"Europa" als Noch-nicht-Seiendes

Europa ist herausgefordert. Die europäischen Staaten sind herausgefordert. Die “Leistungsbereitschaft” der Unternehmer ist herausgefordert. Die Bildungspolitik ist herausgefordert. Wir alle sind herausgefordert. Was aber fordert uns heraus? Was überfordert uns?

Natürlich ist es die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Genauer gesprochen besteht die aktuelle Überforderung darin, dass die Mehrzahl der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ansprüche, wie sie von einzelnen sozialen Akteuren evoziert werden, weniger Chancen denn je haben, verallgemeinerungsfähig zu sein. Und dass sich das Bild der Wirklichkeit nicht als gemeinsame Vorstellung des Realen zeichnen lässt, ist ohnedies überdeutlich. Europa weiß nicht, was es will, und es weiß nicht, was es ist.

In nicht geringem Maß hängt dies mit den fehlsamen Einschätzungen in der Vergangenheit zusammen. Diese Einschätzungen haben Wirkung gehabt. Institutionelles Gefüge und Konventionen haben sich ausgebildet. Es sind falsche Prognosen erstellt worden. Es wurden falsche Erwartungen geweckt. Anfang der Neunzigerjahre hat das kaum wer gesehen. Der Ost-West-Gegensatz hatte sich aufgelöst. Die Sowjetunion war zusammen- beziehungsweise auseinandergebrochen. Was ist da nicht alles als Chance begriffen worden? Politische Teilung sollte überwunden werden. Wirtschaftliche und politische Integration sollte “ganz Europa” umfassen. Alles ganz löblich.

Rückblickend liefen Prozesse der Über- und Unterschätzung parallel: Wirtschaftliche und soziale Probleme wurden gering geschätzt, das alte Feindbild Sowjetunion ganz ohne Not prolongiert. Plötzlich sollte Europa zum “world player” mutieren – ganz ohne Erfahrung und ohne Konzept. Herfried Münkler hat die Lage unlängst gut beschrieben: “Tatsächlich bestand und besteht die Herausforderung der Europäischen Union darin, dass sie auf der einen Seite mit einem postimperialen Raum konfrontiert war, in dem sich mit großer Geschwindigkeit alle die Konflikte und Instabilitäten entwickelten, die für postimperiale Räume typisch sind, während sich auf der anderen Seite die bislang als wohlwollender Hegemon agierende westliche Führungsmacht zunehmend in einen imperialen Akteur verwandelte, der auf die Wünsche und Vorstellungen seiner Verbündeten kaum noch Rücksicht nahm.”

Man muss nicht gleich von einer “imperialen Herausforderung Europas” sprechen und “Anleihen beim Ordnungsmodell der Imperien” postulieren, wie Münkler dies tut, aber bei einigermaßen realistischer Einschätzung dieses Sachverhalts lässt sich das meiste von dem, was im Zusammenhang mit den Motiven und den Zielen etwa der “Europäischen Verfassung” gesagt wurde, als bloßes Geschwätz entziffern. Der Versuch, eine “Europäische Verfassung” in Kraft zu setzen, lässt sich in seinem “plot” lesen als widerständig-bürokratisches Handeln gegen die sich abzeichnende Marginalisierung bei grundsätzlich politisch-militärischen Entscheidungen. Die Eliten “spüren” ihre Bedeutungslosigkeit im Weltmaßstab – deshalb ein EU-Außenminister, deshalb der obligate Wehrbeitrag und so weiter. Und die schwindende Legitimationskraft des Ordnungsmodells EU nach innen gab der “Europäischen Verfassung” den (vorläufigen) Rest.

