Erinnere dich!

Geschichte und kollektives Gedächtnis

Nach Gamal Abdel-Nasser und Saddam Hussein wurde uns auch Slobodan
Milosevic als “neuer Hitler” präsentiert. Derart wird die allseits
beschworene “Pflicht zum Gedenken” zum Ansatzpunkt für einen
moralischen Imperativ, der sich um historische Wahrheit wenig
kümmert. Geschichtskenntnis kann durchaus nützlich sein, die
Gegenwart zu verstehen. Doch immer wieder verbergen sich hinter einem
pauschalen Hinweis auf tragische Ereignisse in der Vergangenheit
spezifische politische oder ideologische Kalküle – wie etwa die
Infragestellung republikanischer Werte. Was die Geschichte bietet,
ist ein Instrumentarium zur Analyse der komplexen Welt.

Gleich den für die Rache der Götter zuständigen Erynnien
bemühen Leitartikler, Experten und Politiker unermüdlich die
Geschichte im Dienste einer Zeigefingermoral. So warnt man uns
regelmäßig vor allerlei Reinkarnationen Hitlers: 1956 war es
Gamal Abdel-Nasser, 1991 Saddam Hussein, erst kürzlich noch
Slobodan Milosevic. In der Geschichte jedoch reimt sich comparatio
selten auf ratio, sind Vergleiche nicht unbedingt der Weisheit
letzter Schluss. Im Übrigen verfielen unsere Kanzelredner
anlässlich der Intervention im Kosovo in eine propagandistische
Echolalie, die zeigt, wie wenig sie selbst offenbar von den
vermeintlichen Lehren der Vergangenheit beherzigt haben.

Die Vergangenheit als Leitfaden für richtiges Verhalten in der
Gegenwart verankern zu wollen entspringt einer lobenswerten Absicht;
doch immer wieder auf die Pflicht zur Erinnerung hinzuweisen, die
unser Verantwortungsgefühl schärfen und uns in die Lage versetzen
soll, unsere aktuelle Wirklichkeit zu meistern, führt auf Abwege.

Die Erinnerung wach zu halten ist unerlässlich, will man die
Einheit einer Gruppe gewährleisten; die Erinnerung verleiht ihr
Zusammenhalt, gemeinsame Werte und Normvorstellungen. Die gemeinsame
Erinnerung ist sozusagen unser Code. Die Verpflichtung zur Erinnerung
entstammt der Religion. Oder, wie Serge Bernstein bemerkt: “Alle
Systeme, die eine gewisse Stabilität anstreben, bedürfen der
Anleihen beim Religiösen.”1 Das Religiöse lässt sich hier
gemäß den beiden Bedeutungen seiner ambivalenten Etymologie
verstehen. Einmal im Sinne von relegere (Cicero), “die Vergangenheit
noch einmal lesen”, und dies auch im Sinne von “neu interpretieren”.
Ferner im Sinne von religare, “ein- und verbinden” (Lukrez). Grund
hierfür ist die Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts durch
die Definition einer gemeinsamen Identität. Eine allen gemeinsame
Pflicht zum Erinnern oder zur Pflege einer Erinnerung ist aus Sicht
jeder Machtinstitution das denkbar stärkste soziale Bindemittel.
Damit es wirkt, muss das kollektive Gedächtnis gleichsam
unantastbar sein und sich, soll es seinen funktionalen Charakter
nicht einbüßen, aller kritischen Anstrengung enthalten: “Es sucht
sich aus dem historischen Material zusammen, was es braucht”,
schreibt Mona Ozouf2, “maßt sich an, aufschlussreiche Episoden herauszugreifen, auf Zeitenwenden größeres Gewicht zu legen und
im Gegenzug längere Abschnitte ganz außer Acht zu lassen.” Es
beruht also auch auf der Verpflichtung, etwas zu verschweigen.3 Es
nivelliert und sucht den Einzelnen dem Kollektiv einzuverleiben.

