So etwas wie eine Revolution

Einige Gedanken über Solidarität

Vorweg muss ich etwas erklären. Ich werde nicht das Problem ansprechen, wie man mit Solidarität gegenumgehen soll; stattdessen werde ich mich auf Solidarität fürkonzentrieren. Ich werde auch nicht viel zu Solidarität als Loyalität sagen, auch wenn Loyalität der wichtigste Bestandteil der Solidarität ist. Solidarität/Loyalität lässt sich auch unter Dieben, Kriminellen, religiösen Gruppen und verschiedenen Minderheiten finden, was eine idyllische Ansicht des Phänomens problematisch erscheinen lässt. Und zwei weitere Erläuterungen: Ich werde den Inhalt des Wortes Solidarität analysieren, nicht sprachwissenschaftlich, sondern in der Überzeugung, dass Worte sowohl Erinnerungen als auch viele, oft sich widerstreitende Erfahrungen enthalten.

Ich werde ein wenig über «Solidarität» sprechen, die Gewerkschaft in Polen, die im August 1980 gegründet und im Dezember 1981 zerschlagen wurde. Einfachheitshalber werde ich Anführungszeichen benutzen, wenn ich mich auf die Gewerkschaft beziehe oder sonst ihren offiziellen Namen benutze: die Gewerkschaft Solidarität oder etwas Ähnliches.

30 Jahre des Wandgemäldes Solidarność in Ostrowiec Swietokrzyski (im Vordergrund: Priester Jerzy Popiełuszko), 2010. Quelle: Wikipedia

1.

Das Wort Solidarität ist eine französische Erfindung, genauer gesagt, der Aufklärung. In der Encyclopédie (1765) wurde solidaritéals gegenseitige Verantwortung definiert, aber das Wort wurde auch im Sinne von «unabhängig, vollständig, ganz» (von solidaire) verwendet. In vielen anderen europäischen Ländern gehörte es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum politischen Alltag. Das Wort stammt aus dem Lateinischen, und sein Ursprung bezieht sich auf Geld: solidumbedeutete in Rom die ganze Summe, das Kapital. Wie gesagt, das Wort bahnte sich seinen Weg vom Französischen ins Englische und viele andere Sprachen. Wir haben also zwei fast gegensätzliche Bedeutungen: Die erste basiert auf der Vorstellung eines festen Standpunkts, der Unabhängigkeit schafft und garantiert. Seine Grundlage kann ökonomisch sein, das heißt, man besitzt die ganze Summe, das Kapital, und auf diese Weise wird man unabhängig. Aber das Wort kann auch bedeuten, dass man gemeinsam Verantwortung für jemanden oder etwas übernimmt, dass man eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit schafft, wo man als Mitglied einer Gruppe mit Rücksicht und ohne Selbstinteresse zum Nutzen dieser Gruppe oder ihrer Individuen handelt. Hier überschneiden sich das Persönliche und das Gemeinsame. Ökonomische Unabhängigkeit basiert auf Kapital, das heißt, etwas, über das das Individuum verfügt (und das sich so ausdrücken lässt: «Ich habe die ganze Summe, die mein fester Standpunkt und meine Garantie ist»); aber gleichzeitig bezieht sich das auf eine Garantie, die außerhalb der menschlichen Kontrolle liegt, nämlich die Ökonomie. Alles, was eine derartige Unabhängigkeit ermöglicht, ist Teil des finanziellen Austauschs, repräsentiert durch Geld. Im Gegensatz dazu hängt gegenseitige Verantwortung von Vertrauen ab, das sich auf der inneren Zuverlässigkeit der Gruppe gründet. So argumentierte Józef Tischner hinsichtlich der «Ethik der Solidarität» (der Titel seines Buches), die sich in der Begegnung mit dem «Anderen» zeigt, der in der Tat sehr verschieden sein kann. In einer solchen Argumentation gelten alle Grundlagen nichts mehr. Verantwortung für und Offenheit gegenüber dem, was anders ist, wird ein grundloser Grund, ein Imperativ. Tischner trat in die Fußstapfen von Emmanuel Levinas, versuchte aber, ihn durch das Christentum zu interpretieren.

Jedoch sind die Dinge nicht immer so einfach und idyllisch: Das Wort Solidarität hat ein explosives Potenzial. Sein Inhalt neigt dazu, stabilen, weniger schwankenden Grund zu suchen: Ideologie, Nationalismus, Xenophobie, Misogynie, Homophobie, Politik, Religion et cetera. Hier formt sich, wenn man eine starke Identität benötigt und sie verteidigen muss, die Solidarität gegen.

