Ein Rückblick auf die Geschichte Isreals

Was ist falsch gelaufen?

Zu welchem Zeitpunkt wurde die Besetzung der palästinensischen Gebiete ein fester Bestandteil von Israels Politik? Und warum ergibt es sich, dass die besetzten Gebiete zu einem überproportionalen Teil Israels Sicherheitspolitik bestimmen, obwohl sie hauptsächlich von religiösen und nationalistischen Fanatikern und Randgruppen besiedelt werden?

Macht keine Dummheiten, während ich tot bin”, schrieb der
Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, 1904, kurz vor
seinem Tod, in einem Brief an seinen Nachfolger. Die Mahnung des erst
44-jährigen Herzl war nicht ganz ernst gemeint, aber das Zitat
scheint mir dennoch aufschlussreich. Denn von all den im 19.
Jahrhundert begonnenen Versuchen, einen Nationalstaat zu gründen,
war Herzls Unternehmen zweifellos das ungewöhnlichste und sicher
auch eines der schwierigsten. In jedem Fall war es dasjenige, das
sich aufgrund seiner Komplexitiät und seiner ungewissen
Erfolgsaussichten am wenigsten irgendwelche “Dummheiten” leisten
konnte.

Das nationale Projekt der Zionisten unterschied sich grundsätzlich
von allen anderen. Es handelte sich um eine Kolonisierung ohne
Mutterland und ohne die Unterstützung einer existierenden
Staatsmacht. Das war – gelinde gesagt – eine schwierige Aufgabe
angesichts eines Landes, das weder über Wasser noch über
natürliche Ressourcen verfügte und keine erkennbaren finanziellen
Anreize bot. Cecil Rhodes, die herausragende Figur des britischen
Imperialismus, wurde einmal von einem Freund Herzls um Rat gefragt,
wie man das zionistische Projekt anpacken könne. Die Antwort
lautete: “Sagen Sie Dr. Herzl, er soll sich Geld einstecken.” Geld
war freilich etwas, was Herzl fast nie hatte. “Das Geheimnis, das ich
vor allen hüte, ist die Tatsache, dass ich einer Bewegung von
Schnorrern und Narren vorstehe”, gestand er in einem Brief. Die
Reichen hatten – mit wenigen Ausnahmen – für seine Pläne nichts
übrig. Die ersten Siedler waren meist mittellose Idealisten,
soziale Anarchisten, Narodniks, die sich einer verqueren “Religion
der harten Arbeit” verschrieben hatten. 90 Prozent der Einwanderer,
die zwischen 1904 und 1914 in Palästina eintrafen, kehrten nach
Europa zurück oder gingen in die USA.

Andere Nationalbewegungen hatten ihre unterdrückten Völker
befreien und einen Nationalstaat gründen wollen, der alle Menschen
derselben Sprache auf seinem Territorium vereinigen sollte. Anders
die Zionisten. Sie appellierten an Juden, die in dutzenden Ländern
und ebenso vielen Sprachen zu Hause waren. Sie sollten sich in einer
entfernten, heruntergekommenen Provinz des Osmanischen Reiches
ansiedeln, wo zwar vor tausenden von Jahren ihre Vorfahren gelebt
hatten, die jetzt aber von einem anderen Volk mit einer anderen
Sprache und Religion bewohnt wurde. Überdies unternahm dieses
andere Volk gerade selbst die ersten Schritte seiner nationalen
Wiedergeburt und sah in den jüdischen Siedlern gefährliche
Eindringlinge, denen man sich entgegenstellen musste.

Einer von Herzls engsten Mitarbeitern soll ihm eines Tages ganz
aufgeregt eine überraschende Entdeckung übermittelt haben:
“Mensch, in Palästina gibt es Araber! Das hab ich gar nicht
gewusst!” Die Anekdote ist nicht hundertprozentig verbürgt, aber
sie bringt die wesentlichen Probleme des zionistischen Projekts auf
den Punkt. Wie Herzl auf seinen Freund reagiert hat, weiß man
nicht, aber ganz gewiss hat er sich im Unterschied zu vielen
Zionisten auf keine “historischen Rechte” berufen. Denn Herzl glaubte
nicht an irgendwelche “historischen Rechte”. Aufgrund seiner
Geschichtskenntnisse war er sich sehr wohl bewusst, wie viel Unheil
durch das Streben nach solchen Rechten entstanden war, man denke nur
an die Deutschen, die Franzosen, die Österreicher oder die Völker
auf dem Balkan. Aber Herzl hatte auch eine fast unheimliche
Vorahnung, dass den Juden eine düstere Periode bevorstand. Er war
überzeugt, dass mächtige Triebkräfte am Werk waren, die der
zionistischen Sache eine historische Rechtfertigung liefern würden.
Die späteren Ereignisse haben ihm Recht gegeben.