Die von der “Europäischen Verfassung” angezielte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erwächst aber auch aus der Notwendigkeit, an der europäischen Peripherie stabilisierend zu wirken. Die beiden Problembereiche – Marginalisierung gegenüber den USA und Stabilisierung der EU-Peripherie – lassen sich zwar unterscheiden, sie lassen sich aber nicht trennen. Europa hat weder als geografischer noch als politischer Raum eine klare Grenze. Europäische Politik ist gezeichnet vom Prinzip einer auf Grenzbündelung beruhenden Organisationsform des Politischen; maßgeblich für das europäische Denken ist der Nationalstaat als nicht nur politische und wirtschaftliche, sondern auch sprachliche und kulturelle Entität. Dass die EU sich bisher noch nicht als handlungsfähiger Akteur auf der politischen Bühne produzieren konnte, hängt damit zusammen: Anders als die europäischen Nationalstaaten selbst ist eine europäische Einheit gerade mal als Wirtschaftsraum absehbar – weder politisch noch sprachlich noch kulturell steht die für Nationalstaaten typische Homogenität zu erwarten, ganz abgesehen davon, dass eine derartige (Zwangs-)Homogenität nicht wünschenswert wäre.

Ob sich also bei den Versuchen der europäischen Staaten, ein Staat zu werden, jemals mehr ergeben wird als die Ausbildung eines Subzentrums im imperialen Raum der USA, ist durchaus zweifelhaft. Den Europäern fehlt es am “imperialen Ernst”, das macht sie in den Augen der USA schwach und lässt sie in den Augen potenzieller Konfliktparteien im Südosten Europas als unentschlossen und halbherzig wirken, während gleichzeitig die instabile Peripherie im Osten und Südosten ständig eine “imperiale Überdehnung” (Münkler) der EU provoziert. Die EU will mehr als sie kann, und sie könnte mehr als sie will. Europäische Abwehrinstinkte und notdürftig verschleierte ethnozentristische Vorurteile verhindern in vielen Fällen, die Sachen wirklich anzupacken. Solange sich der maßgebliche Diskussionsfluss entlang dem ideologischen Rinnsal “europäische Identität” ergießt, wird man freilich immer zu spät kommen. Bis etwa die Frage des Beitritts der Türkei unter dieser Prämisse geklärt sein wird, ist alles schon entschieden – von anderen. Wie überhaupt das Thema “EU-Beitritt der Türkei” als Schibboleth dienen kann für die Befindlichkeit Europas. Seyla Benhabib hat Recht, wenn sie Europa auch hier vor die Wahl gestellt sieht: Rückzug oder Engagement. Ein ehrwürdiges Sprichwort sagt: “You can¹t walk on both sides of the street.” Die EU versucht genau dies. Das aber geht nicht, jedenfalls führt es zu nichts. Die vor der Zeit abgetriebene “Europäische Verfassung” ist ein schönes Beispiel dafür; die permanent misslingende Nahostpolitik der EU ein anderes.

Die europäischen Nationen stehen unter der akuten Bedrohung durch die Marktglobalisierung, sie drohen immer rascher ihre traditionelle Staatlichkeit zu verlieren. Während die Regierungen alle Kräfte daran setzen, ihre Bevölkerungen für den Konkurrenzkampf zu trainieren und zu disziplinieren, werden gleichzeitig die nationalen Besonderheiten und ihre Integrationskraft zerschlissen – der Staat wird schwach und versucht dennoch permanent aufzurüsten. Osteuropa hingegen wurde insgesamt in eine Zone der Halbwürdigkeit zurückgestoßen und ist erst dabei, konsolidierte, demokratisch organisierte Staaten aufzubauen. Deutliche Spuren eines ökonomischen Rassismus sind zu erkennen.

Unter eine gemeinsame Verfassung bringen sich unterschiedliche Nationen nur, wenn sie sich aufeinander verpflichten, füreinander verantwortlich zu sein. In einem politisch verfassten Europa, von der Ostgrenze Polens bis zur Südgrenze Griechenlands, könnten sich Nationen zusammenfinden, die ihre Souveränität, ihre Selbstbestimmung und ihre Verfassungen aus eigener Kraft errungen haben. Könnten sich die Europäer entschließen, die Wirrnis der unlesbaren und unverstehbaren Marktunion hinter sich zu lassen und Europa endlich politisch zu gründen, dann wäre ihnen auch wie von selbst begreiflich, dass an den Anfang der Ort der Willensbildung und der politischen Entscheidung gehört, das Parlament. Nur dann freilich, wenn man ein Parlament vorschlägt, das in seiner vollen demokratischen Bedeutung als Zentrum der Legitimität und der Selbstbestimmung Europas fungiert, lässt sich auch Regierbarkeit erhoffen.