Ökonomische Unabhängigkeit ist so lange sicher, wie es eine funktionierende Wirtschaft gibt. Aber «die ganze Summe» kann sich, wie wir wissen, während Revolutionen, Katastrophen oder Krisen in nichts auflösen. Ethische Unabhängigkeit kann auch unsicher, flüchtig, ekstatisch und explosiv sein: wie in einer Solidarität, die sich auf Zusammenschluss gegen andere, Ausschließung und Zurückweisung anderer gründet. Diese Bedeutungen in einem einzigen Wort, nämlich Solidarität, zusammenzufassen, scheint eine Unmöglichkeit zu sein – die dennoch möglich wird. Trotz allem ereignet sich eine Art nicht praktizierbarer, unmöglicher Bindung genau hier. Solidarität ist ein Kind des Augenblicks. Als die Gewerkschaft «Solidarität» nach Streiks in ganz Polen im Herbst 1980 gegründet wurde, erwies es sich als schwierig, einen Namen für das Phänomen zu finden.

2.

Das Wichtigste ist rasch erzählt: Im August 1980 brach in der Schiffswerft in Danzig ein Streik aus. Die Arbeiter, die zu den eher besser Verdienenden gehörten, wollten eine Lohnerhöhung. In der Volksrepublik Polen war es relativ einfach, eine solche Sache zu regeln. Entweder man erfüllte die Forderungen der Arbeiter oder man setzte Polizei und Militär ein; dies war zuvor geschehen und hatte Opfer gefordert. Die Arbeiter verlangten ein Treffen mit hochrangigen Funktionären, um den Konflikt zu lösen, und die Politiker erklärten sich dazu bereit. Sie erlebten eine Überraschung. Die Verhandlungen fanden in der Öffentlichkeit statt: Neben dem Streikkomitee nahmen auch die anderen Arbeiter teil (durch die eigene Radiostation in der Werft). Und die Arbeiter bewegten sich zwischen dem Raum, wo die Verhandlungen stattfanden, und anderen Orten auf der Werft. Jede Entscheidung, die das Streikkomitee traf, war eine gemeinsame Entscheidung.

Unter anderem verbreitete sich die Nachricht, dass eine Arbeiterin aus politischen Gründen entlassen worden war. Das Streikkomitee verlangte ihre Wiedereinstellung. Die Politiker stimmten zu. Aber dann stellte sich heraus, dass viele von denen, die mit den Werftarbeitern in Danzig kooperiert hatten, inhaftiert wurden, und das Streikkomitee verlangte von den Politikern, dass diese Leute so wie alle anderen politischen Gefangenen freigelassen werden.

Dazu erklärten sich die Machthaber nicht bereit. Nun ging es nicht mehr um Danzig, die Werft oder Geld. Es war auch nicht mehr ein Streik, sondern so etwas wie eine Revolution: Alle Streikregeln waren gebrochen, es handelte sich nicht mehr um die Durchsetzung von Selbstinteressen, und bevor die Politiker Zeit hatten, eine Lösung zu finden (entweder die Forderungen zu erfüllen oder den Aufstand mit Gewalt zu unterdrücken), waren Streiks im ganzen Land ausgebrochen, vorwiegend in großen Betrieben: Bergwerke, Eisenhütten und andere Unternehmen von großer Bedeutung für die Wirtschaft. Auch dort gehörten die Streikenden zu den besser bezahlten Arbeitern. Geld, ökonomischer Austausch war nicht mehr die Grundlage oder das Modell für Repräsentation. In einigen Streiks wurde nun auch statt einer bloßen Lohnerhöhung Kompensation für Niedriglohngruppen gefordert.

Ich werde nicht die ganze Geschichte der «Solidarität» erzählen. Hier will ich nur darauf hinweisen, wo sich die innere Verbundenheit, die in dem Wort Solidarität enthalten ist, am deutlichsten manifestiert. Man beginnt mit Aktionen aus Eigeninteresse, und plötzlich wird dieser Horizont überschritten.