Angesichts so vieler unüberwindlich scheinender Schwierigkeiten ist
es bemerkenswert, dass die zionistischen Führer so wenige
historische “Dummheiten” begangen haben. Diese blieben bis Mitte der
1950er-Jahre, immerhin 50 Jahre nach Herzls Tod, eine seltene
Ausnahme und stifteten nur begrenzten Schaden, der weder endgültig
noch irreparabel war. Das zionistische Projekt lag in den Händen
von nüchternen Praktikern, die mit der europäischen und der
Weltpolitik vertraut waren und keine übermäßigen Risiken
eingingen. Sieht man von den paar Heißspornen ab, die Chaim
Weizmann, der überaus rationale Zionistenführer der
Zwischenkriegszeit, abfällig als “unsere d’Annunzios” bezeichnete,
zeigte diese Generation keine Neigung, ihre Karten zu überreizen.
Diesen Leuten war klar, dass sie ein ungewöhnliches Unterfangen
betrieben, das in gewisser Weise den Haupttendenzen des
Weltgeschehens zuwiderlief. Da sie sich einer vorwiegend feindlichen
arabischen Bevölkerung gegenübersahen, machten sie sich
ernsthafte Gedanken über Kompromisslösungen in Form von
binationalen Modellen oder Teilungsplänen (also auch über
Lösungen, die der zionistischen Sache abträglich waren, was für
mehrere der sondierten Teilungsmodelle gilt, die von ihnen selbst
akzeptiert, von arabischer Seite dagegen abgelehnt wurden).
Betrachtet man die Landkarten dieser Teilungspläne aus den 1930er-
und 1940er-Jahren oder auch den letzten UN-Teilungsplan von 1947, so
vermitteln die eigenartig gewundenen Grenzen, die engen Korridore und
die eingesprengselten britischen oder internationalen Enklaven den
Eindruck von zwei Erbfeinden, die in tödlicher Umarmung ineinander
verschlungen sind. 1948 gaben die Briten auf und zogen endgültig
von dannen. Noch am selben Tag riefen die Juden in ihrem Teil des
Landes einen unabhängigen Staat aus, der von den meisten Ländern
und nach einer Weile sogar von den Briten anerkannt wurde. Israel
wurde damals von aller Welt bewundert, weil es den gleichzeitigen
Angriff der Armeen von drei arabischen Nachbarstaaten erfolgreich
zurückzuschlagen vermochte.

An der Spitze des neuen Staates standen nach wie vor die alten,
besonnenen Führungskräfte, die freilich immer älter wurden.
Ihre praktische Denkweise sorgte dafür, dass sie ihre Grenzen
erkannten. Der Sieg ihrer improvisierten Armee stieg ihnen nicht zu
Kopf. Und in der Regel kannten sie durchaus den Unterschied zwischen
Macht und Gewalt. Dem damaligen Ministerpräsidenten David
Ben-Gurion hat man später vorgeworfen, er habe während des
Krieges die Tragödie der Palästinenser verschlimmert (mit
verhängnisvollen langfristigen Folgen), weil er seine Generäle
ermächtigt habe, an die 100 000 unschuldige Palästinenser aus
ihren Dörfern und Städten zu vertreiben, nachdem bereits fast 500
000 Menschen aus den Kampfgebieten geflohen und im Westjordanland
sowie in den arabischen Nachbarländern Zuflucht gesucht hatten.

Doch zumindest nach dem Krieg schlug Ben-Gurion eine Politik der
Zurückhaltung ein. Er widersetzte sich entschieden dem Drängen
der forschen jungen Generäle, auch noch das Westjordanland zu
erobern, das etwa 22 Prozent des vormaligen Mandatsgebietes
Palästina ausmacht und auch die Altstadt von Jerusalem mit ihren
heiligen Stätten umfasst. Das Westjordanland wurde mit
stillschweigendem Einverständnis des jüdischen Staates von dem
haschemitischen Königreich Jordanien annektiert. Israels
Ministerpräsident hoffte damals mit gutem Grund auf einen
förmlichen Friedensvertrag mit dem jordanischen König Abdullah,
mit dem er während des ganzes Krieges geheime Kontakte unterhalten
hatte. Für Ben-Gurion war Legitimität auch dann wichtiger als
Territorium, wenn zu Letzterem die Klagemauer und andere historische
und heilige Stätten gehörten. Es war eine bemerkenswerte
Entscheidung, die sich am Vorbild der klügsten europäischen
Staatsmänner des 19. Jahrhunderts orientierte.