Laut Paul Ricoeur nimmt die aus der Vergangenheit erwachsene Schuld
uns in die Pflicht; er betont, dass Gottes Ruf an das Volk Israel:
“Izkor!” (Erinnere dich!), eine Aufforderung ist, kein Gebot. Doch
aus der Aufforderung, so Ricoeur, ist längst eine auferlegte
Pflicht geworden.4 Man hatte uns eingeladen, ein bestimmtes Andenken
zu ehren, um Verantwortung zu übernehmen, doch diese Einladung
verwandelt sich wie von selbst in ein Gebot, und die Verantwortung in
eine Schuld. Sowohl Pierre Nora als auch Henry Rousso haben die
jüngsten Verirrungen der Pflicht, zu gedenken, eindringlich und
subtil analysiert:

Wenn sich das Gedenken zu einer Ersatzreligion
wandelt und beansprucht, das permanente, unbefristete und
allumfassende Bewusstsein des begangenen Verbrechens zum Dogma zu
erheben, gerät es in eine Sackgasse. [. . .] Die Moral oder besser
gesagt der Moralismus verträgt sich nicht besonders gut mit der
historischen Wahrheit. Um sich ihre konstituierende Kraft zu
bewahren, wird sie letzten Endes die Fakten manipulieren [. . .].5

Auch wenn einige Intellektuelle die Verdrehung der historischen
“Wirklichkeit” durch das ritualisierte Gedenken anprangern, so
verteidigen sie damit im Grunde nur ein nicht minder selektives und
ebenso moralisierendes Erinnern. So wird die Verklärung des
republikanischen Erbes – die niemand in Abrede stellen will –
verurteilt, doch weniger, um sich der Wahrheit anzunähern, als um
die Republik prinzipiell in Frage zu stellen. Zwei Beispiele seien
genannt: die Pflicht, jener Völker zu gedenken, die durch den
Kolonialismus der von Amnesie befallenen französischen Republik
unterdrückt wurden; und die Pflicht, jener Volksgruppen zu
gedenken, die von der jakobinischen Republik geknebelt wurden.

Das späte Eingeständnis von General Aussaresse, in Algerien
gefoltert zu haben, hat zu Recht Empörung ausgelöst. Man kann
sein Bekenntnis nicht anders als mit Abscheu aufnehmen, auch wenn es
nur bestätigt, was seit langem bekannt und schon damals heftig
kritisiert worden war.6 Einige Kommentatoren haben sich dadurch
veranlasst gefühlt, eine eingehendere Diskussion über den als das
“Ungedachte der französischen Geschichte” apostrophierten
französischen Kolonialismus anzufachen – obwohl es längst eine
Flut von Literatur zu dem Thema gibt. Ihre Logik ist schlicht
gestrickt: Die Republik hat mit Feuer und Schwert kolonisiert, hat
die eigenen Prinzipien mit Füßen getreten, sie muss Buße tun,
sie hat sich disqualifiziert. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Der
Kolonialismus ist kein originäres Kind der Republik. Und auch wenn
Jules Ferry – dessen Regierung über die Kolonialfrage stürzte –
ein glühender Verfechter der These war, wonach die vermeintlich
“überlegenen” Rassen das Recht und die Pflicht haben, die
vermeintlich “minderwertigen” Rassen zu zivilisieren – darf man
deswegen die gewiss minoritäre, aber durchaus streitlustige
Tradition eines durch und durch republikanischen Antikolonialismus
aus dem Gedächtnis streichen? Es genügt, an die lange Rede von
George Clemenceau vom 30. Juli 1885 zu erinnern: “Nein, es gibt kein
Recht der vermeintlich überlegenen gegenüber den vermeintlich
minderwertigen Nationen.” Damit steht der Führer der radikalen
Linken in der Tradition der Revolutionäre von 1789: Vom 7. bis 15.
Mai 1791 debattierte die Constituante (die verfassunggebende
Nationalversammlung) über die Kolonialfrage und gestand allen
farbigen, von freien Eltern geborenen Menschen die Bürgerrechte zu.
Am 16. Pluviose des Jahres zwei (4. Februar 1794) schaffte der
Konvent die Sklaverei ab. Es war Bonaparte, der sie 1802 wieder
einführte. Und die republikanische Verfassung von 1848
verkündete: “Die Republik gedenkt, innerhalb der Familie der
Menschheit keinerlei Unterschiede mehr zu machen.”

