Ein schwacher Trost

Geschichtsphilosophie für Fortgeschrittene

Mit Blick auf Karl Marx’ legendäre 11. Feuerbachthese hat Odo Marquard einst der Geschichtsphilosophie das Folgende ins Poesie-Album geschrieben: “Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen.” Der Versuch einer philosophischen Geschichtsbetrachtung, die in Praxis münden soll, sei ein durch und durch fehlgeleitetes Unternehmen, das sich in der Vergangenheit eher schädlich als ertragreich ausgewirkt habe. Die Philosophie der Geschichte verschwand fast vollständig in der Versenkung. Die Geschichte selbst ging munter weiter. Nur steht den Betrachtern nicht länger ein Geschichtsbild zur Verfügung, das es ihnen ermöglichen würde, die Gegenwart zu datieren. Es ist, als habe die Historie keinen Fahrplan mehr: “Es geht zwar weiter voran, aber nicht hinauf”, so Peter Sloterdijk. Angesichts dieser Planlosigkeit soll an drei markante Grabsteine auf dem Friedhof der klassischen Geschichtsphilosophie erinnert werden.

Was überhaupt ist Geschichtsphilosophie? Nach einem Vorschlag von Karl Löwith zielen philosophische Weltgeschichten auf “die Erfahrung von Übel und Leid, das durch geschichtliches Handeln hervorgebracht wird. Die Auslegung der Geschichte ist zuerst und zuletzt ein Versuch, den Sinn geschichtlichen Handelns und Erleidens zu begreifen”. Demnach entspringt das Verlangen nach Geschichtsphilosophie unguten Erfahrungen, die der Mensch mit sich selbst macht. Der Mensch fragt hier nicht etwa nach irgendeinem metaphysischen Heilsplan, sondern nach dem “Sinn” jener historischen Untaten, die er selbst begangen hat.

Warum sollte dies nicht länger zeitgemäß sein? Auch wenn heute niemand mehr ernsthaft an der Aussicht auf den sogenannten Wärmetod zweifelt, das heißt daran, dass die Menschheit – langfristig – untergehen wird: Wer mittelfristig denkt, muss überlegen, wo es in der Zwischenzeit hingehen soll. Wohin aber genau schreitet man fort, wenn sich Fortschritt ereignet? Notwendig nach vorn? Gibt es nicht auch solche Fortschritte, zum Beispiel in der strategischen Kriegsführung, beim Strafvollzug oder der Entwicklung von Folterpraktiken, bei denen man zögern mag, ob es sich um “echte” Fortschritte handelt? Nun, kaum jemand dürfte ernsthaft bestreiten, dass es in der Menschheitsgeschichte sehr wohl einige Fortschritte, aber eben auch Rückschritte gegeben hat. Daher gibt es nur drei Möglichkeiten.

Erstens: In der Geschichte der Menschheit gibt es Fortschritte zum Besseren, aber auch Rückschritte zum Schlechteren, insgesamt aber schreitet die Menschheit voran. Zweitens: Es gibt Fortschritte, aber auch Rückschritte, insgesamt aber geht es bergab. Oder drittens: Es gibt sowohl Fortschritte als auch Rückschritte, langfristig aber neutralisieren sich diese, und wir treten auf der Stelle. Was stimmt?

Totalität zwischen Weltgeist und Barbarei

In der Geschichte der Philosophie der Geschichte lassen sich wohl nur wenige Großentwürfe ausfindig machen, die sich derart fundamental widersprechen würden wie der als heillos optimistisch gescholtene Fortschrittsglaube Georg Wilhelm Friedrich Hegels und die als durchweg pessimistisch verschmähte Verfallsgeschichte der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Doch so unterschiedlich beide auch sind, sie eint der Versuch, noch einmal die “Totalität” des Weltverlaufs begreifen zu wollen, statt sich in kleinteiligen Episoden zu verlieren. Auch sind sich deren Kritiker in zumindest einer Hinsicht einig: Sowohl mit Hegels Glaube an einen unaufhaltsamen “Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit” als auch mit Horkheimers und Adornos Diagnose eines “gattungsgeschichtlichen Verhängniszusammenhangs” seien derart totale Erklärungsansprüche angemeldet, dass in beiden Fällen diagnostiziert werde, “die” Geschichte sei bereits gelaufen. Während Hegel das Ende einer Erfolgsgeschichte gekommen sah, in deren Verlauf die höchste Stufe menschlicher Freiheit erklommen worden sei, stellten Horkheimer und Adorno, ganz in apokalyptischer Tradition stehend, fest, dass endgültig der Abgrund totalitärer Barbarei erreicht sei.