Gurions weise Zurückhaltung führte nicht zum Frieden, weil der
jordanische König von einem religiösen Fanatiker ermordet wurde;
und doch zahlte sie sich aus. Im Nachkriegseuropa war man sich der
antisemitischen Vergangenheit reumütig bewusst und von
Schuldgefühlen geplagt. Zwanzig Jahre lang war die Unterstützung
Israels fast eine Frage der Pietät. Die Waffenstillstandslinien von
1948 galten in den USA und in Europa – mit Ausnahme Großbritanniens
– als praktisch ebenso sakrosankt wie die innereuropäische
Nachkriegsgrenze zwischen West und Ost. Aufschlussreich ist in diesem
Zusammenhang der Vergleich, wie sich diese Länder zu den
De-facto-Grenzen nach 1948 und nach dem Krieg von 1967 verhalten
haben. Nicht einmal Stalin forderte nach 1949 – in seinen letzten,
von antisemitischer Paranoia geprägten Amtsjahren – den Rückzug
Israels auf das weitaus kleinere Territorium, das im ursprünglichen
UN-Teilungsplan vorgesehen war. Und auch Stalins Nachfolger im Kreml
haben Derartiges nie gefordert.

Die Zeit bis Mitte der 1960er-Jahre war die Epoche der
Entkolonialisierung. Stalin und seine Nachfolger begrüßten fast
alle antikolonialen Bewegungen (natürlich nur jenseits ihres
ausgedehnten eurasischen Empires). Sie beschimpften Israel als
Lakaien des US-amerikanischen Kapitalismus, aber nicht als
Kolonialmacht. Viele der früheren Kolonialvölker, die damals ihre
Unabhängigkeit erlangten, pflegten enge Beziehungen zu Israel,
obwohl sie Siedlerstaaten wie Kenia, Südafrika oder Algerien
verdammten. Auch die äußerste Linke in Italien und Frankreich
enthielt sich damals weitgehend einer antiisraelischen Rhetorik,
wiesie nach 1967 üblich wurde. Enrico Berlinguer, der Führer der
PCI, erklärte explizit, warum Israel ein Sonderfall sei: In einer
gerechten, rationalen Welt mochte es “sinnvoller” und sogar
“gerechter” gewesen sein, den Staat Israel etwa in Bayern oder in
Ostpreußen zu gründen (ein Gedanke, den einmal Lord Moyne, ein
Minister in Churchills Kriegskabinett, ins Spiel gebracht hatte).
Aber leider, so Berlinguer weiter, gehe es in der Welt nicht völlig
rational zu.

Der Staat Israel wurde seinerzeit weitgehend anerkannt als das
unvermeidliche und sogar legitime Ergebnis eines Krieges, den die
Juden weder begonnen noch provoziert hatten. Vor allem sah man in
Israel den legitimen Zufluchtsort für Überlebende des Holocaust
und heimatlos gewordene Juden, die nicht nach Polen oder Deutschland
hatten zurückkehren wollen. Viele von ihnen wollten nach Israel und
nur nach Israel. Die Rückführung der mehr als 600 000
palästinensischen Flüchtlinge galt damals als überwiegend
humanitäre Aufgabe, nicht als Politikum. Ein Teil der Flüchtlinge
war von Israel vertrieben worden, doch die meisten waren einfach
vorübergehend in die arabischen Nachbarstaaten geflohen, wie es
Dorfbewohner in umkämpften Gebieten häufig tun. Von Israel wurde
erwartet, dass es nach einem Friedensschluss eine weitgehende
Verantwortung für die Zukunft dieser Flüchtlinge – in
existenzieller wie in finanzieller Hinsicht – übernehmen würde.
Und das zu Recht, denn schließlich waren die Palästinenser nicht
für die Verbrechen Europas verantwortlich. Doch genau sie waren es,
auf die am Ende die Strafe für diese Verbrechen abgewälzt wurde.

Von den arabischen Nachbarländern erwartete man, dass sie einen
Teil der palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen und
unterstützen würden. Denn im Westen gab man diesen Ländern
zumindest eine Mitverantwortung, weil sie den Krieg 1948 mit dem
Ziel, die Umsetzung der UN-Resolution zu verhindern, begonnen hatten.
Die USA, die Länder Europas und selbst die Sowjetunion drängten
die arabischen Länder, mit Israel auf der Grundlage des nach dem
Krieg entstandenen Status quo einen Friedensvertrag zu schließen.