Marc Ferro etwa spricht von einem “Skandal der Kolonisation”. In
Indochina wie in Afrika habe die Republik ihre eigenen Werte
verraten. “Aber”, fügt er hinzu, “es herrscht heute eine Art
Schuldhysterie, die mich deswegen erstaunt, weil ein Teil der
Öffentlichkeit so tut, als habe man ihr alles verheimlicht. Das
stimmt nicht. In den Schulbüchern meiner Zwischenkriegsgeneration
stand schwarz auf weiß, dass Bugeaud in Algerien die Zeltdörfer
der Nomaden niederbrannte und Gallieni in Madagaskar ganze Siedlungen
über die Klinge springen ließ.”

Wenn auch von einer sozialen Integration nicht die Rede sein kann –
so einer der Direktoren von Annales -, haben doch Lehrer, Professoren
und Ärzte “eine Arbeit geleistet, für die sie sich nicht zu
schämen brauchen”7. Auch Charles-Robert Ageron bemüht sich um
eine Dekonstruktion des “irrigen Mythos der Kolonialausstellung von
1931, Erinnerungsort der Republik und Höhepunkt der
republikanischen Kolonialideologie. Vergesslichkeit, Ignoranz,
Nostalgie, in einigen Fällen sogar politisches Kalkül haben
dieser Fabel nach und nach Glaubwürdigkeit verliehen.”8 Demnach
wäre die Pflicht zur Erinnerung, die man uns auferlegt, lediglich
die Kehrseite der Zelebrierung jenes kolonialen Gedenkens, das
ausschließlich die angeblichen Wohltaten der französischen
Expansion herausstreicht. Die daraus abgeleitete Moral ist keinen
Deut besser.

Nach der außenpolitischen Expansion wird der innere Kolonialismus
aufs Korn genommen. Vor allem seit der Zweihundertjahrfeier der
Französischen Revolution gibt es eine Tendenz, im Namen der
Erinnerung an unterdrückte regionale Minderheiten einen bestimmten
republikanischen Jakobinismus zu geißeln; einige Historiker wie
Pierre Chaunu sprechen sogar, wenn auch gewollt provokativ, vom
“Genozid” an der Bevölkerung der Vendée durch die Republik: “Ein
schriftlicher von Hitler unterzeichneter Befehl zur Judenvernichtung
ist nie aufgetaucht, im Falle der Vendée besitzen wir aber die
Anordnungen von Barère und Carnot”.9

Manche bemühen sich auch, die Erinnerung an die Republik zu
diskreditieren, indem sie das republikanische Erbe auf einen
militanten Jakobinismus verkürzen, wie er von einigen
unverbesserlichen Nostalgikern verteidigt wird – Überlebenden eines
ranzig gewordenen Frankreich oder, wie Philippe Sollers es
ausdrückt, einer France moisie (eines schimmeligen Frankreich).
Dieses alte Frankreich klammere sich an eine verwerfliche Erinnerung.
Wie kann man es “im Zeitalter des Internets” (ein unschlagbares
Argument) noch wagen, sich mit der Verteidigung von Begriffen wie
“Nation”, “Republik”, “öffentliche Schule” lächerlich zu machen?
Wie es wagen, Körperschaften grosso modo als potenzielle, dem
Gleichheitsprinzip zuwiderlaufende Pfründen zu verdächtigen?