Bis heute hat den Europäern niemand vor Augen geführt, dass ein derartiges “Europäisches Parlament” sinnvoll und wünschbar ist. Weder die bürokratische Klasse der EU noch die Staaten Europas hatten ein Interesse daran. Wäre aber das Parlament der Hauptort, an dem alle Europäer politisch repräsentiert wären und an dem sie ihre Selbstbestimmung und ihre Souveränität ausdrücken könnten, dann erhielte ein derartiges Parlament den notwendigen politischen “appeal”. Es würde auch keine Schwierigkeiten machen, ein bikamerales System zu entwickeln, dessen “Unterhaus” von den Staatsangehörigen zu wählen wäre, während das “Oberhaus” aus den Vertretern der Staaten bestünde. Eine solche Ordnung würde vielen Europäern einleuchten, da sie Ähnliches aus vielen ihrer nationalen Verfassungen kennen. Staatsrechtlich geht es darum, “die Debatte über die technologische Konstruktion Europas in eine über die demokratisch-republikanische Konstitution des neuen Leviathan zu verwandeln”, wie es Sonja Puntscher-Riekmann in ihrer glanzvollen Studie Die kommissarische Neuordnung Europas gefordert hat. “Europa als republikanische Ordnung” müsste das Postulat demokratischer Europapolitiker sein. Die “Europäische Verfassung” wird dem nicht gerecht.

Die politische Einigung Europas durch die Schaffung einer Verfassung würde einer Revolution gleichkommen, die den Integrationsprozess seit den Römischen Verträgen gewissermaßen von hinten aufrollen würde. Voraussetzung dafür ist eine Verfassungsbewegung, die rasch formuliert, auf welchen Weg sich die Europäer begeben müssen. Der deutsche Publizist Claus Koch hat 1997 in seinem Pamphlet Das Ende des Selbstbetrugs. Europa braucht eine Verfassung die Wegmarken skizziert: “Das heutige Europa hat sich vor einem halben Jahrhundert als ein Provisorium mit System einrichten lassen, als ein Marktraum ohne politische und soziale Bestimmung. Daß von ihnen nicht mehr verlangt und ihnen nicht mehr angeboten wurde als ein unendlich fortsetzbares Provisorium, kam damals den von Schicksal und Geschichte erschöpften Europäern gelegen […] Die Europäer haben sich ohne Widerstand in die Epoche des Provisorischen und damit der Verantwortungslosigkeit für ihr Schicksal hineingleiten lassen. Doch ist darin ihr Drang zu Aufklärung und Rationalität, der die unstillbare Lust zur Autonomie ausdrückt, heruntergekommen. Und die Zwischenbilanz für Europa, das als Marktsystem und ewiges Provisorium mit dem Epochengeist Schluss machen wollte, sieht schmählich aus. Im Dauerprovisorium ruinieren die Europäer selbst ihre Existenz. Gleich, ob es dafür schon zu spät sein mag, das Provisorium Markteuropa muß beendet werden.”

Man mag über die Segnungen des einheitlichen europäischen Marktes denken wie man will; aber nur das politisch verfasste, demokratisch eingerichtete Europa ist fähig, den politischen, wirtschaftlichen, juristischen, kulturellen und ethnischen Anforderungen die angemessenen Antworten zu geben. Das mag von manchem und mancherorts bestritten werden. Dann sollte aber auch offen gelegt werden, dass die definitive Verabschiedung der europäischen Ideale von Demokratie und Aufklärung herbeigewünscht wird. Will man diese Ideale wach halten, dann besteht keine Alternative zur politischen Verfasstheit Europas. Ansonsten bleibt es bestenfalls beim kritischen Resümee von Tony Judt, wonach das “europäische Bauwerk grundlegend hohl und nur eigensüchtig mit fiskalischer Korrektheit und wirtschaftlichem Vorteil befasst ist”. Und das sollte dann alles gewesen sein?

Fast scheint es so: Die Welt ist alles – Europa ist nichts. Das ist sicher übertrieben. Nicht nur die Welt ist inhaltsvoller als ihre Wirklichkeit, auch “Europa” ist Wirklichkeit und Möglichkeit zusammen. Aber wenn wir das mögliche “Europa” als einen Modus des realen Seins des heutigen Europas auffassen, bleibt uns die Frage, warum ein Mögliches wirklich wird und ein anderes nicht. Warum haben wir dieses “Europa” und kein anderes? Warum geht nichts, wenn doch alles gehen könnte?