*

Die große historische Wasserscheide war der Krieg von 1967. Er
beendete ein Jahrzehnt allmählicher Entspannung zwischen Israel und
Ägypten und damit die Hoffnung, der israelisch-arabische Konflikt
könne wenigstens teilweise beigelegt werden. (Obwohl der Suezkanal
für israelische Schiffe gesperrt blieb, konnten sie nach 1956 die
Straße von Tiran am Ausgang des Roten Meeres passieren. Der Handel
mit dem Fernen Osten und die Öllieferungen aus dem Iran wurden
über Israels südlichste Hafenstadt Elath abgewickelt.) Im Westen
herrschte zunächst Begeisterung über den spektakulären Sieg der
Israelis in einem Krieg, der vor allem auf bizarre
Fehleinschätzungen der ägyptischen und der syrischen Führung
zurückging, zum Teil aber auch auf die tumben Ratschläge eines
sowjetischen Diplomaten, der beide Länder zur Bedrohung Israels
ermutigt hatte (und der kurz darauf von der Bühne – und womöglich
im Gulag – verschwand). Damals ist es mir auf einer Party passiert,
dass der deutschen Militärattaché meine Hand packte, die er gar
nicht wieder loslassen wollte, und ergriffen beteuerte: “Genau so
hätte es unser Feldmarschall Rommel gemacht, wenn man ihm freie
Hand gelassen hätte …”

Heute wissen wir, dass der Sieg von 1967 ein Pyrrhussieg war. Dieser
Krieg hat nicht nur die strategische Position Israels in der Region
verändert, sondern mehr noch die Selbsteinschätzung der Israelis.
Von Isaiah Berlin stammt der Satz, Israel habe stets “mehr Geschichte
als Geografie” gehabt. Aber jetzt hatte es auf einmal beides. Es
verfügte erstmals, zumindest in der Theorie, über genügend
Territorium, um ein Stück davon für einen Frieden einzutauschen.

Ben-Gurion war der einzige führende Repräsentant, der sich der
allgemeinen Euphorie entgegenstellte und einen sofortigen – notfalls
einseitigen – Rückzug aus allen besetzten Gebieten vorschlug. Wie
schon 1948 war er strikt gegen jeden Versuch, das Westjordanland auf
Dauer zu besetzen. Aber Ben-Gurion war mittlerweile im Ruhestand.
Seit seinem Austritt aus der Arbeitspartei (1965, damals Mapai) war
er politisch isoliert. Maßgeblichen Einfluss in der
Labour-Regierung hatte jetzt Yigal Allon, der 1948 als junger General
Ben-Gurion gedrängt hatte, die vollständige “Befreiung” (so sein
Wort) des gesamten Mandatsgebietes anzuordnen. Allons Hauptkonkurrent
um das Amt des Ministerpräsidenten (als Nachfolger von Levi
Eschkol) war mit Mosche Dajan ein weiterer Exgeneral. Der so genannte
Allon-Plan sah Siedlungen und territoriale Annexionen im
Westjordanland vor. Den Palästinensern wäre kaum mehr geblieben
als zwei Enklaven in den Hügeln von Samaria und Judäa, umzingelt
von israelischen Militärbasen und Siedlungen. Auch sollten sie kein
Mitspracherecht über Jerusalem haben.

Der Allon-Plan entfaltete, je länger die politische Lage
festgefahren blieb, eine zunehmend expansive Logik, insofern immer
mehr Territorium zur Besiedlung und Annexion ausersehen wurde. Die
Pläne Dajans waren zwiespältiger und in ihren Auswirkungen
weitaus ehrgeiziger. Er war der erste nicht religiöse
Spitzenpolitiker, dessen Rhetorik mit einer suggestiven biblischen
Bildersprache aufgeladen war. Dajan war der vergötterte Sieger in
einem glorreichen Krieg und eine Zeit lang vielleicht der
berühmteste Jude seit Jesus Christus. Und wenn ich mich nicht
täusche, war er es auch, der später veranlasste, dass der Krieg
nach den sechs Schöpfungstagen benannt wurde. Rechte Politiker und
religiöse Fundamentalisten beuteten den Sieg von 1967 bis zum
äußersten für ihre ideologischen Zwecke aus. Sie gaben dem
“Sechstagekrieg” eine metaphysische, ja pseudomessianische Aura und
drängten auf die Annexion aller “befreiten Gebiete”. Damals waren
sie allerdings noch eine relativ kleine Minderheit.