Doch es lohnt sich, die beiden scheinbar anachronistischen Großentwürfe von vornherein zusammen zu lesen. Nach Hegel kommt einer dezidiert philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte eine besondere Aufgabe zu, durch die sie sich von jeder herkömmlichen Historiographie unterscheidet. Die Philosophie – ganz generell – ist laut Hegel das Geschäft der Vernunft und das Wissen um ihr Tätig-Sein. Im Rahmen dieser Praxis verschafft Vernunft sich Klarheit nicht nur über die Beschaffenheit der Welt, sondern stets auch über sich selbst. Wenn aber die Philosophie den menschlichen Geist als vernünftig soll erkennen können, dann muss sie zugleich davon ausgehen, dass es auch in der Welt vernünftig zugeht. Denn wozu bräuchten wir sonst eine Vernunft, wenn es nichts um uns herum als vernünftig zu erkennen gäbe? Damit reiht sich das vernünftige Einzelbewusstsein in ein großes Ganzes, den “Weltgeist” ein, der laut Hegel erst im historischen Prozess, und zwar durch menschliche Praxis, “zu sich” kommt. Ja, aus Sicht der Philosophie muss die gesamte Menschheitsentwicklung so verstanden werden, als sei diese dazu bestimmt, den “entzweiten” Weltgeist mit sich selbst zu versöhnen und den Menschen eben dadurch in die Freiheit zu führen. Genau das ist der “Leitfaden”, dem die Geschichtsphilosophie zu folgen hat: Sie soll aufdecken, wo es in der Menschheitsgeschichte vernünftig zugeht.

Katastrophe als Fortschritt

Spätestens die totalitären Barbareien des 20. Jahrhunderts jedoch haben deutlich gemacht, dass mit dem Weltgeist und der Vernunft irgendetwas nicht stimmen kann. Genau deshalb wird Hegel von Horkheimer und Adorno geradezu ins Gegenteil verkehrt: “Zu definieren wäre der Weltgeist als permanente Katastrophe.” Die von den beiden in der Dialektik der Aufklärung präsentierte Zeitdiagnose – eine Art kulturhermeneutischer Gewaltstreich – konstatiert der Aufklärung einen Prozess der rastlosen Selbstzerstörung. Statt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, sei die Zivilisation längst in einen dunklen Verhängniszusammenhang verstrickt. Und der vermeintliche Fortschritt habe sich als Prozess der gattungsgeschichtlichen Regression erwiesen. Aber so schwarz die Autoren auch malen, sie lassen keinen Zweifel daran, dass die Idee der “Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist”. Viele ihrer Leserinnen und Leser, die sich in jugendlichem Überschwang dem Fatalismus hingeben wollten, haben dies schlichtweg überlesen: Die Autoren der Dialektik der Aufklärung sind der Aufklärung keineswegs müde. Sie beklagen bloß die Tatsache, dass aufgeklärtes Denken es bisher versäumt hat, sich kritisch über sich selbst aufzuklären. Die Welt muss sich ihres blauäugigen Fortschrittsglaubens entledigen und sich das katastrophische Potenzial rein “instrumenteller Rationalität” vergegenwärtigen. Allein dann mag es ihr gelingen, dem blind fortschreitenden Selbstzerstörungsprozess eines Tages Einhalt zu gebieten.

Damit wird das Projekt der Aufklärung nicht etwa ad acta gelegt, sondern als “unvollendet” ausgewiesen. Und zunächst musste es den seinerzeit amtierenden Projektleitern in den nationalsozialistischen Todeslagern und im sowjetischen Gulag entrissen werden. Damit ist die Dialektik der Aufklärung nicht etwa als Absage an Hegels “Vernunft in der Geschichte” zu verstehen, sondern sie muss als eine gezielt tendenziöse Gegengeschichte gelesen werden, damit die Vernunft endlich Vernunft annimmt und daraus Neues, vielleicht sogar Rettendes erwachsen kann.