Moral lässt sich nicht auf eine eindeutige Erinnerung gründen.
Die historische Aufarbeitung zerstört nämlich die Idee von der
Eindeutigkeit der Fakten; wenn sich die Erinnerung nicht mit Nuancen
belasten will, leidet die Geschichte. Dass das ritualisierte Gedenken
zur Vereinfachung neigt, ist ein Plädoyer für die historische
Arbeit. Bereits 1865 nahm Edgar Quinet sich vor, “den Geist
kritischer Überprüfung an die Geschichte der Revolution
heranzutragen, denn viele wollen aus ihr ein Buch mit sieben Siegeln
machen, an das man nicht rühren darf”10. Heute mag man zwar
versucht sein, die Geschichte in den Dienst der Erinnerungskultur zu
stellen, aber bereits dem Autor von “La Révolution” (Quinet) war
daran gelegen, die Geschichte etwas weniger im Stile einer
Gedenkfeier zu präsentieren und die historische Arbeit kritisch zu
fundieren. Historische Forschung muss entmythifizieren,
entmystifizieren. Im Vergleich zum “religiösen” Charakter der
Erinnerungspflicht muss ihre Aufgabe in der “Verweltlichung” der
Erinnerung liegen, darin, der gemeinsamen Vergangenheit all ihre
Relativität zurückzuerstatten.

Solange nicht verstanden wird, dass die kontextuelle Einbettung und
kritische Hinterfragung historischer Ereignisse nicht bedeutet, ihre
womöglich tragische Dimension zu schmälern, wird man die Pflicht
zur Erinnerung unbeirrbar einklagen – auf Kosten einer schwierigen,
unermüdlichen und schrittweisen Suche nach Wahrheit. Verstehen
bedeutet nicht Rechtfertigen. Jean-Noël Jeanneney meint, es sei
“Sache der Historiker, die [politisch] Handelnden gegen die
Faszination von Wiederholungen zu feien, indem man sie daran
erinnert, dass nichts auf gleiche Weise zweimal beginnt und alles
immer einen neuen Verlauf nimmt.”11 Das heißt freilich nicht, dass
man aus dem Studium der Geschichte nichts lernen könnte, und sei es
ein Instrumentarium gewinnen zur annäherungsweisen Entzifferung der
Komplexität der Welt.

Serge Bernstein, La Republique sur le fil, Paris (Textuel) 1998

Mona Ozouf, "Le passé recomposé", entretien avec Jean-François Chanet, in: Magazine littéraire, Nr. 307, Februar 1993

Jean-Noël Jeanneney, La République a besoin d'Histoire, Paris (Seuil) 2000

Paul Ricoeur, "La mémoire heureuse", in: Notre Histoire, September 2000

Henry Rousso, La hantise du passé, Paris (Textuel) 1998. Vgl. auch Eric Conan und Henry Rousso, Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris (Gallimard) 1996

Neben der Wiederveröffentlichung der Artikel von Pierre Vidal-Naquet vgl. auch die Veröffentlichung einiger Briefe von Hubert Beuve-Méry an Robert Lacoste, Ministerpräsident in Algerien, Le Monde, 21. Mai 2001.

Marc Ferro, "La République a trahi ses valeurs", in: Les Collections de lHistoire, Nr. 11, April 2000

Charles-Robert Ageron, "LExposition coloniale de 1931, mythe républicain ou mythe impériale?", in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Paris (Gallimard) 1997

La Croix, 29. Juni 1986

Brief an Edmond de Pressensé vom 23. November 1865, zitiert nach Henri Cordey, Edmond de Pressensé et son temps (1824-1891), Paris (Georges Bridel & Cie éd.) o. J.

Jean-Noël Jeanneney, a. a. O., S. 235 f.

Published 7 December 2001
Original in French
Translated by Christian Hansen

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Contrapress Media GmbH / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine

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