Wie sollte man dieses neue Phänomen nennen? Es war klar, dass das, was geschaffen worden war, den Namen Gewerkschaft verdiente. Gleichzeitig war es aber auch etwas anderes als eine Gewerkschaft. Die Beteiligten waren sich bewusst, dass die Streiks kraft der Solidarität Erfolg hatten, aber das Wort selbst war ziemlich übernutzt durch Propaganda, wo man seine Solidarität mit allem, worauf die Machthaber hindeuteten, erklären musste. So hatte der Name «Die Gewerkschaft Solidarität» einen etwas verdächtigen Klang. Deshalb wurde «unabhängig» hinzugefügt: «Die unabhängige Gewerkschaft Solidarität». Aber selbst das reichte noch nicht aus. Warum? Ich denke, es kam daher, dass das Wort «unabhängig» auf die Außenwelt oder, einfacher gesagt, auf die Machthaber verwies. Das Wort betonte, dass diejenigen innerhalb der Bewegung unabhängig von «diesen Leuten» waren, die keinen Einfluss mehr auf sie hatten. Aber immer noch fehlte etwas. Intuitiv wollten die Beteiligten einen Namen für Solidarität finden, der die Überschneidung zwischen Selbstlosigkeit und Solidität sowohl bewahrte als auch ausradierte. Und so wurde ein weiteres Wort hinzugefügt: «selbstverwaltet». Schließlich lautete der Name der neuen Bewegung als Ganzes: «Die unabhängige selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität» – eine Art Erläuterung dessen, was ursprünglich in dem einfachen Wort Solidarität enthalten war. Und so verwandelte sich ein relativ kleiner Streik der Arbeiter auf der Werft in Danzig in eine sehr starke Bewegung: Aus der gesamten polnischen Bevölkerung von dreiunddreißig Millionen wurden zehn Millionen Mitglieder.

3.

«Unabhängig, selbstverwaltet»: Kann das erreicht werden? Plötzlich hatte ein neuer Spieler die Bühne betreten – mit gewaltiger Macht. Gleichzeitig drückte er mit explosiver Energie eine Bindung zwischen den Streikenden aus. Auf einmal wurde «Solidarität» ein schwieriger Spieler für die anderen, das heißt für die Kommunisten und die Katholische Kirche. Interessanterweise blieb «Solidarität», als sie sich rasant ausbreitete, eine demokratische Bewegung. Sie war entsprechend den Mustern, die sich während der Streiks gebildet hatten, völlig dezentralisiert. Schwächere Organisationen oder Betriebe konnten sich auf die Unterstützung der stärkeren verlassen. Fast unaufhörlich brachen neue Streiks aus. Man beachte, dass die anderen Spieler, die Partei und die Kirche, hierarchisch oder feudal waren. In solchen Strukturen können Entscheidungen nur von Einzelnen oder wenigen Personen getroffen werden. Bei «Solidarität» war dies paradoxerweise sowohl unmöglich als auch notwendig: Man musste sich den anderen Mitstreitern anpassen. Nach kurzer Zeit befand sich das Land am Rande einer ökonomischen und sozialen Katastrophe.

Ein Paradox: Als die Bewegung entstand, bildete sie eine Form der Solidarität mit gefährdeten Gruppen – Arbeitern, Bauern, politischen Gefangenen und den Intellektuellen. Wie passt das zusammen mit ihrer enormen Kraft, die dazu führte, dass die Bewegung eine massive Mehrheit im Lande wurde? Die Beteiligten waren sehr stolz auf diesen Erfolg, so stolz, dass es Außenstehenden selbstgefällig erscheinen mochte.

4.