Die unvollendete Aufklärung

Wenn man nun aber diese beiden, auf den ersten Blick ungeheuer disparat wirkenden Geschichtsphilosophien ineinander blendet, so wird deutlich: Geschichtsphilosophie darf weder allein als eine Geschichte über vernünftige Freiheit noch allein als eine Erzählung über unvernünftige Unfreiheit konzipiert sein, sondern sie sollte als ein Bericht zur Lage der Menschheit verstanden werden, von der wir nunmehr wissen, dass sie zu allem fähig ist. Genau dies war bereits die zentrale Einsicht von Immanuel Kants Geschichtsphilosophie, die im Streit, ob es mit der Menschheit stetig bergauf oder aber rastlos bergab geht, zu vermitteln weiß. Kant hat sehr wohl gesehen, dass die Menschheit bisweilen einen geradezu niederschmetternden Anblick bietet, denn der Mensch sei schließlich aus “krummem Holze” geschnitzt. Aber es gebe auch Anlass zur Hoffnung. Zwar verspüre jeder Vernunftmensch einen tiefen Kummer über den Gang der Geschichte, doch eben dieser Kummer nötige die Vernunft dazu, den historischen Ereignissen am Ende einen produktiven Sinn zu geben: Allen Menschen sei daran gelegen, so Kant, auf ihr Zusammenleben nach jeweils ihren egoistischen Vorlieben einzuwirken. Zwar führe dies bisweilen zu enormen Konflikten, ja, Katastrophen, doch diese hätten zugleich auch das Potenzial, rechtliche Regeln und Institutionen eines demgegenüber friedfertigen Miteinanders notwendig werden zu lassen.

Demnach ist Kant durchaus nicht der naive Aufklärer, für den man ihn oft gehalten hat. Schon Kant will entgegen aller Vernunft an der Vernunft festhalten. Der “ewige Frieden” wird von Kant zwar als Möglichkeit, aber nicht schon als Versprechen in Aussicht stellt. Und es wird allein von uns Menschen abhängen und nicht von irgendeinem bereits festgeschriebenen Heils- oder Unheilsplan, ob sich entsprechende Rechtsfortschritte ergeben werden oder nicht. Und damit sind wir beim Clou der Geschichtsphilosophie nach Kant angelangt: Sie selbst verhält sich zum historischen Prozess keineswegs äußerlich, indem sie diesen bloß erklärt. Als Partner der Aufklärung soll sie vielmehr ihren Teil zur Verwirklichung sittlicher Rechtsverhältnisse beitragen, indem sie dem Leser die “vernünftige ” Hoffnung vermittelt, dass freiheitsverbürgende Rechtsfortschritte tatsächlich möglich sind. Der von ihr gesuchte “Leitfaden” der Vernunft ist somit regulative Idee und self fullfilling prophecy in einem: Als ein Leitfaden, der rechtlich handlungsleitend werden soll, ist er zugleich eine in Realisierung begriffene Voraussage, die sich selbst erfüllt.

Zugegeben: Die Geschichtsphilosophie vermag das Faktum historischer Katastrophen ebenso wenig zu revidieren, wie etwa der psychotherapeutische Prozess die in ihm bewältigten lebensgeschichtlichen Katastrophen ungeschehen machen kann. In beiden Fällen verfolgt das therapeutische Anliegen das vergleichsweise bescheidene Ziel, einen vernünftigen Umgang mit den eigenen Trauerspielen zu erlernen. Hoffnung auf “Erlösung” besteht nicht. Und doch mag daraus ein “schwacher” Trost resultieren. Denn es geht dabei nicht nur um Einsichten in die “Sinnhaftigkeit” des Gewesenen, sondern stets auch um die Wiedergewinnung von Entscheidungskraft. Der Austritt aus den Sackgassen einer “bleiernen ” Vergangenheit basiert nicht zuletzt auf einem existenziellen Entschluss, zu dem man erst einmal die Kraft aufbringen muss. Damit sind wir am Ende bei den Chancen und Risiken einer revitalisierten Geschichtsphilosophie angelangt: Diese darf augenscheinlich nicht schon historisch notwendige Endzwecke versprechen. Gleichwohl kann sie Orientierung stiften. Und mit diesem geradezu pathetischen Ziel referiert sie den bisherigen Stand der Dinge, und zwar selbst dann noch, wenn sich ihr Leitfaden in der historischen Nacht der Katastrophe zu verlieren droht. Damit aber wird sie selbst am Ende zu einem Element der historischen Praxis. Und Marx behält dann doch mit seiner 11. Feuerbachthese Recht: Es gibt viel zu tun, packen wir es an!

Published 30 November 2010
Original in German
First published by Polar 9 (2010)

Contributed by Polar © Arnd Pollmann / Polar / Eurozine

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