Was noch nicht ist, das könnte doch immerhin werden. Wenn wir daran glauben, dann wäre die europäische Wirklichkeit danach zu befragen, ob sich in ihr die Voraussetzungen für die Verwirklichung von Möglichem finden. Oder anders: “Europa” ist nichts – aber es könnte zumindest etwas sein. Leibniz wusste davon: “Alles Mögliche strebt nach Existenz.” Oder anders: “Alles Mögliche ist auf seine zukünftige Wirklichkeit angelegt.” Und noch schärfer: “Alles Mögliche wird in Zukunft existieren” – freilich dann mit dem realitätsnahen Zusatz: “wenn es nicht durch andere gehindert wird.”

Nun mag es ja sein, dass die Welt im Ganzen und in ihrer Materialität der universelle Möglichkeitsgrund für alles Wirkliche ist. Aber gänzlich voraussetzungslos ist das eben nicht. Wo es keine realen Möglichkeiten gibt, da gibt es auch keine Entwicklung. Und wenn die Welt die Gesamtheit alles Wirklichen und Möglichen ist, alles Mögliche aber auch Möglichkeiten umfasst, die, alternativ einander ausschließend, nicht beide wirklich werden können, so bedeutet das, dass die Verwirklichung der einen Möglichkeit die andere unmöglich macht. Die Verwirklichung einer bestimmten Möglichkeit generiert jeweils ein Feld neuer Möglichkeiten, die es zuvor als solche nicht gab, und lässt ein Feld anderer Möglichkeiten zu Unmöglichkeiten werden. Was also ist das mögliche “Europa”?

Die EU ist die Apotheose der marktförmigen Konkurrenz. Sie ist nicht nur dies, sie ist auch anderes. Aber das ist nicht so wichtig. Ganz altmodisch und in groben Strichen gezeichnet: “Weil das Privateigentum jeden auf seine eigne rohe Einzelheit isoliert und weil jeder dennoch dasselbe Interesse hat wie sein Nachbar, so steht ein Grundbesitzer dem anderen, ein Kapitalist dem anderen, ein Arbeiter dem anderen feindselig gegenüber. In dieser Verfeindung der gleichen Interessen eben um ihrer Gleichheit willen ist die Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit vollendet; und diese Vollendung ist die Konkurrenz.” Das schrieb der junge Friedrich Engels in seinen “Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie” von 1844. Bedenkenswert ist es noch heute. Gewiss ist es so: Materielle Verhältnisse sind immer solche, in denen neben dem präsent Wirklichen latente Möglichkeiten des Andersseins, das heißt virulente Tendenzen des Anderswerdens vorhanden sind. Bei Hegel heißt es: “Was wirklich ist, kann wirken; seine Wirklichkeit gibt sich kund durch das, was es hervorbringt.” Könnte es auch ganz anders sein?

Man muss nicht in die “Staatsableiterei” der Siebzigerjahre verfallen, um auch in der EU einen spezifischen Ausdruck kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu erkennen. Das institutionelle und rechtliche Gefüge der EU steht zur marktförmigen und auf Profitmacherei eingeschworenen Wirtschaftsweise in keinem ganz unegalen Verhältnis. Allenfalls kann man sich über die Einzelheiten dieses Verhältnisses streiten; und man kann trefflich darüber streiten, ob nicht dem “Eigeninteresse des Politischen” gerade im Hinblick auf die EU eine überdimensionale Bedeutung zukommt. Der politische Prozess auf europäischer Ebene hat seine Eigenheiten. Er unterscheidet sich von anderen staatlichen Ebenen, er hat eine andere Logik der Instanzen und Verfahren. Er ist mit der herkömmlichen staatlichen Ordnung kaum zu vergleichen.