Unter den vielen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) gibt es eine mit dem Titel Gegenseitige Hilfe(von 1902), in der er den «Kampf ums Dasein» des Darwinismus zurückweist und feststellt, dass nicht Konkurrenzkampf, sondern Solidarität die Haupttriebkraft der Evolution ist. Kropotkin war ein russischer Aristokrat. In der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre verbrachte er einige Jahre in Sibirien, wo er als Staatsbeamter und Geograf arbeitete und Aufstände exilierter Sozialisten und verbannter Polen erlebte, Aufstände, die brutal unterdrückt wurden. Geografisch hatten seine Schriften ihren Ursprung in den wohl unwirtlichsten Gegenden der Welt, wo die Lebensbedingungen für Menschen und Tiere extrem schwierig sind. Politisch beschäftigten sie sich mit Russland, einem Land mit einer äußerst autokratischen Regierung. Sozial formten den Hintergrund seines Werks die Theorien von Darwin und seinen Anhängern, insbesondere der «Sozialdarwinismus», der behauptete, dass der Kampf ums Dasein sowohl bei Tieren (Darwin) als auch bei den Menschen (Darwinisten) der Kern der Evolution sei und dass die Stärkeren, die besser Angepassten siegreich sein werden. Alles dreht sich darum, gegen Konkurrenten zu kämpfen und sie zu verdrängen (das Rattenrennen). Das deckte sich nicht mit Kropotkins Erfahrungen in Sibirien. Er zeigte auf, dass sogar die Tiere in diesen harschen Bedingungen Darwins Prinzip überschreiten und dass die Menschen dort sich beistehen und einander unterstützen. Dies wurde der Kern des Anarchismus. «Gegenseitige Hilfe», ungeachtet politischer Einstellungen, sagt viel über unsere paradoxe politische Situation: Selbst unter schwierigen Bedingungen können wir Solidarität zeigen, und dies könnte das Prinzip der Evolution sein. Vielleicht aber ereignet sich das nur im Ausnahmezustand, und dieser außergewöhnliche Zustand findet sich nicht außerhalb von uns, sondern in uns? In diesem Fall geschieht er im Nu, in einem jähen Bruch oder einer unverhofften Bindung. Hierin würde Kropotkin sicherlich nicht mit mir übereinstimmen, aber ich bin davon überzeugt, dass der Bruch oder die Bindung etwas ist, das nur in der Kunst ausgedrückt werden kann. Das heißt – und hier bin ich wieder nahe bei Kropotkin – in einer extremen Dezentralisierung und Individualisierung des Lebens.

5.

Prinz Pjotr Kropotkin starb 1921 in Dmitrow. Er erhielt ein Staatsbegräbnis, obwohl er in heftiger Opposition zu den Bolschewiken und den Kommunisten stand. «Wo Macht ist, da gibt es keine Freiheit», konstatierte er. Massen folgten dem Leichnam auf seiner letzten Reise, sowohl in Dmitrow als auch in Moskau, wo er beerdigt wurde. Hunderttausend Menschen versammelten sich trotz des Terrors, der damals in Russland herrschte. Sie trugen Fahnen des Anarchismus und Plakate, die die Freilassung von Anarchisten aus dem Gefängnis forderten. Dies soll die größte freiwillige Kundgebung in der Geschichte der Sowjetunion gewesen sein und die letzte von solchem Ausmaß. Abgesehen von der Politik war sie eine beeindruckende Bestätigung der Theorie Kropotkins. Die Menschen überwanden ihre Angst – spontan. So geschah es 1884 in Sibirien, 1921 in Moskau, 1980 in Polen und 1968 in Schweden und in der Tschechoslowakei. Das Gleiche trifft zu auf die Revolutionen in Iran, Tunesien, Ägypten et cetera, deren Zeugen wir in den letzten Jahren wurden: Explosionen der Solidarität.

6.

2001 erschien auf Deutsch ein schmaler Band von Jacques Derrida mit dem Titel «Von der Gastfreundschaft». Unter anderem führt er darin aus, wie stark Gastfreundschaft mit den regulierenden Normen des Gesetzes verbunden ist und wie sehr sie von der Selbstlosigkeit abhängt, die vor dem Hintergrund von Machtbeziehungen der Gastfreundschaft zugrunde liegt. Wir werden von jemandem besucht, der völlig anders ist. In der Tat, wir wissen in dem Moment nicht sicher, ob der andere gekommen ist, um uns zu besuchen oder uns heimzusuchen. Derrida stellt dieses Ereignis in die messianische Tradition und ihre Denkweise. Er schreibt über die Risiken, die der Gastgeber eingeht, wenn er oder sie die Tür einem Fremden öffnet: ein Fremder, der Jesus, der Messias, sein mag oder ein Mörder. In diesem kritischen Augenblick öffnet die Solidarität eine Tür, geht das Risiko ein. Aber wie gesagt, Solidarität stützt sich auch auf andere Grundlagen, die dazu führen, dass die Tür geschlossen bleibt.

Published 15 January 2019
Original in English
Translated by Norbert Hofmann
First published by Baltic Worlds Vol. VIII: 1–2, 91–93 (English version) / Wespennest 175 (2018) (German version)

Contributed by Wespennest © Leonard Neuger / Norbert Hofmann / Wespennest / Eurozine

PDF/PRINT

Read in: EN / DE

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion