qualifizierter die Arbeit, desto strenger daher
die Anforderungen an den Arbeitslieferanten. Er hat Qualifikationstests
zu absolvieren und seinen beruflichen Werdegang nachzuweisen, während dem
“Anbieter” stets die Möglichkeit bleibt, die abgelieferte Arbeit zu
verwerfen, was der “Reputation” des “Lieferanten” natürlich schadet.

In diesem Bereich ist Amazons MTurk allerdings im Hintertreffen. Für
Umfragen mag der Dienst ja geeignet sein, aber für qualifiziertere
Arbeiten suchen die Arbeitgeber doch speziellere Marktplätze. Zum
Beispiel die Firma Rentacoder.com, auf deren Website es heißt: “Sie
können online den Lebenslauf und die Bewertung jedes Bieters einsehen,
und wenn Sie sich entschieden haben, können Sie die Dienste des
Entwicklers Ihrer Wahl mit nur wenigen Klicks mieten.” Um die Aufträge
bewerben sich vor allem russische, indische und pakistanische
Programmierer.

Einen breiteren Bereich deckt elance.com ab, das die Dienste von
Grafikern, Redakteuren, Webdesignern, Übersetzern und Juristen anbietet.
Das Online-Unternehmen spricht von über 100 000 Nutzern und einem
Gesamtauftragsvolumen von 90 Millionen Dollar. “Da die von uns
vermittelten Experten um Ihren Auftrag konkurrieren, zahlen Sie nur den
bestmöglichen Preis”, heißt es auf der Seite, im Vergleich zu anderen
örtlichen Anbietern könne man über 60 Prozent einsparen. Webshoring auch
hier: Wo der Netzarbeiter lebt und arbeitet, interessiert ebenso wenig
wie die Frage, wie hoch der “bestmögliche Preis” für ihn liegt. Der
konservative britische Philosoph Edmund Burke schrieb 1795: “Wird eine
Ware zu Markt getragen, ist es nicht die Bedürftigkeit des Verkäufers,
sondern die Bedürftigkeit des Käufers, die den Preis in die Höhe treibt.
[…] Ob derjenige, der seine Arbeit zu Markte trägt, ein Auskommen
findet, ist eine unter diesem Gesichtspunkt völlig unerhebliche Frage.”6

Bei Übersetzungen hat das Programm Trados ganz neue Standards
eingeführt. Es schöpft aus einer Datenbank vorgefertigter Satzschnipsel
und Formulierungen und verspricht “kohärente Übersetzungen in kürzerer
Zeit”. Vor allem aber schafft es die Voraussetzung dafür, dass man
Übersetzer nur für die Wörter bezahlen muss, die nicht aus der Datenbank
stammen. Auf dem Marktplatz TranslationZone sind denn auch nur Übersetzer
zugelassen, die das 700 Euro teure Trados-Programm verwenden und eine
hauseigene Prüfung absolviert haben, die zwischen 50 und 300 Euro kostet.

Auch MTurk ist in diesem Bereich aktiv geworden und veranstaltet
Qualifizierungssitzungen für angehende Übersetzer. So annonciert Amazon
bereits, dass man Kompetenztests für Übersetzungen aus dem Englischen ins
Spanische, Französische, Deutsche und Hebräische anbietet, und ermuntert
seine MTürken, die diese Sprachen beherrschen, den Test zu absolvieren;
dann werde man sie mit “bedeutenderen Arbeiten” betrauen.

“Wir arbeiten an der Schaffung eines elektronischen Markts für Arbeit
und Arbeitskräfte”, erklärt Jeff Barr, der die Amazon-Webdienste
propagiert. “Heute kann man in unserer Branche in großem Maßstab
menschliche Intelligenz einbinden.” Schließlich ist der Mensch nur ein
Prozessor unter anderen und entgegen einer weitverbreiteten Ansicht
vielleicht sogar der billigste.

"Software out there", The New York Times, 5. April 2006.

Siehe The Economist, 10. Juni 2006.

"Ogre to Slay? Outsource It to Chinese", The New York Times, 9. Dezember 2005.

David L. Margulius, "Amazon Mechanical Turk kicks off 'Webshoring' ", Infoworld, San Francisco, 18. November 2005.

Published 6 September 2006
Original in German
Translated by Bodo Schulze
First published by Le Monde diplomatique (Berlin) 8/2006

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Pierre Lazuly/Le Monde diplomatique (Berlin) Eurozine

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