Liberal-demokratische Verfassungen sind von einer eigentümlichen Ambivalenz gekennzeichnet. Nimmt man das Recht ernst, dann ist es eine Sollens-Ordnung. Die Lektüre einer Verfassung sagt uns, was sein soll. Die Verfassung hat normativen Charakter. Wollte man in sie immer nur einschreiben, was ohnedies schon ist, dann bräuchte man sie nicht – man käme gut ohne sie aus und hielte sich an das, was ohnedies üblich ist (das reaktionäre Schlagwort von der “normativen Kraft des Faktischen” ist hier angelegt). Der Witz derartiger Konstitutionen liegt nun darin, dass sie das wirtschaftliche Gefüge konstant halten wollen (also den Status quo besiegeln) und im politisch-institutionellen und menschenrechtlichen Bereich sich verheißungsvoll geben. Die Fixierung der Eigentumsfreiheit und die normative Verherrlichung diverser Marktfreiheiten sollen das, was ohnedies ist, mit der Aura verfassungsrechtlicher Normativität versehen.

Die Eigendynamik der EU tut das Übrige: Aufgrund der Hegemonie der Marktintegration in der europäischen Politik, aufgrund des Bedarfs der Kommission an externer Information und Expertise (schwache Bürokratien) und aufgrund des “Systems der Kommitologie” kommt es in der EU im Vergleich mit den nationalstaatlichen Ebenen zu einer deutlichen Machtverschiebung zugunsten privater, partikularer Interessen (Lobbies). Die immer weiter zunehmende Verschiebung von Entscheidungen auf die europäische Ebene führt daher zu einem massiven Ungleichgewicht zwischen den Möglichkeiten der verschiedenen sozialen Kategorien, den politischen und administrativen Apparat zur Vertretung ihrer jeweiligen Interessen einzusetzen; das “Soziale” ist bisher deutlich benachteiligt. Es gibt deshalb auch kaum einen Hinweis darauf, dass die demokratisch-repräsentativen Gremien auf europäischer Ebene irgendwann im Verlaufe des politischen Prozesses einen entscheidenden Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen oder nehmen könnten. Daran hätte auch die “Europäische Verfassung” nicht viel geändert. Gut, dass es sie bis auf Weiteres so nicht geben wird. Gefordert ist eine politische Ordnung, die Selbstbestimmung und Souveränität durch demokratisch gewählte Organe garantieren kann. Dazu müssen sich aber die nationalen Staatsbürger auch als Mitglieder einer übernationalen politischen Gesellschaft verstehen. Irgendwie sind wir damit wieder bei der “Identitätsfrage” gelandet. Wenn Europa überhaupt politisch gedacht werden kann, dann nur in einer Verfassung, die alle Elemente der Demokratie enthält.

Das alleine aber heißt schon, dass Europa nicht vom heutigen Institutionenbestand her entworfen werden kann. Die über die Jahre angesammelten und durch eine exekutivistische Entwicklung hervorgerufenen “Notgerüste der Marktgemeinschaft” (Claus Koch) müssen beseitigt werden, wenn wir eine Verfassung für Europa konzipieren wollen. Der Entwurf einer “Europäischen Verfassung” hat das nicht geschafft. Wenn den bisherigen, nach dem administrativ-bürokratischen Modell der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geformten Institutionen nur eine neue politische Ordnungsidee aufgepfropft wird, wird sich wenig ändern. Das heißt dann aber auch, dass Kommission und Ministerrat, Gerichtshof und Europaparlament eine völlig neue politische Grundlage ihres Handelns brauchen, die nur aus einer neuen Gesamtverfassung hergeleitet werden kann. Es ist gewiss richtig: “Eine supranationale Gemeinschaft, in der eine eigenständige Hoheitsgewalt ausgeübt wird, die die Lebensverhältnisse der Bürger und das Recht, das für sie gilt, nachhaltig bestimmt, bedarf im demokratischen Zeitalter ihrerseits einer demokratischen Struktur”, so der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde. Aber es ist zu kurz gedacht. Wie soll die Herstellung einer demokratischen Struktur gelingen, wenn der Ballast von gut einem halben Jahrhundert drückt? Wir brauchen eine “Europäische Verfassung” – aber wie bekommen wir sie?

Published 15 September 2005
Original in German
First published by Wespennest 140 (2005)

Contributed by Wespennest © Alfred J. Noll / Wespennest / Eurozine

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