Die Konkurrenz der beiden säkularen Exgeneräle um das Amt des
Ministerpräsidenten war verheerend, ihre fatalen Folgen wirken bis
in die Gegenwart fort. Allon wie Dajan waren – selbst für Politiker
– extrem egozentrische Persönlichkeiten und somit blind für die
Präsenz der Palästinenser. Die Hoffnungen von über einer
Million Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen waren
für sie ein untergeordnetes Problem. Sie hatten keinerlei Neigung,
diesen Menschen die israelische Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Etwa 300 000 Palästinenser lebten in Israel und waren als Bürger
zweiter Klasse entsprechend verbittert. 1967 belief sich die Zahl der
jüdischen Bürger auf 2,7 Millionen, die Zahl aller Araber
zwischen Mittelmeerküste und Jordan auf 1,3 Millionen. Es war
demnach so, als hätte Frankreich 1938 beschlossen, durch
territoriale Ausdehnung 20 Millionen renitente, potenziell subversive
Deutsche zu schlucken, während jenseits der Grenzen über 100
Millionen schwer bewaffnete, feindlich gesinnte Landsleute dieser
inneren Minderheit lebten. Heute, 35 Jahre später, leben 4,1
Millionen Palästinenser westlich des Jordans, davon 3,1 Millionen
im Westjordanland und im Gaza-Streifen, und 1 Million Palästinenser
innerhalb der israelischen Grenzen. Und obwohl seit 1967 viele Juden
zugewandert sind, liegt ihre Zahl heute bei lediglich 5 Millionen,
die Relation zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung
beträgt also lediglich 1,2:1. Und die höhere Geburtenrate der
Palästinenser wird dazu führen, dass die Palästinenser in zehn
bis fünfzehn Jahren die Bevölkerungsmehrheit stellen werden.

Im Sommer 1967 erörterte das israelische Kabinett in selbst für
israelische Verhältnisse außergewöhnlich langen Sitzungen, was
nun nach dem großen Sieg zu tun sei. Die entscheidende Debatte, bei
der es um den Status des besetzten Westjordanlandes ging, begann
Mitte Juni an einem Sonntag und zog sich – von kurzen Essens- und
Schlafpausen unterbrochen – bis zum darauffolgenden Mittwoch hin. Am
Ende entschied man sich, nicht zu entscheiden. Dank dieses Vakuums
konnten Dajan, mittlerweile ein nationaler Halbgott, Allon und einige
rechtsgerichtete und religiös-fundamentalistische Aktivisten und
Landbesetzer dazu übergehen, höchst zweifelhafte Fakten zu
schaffen: Siedlungen und so genannte heachsujot (Vorposten), zu denen
im Lauf der Jahre mittels offizieller und halboffizieller Regelungen
ständig neue hinzukamen. Die Landbesetzer erhielten so allmählich
einen legalen Status und großzügige Subventionen und wurden am
Ende als nationale Helden gefeiert. Jemand hat über das britische
Empire gesagt, es verdanke seine Entstehung einem kurzen Moment der
Geistesabwesenheit. Die koloniale Besitznahme des Westjordanlands
durch Israel kam unter ähnlich nebulösen Umständen zustande.
Zunächst wurde die Sache nur von wenigen Leute ernst genommen.
Einige redeten sich ein, es gehe lediglich um eine zeitlich begrenzte
Maßnahme. Doch die verantwortlichen Politiker haben es konsequent
vorangetrieben, und nicht wenige Minister glaubten ernsthaft, man
könne so die Araber unter Druck setzen, sich möglichst bald auf
einen Frieden einzulassen, bevor die israelische Seite zu viele
“unwiderrufliche” Fakten geschaffen habe.

Der Minister für Wohnungsbau, der innerhalb der Labour-Regierung
als Taube galt und gegen das Siedlungsprojekt war – das er gleichwohl
großzügig subventionierte -, machte damals eine zynische Rechnung
auf: Nach Aufgabe der Siedlungen würden die USA für jedes umsonst
ausgegebene israelische Pfund einen Dollar Entschädigung zahlen.
Die wenigen Bürger, die mit politischen und demografischen
Argumenten gegen die Siedlungen protestierten, fanden kein Gehör.
Gegen die sich herausbildende Koalition aus religiösen und
politischen Fundamentalisten hatten sie keine Chance. In der Knesset
wurde über das Projekt nie abgestimmt. Finanziert wurde es anfangs
vor allem über nichtstaatliche Agenturen wie den United Jewish
Appeal (UJA), die Jewish Agency und den Jewish National Fund (JNF).

Die US-Regierung rang sich zu einem sanften Protest gegen das
Siedlungsprojekt durch, unterließ jedoch alle rechtlichen oder
andere möglichen Schritte. Sie hätte zum Beispiel die
steuerfreien Spenden an den UJA oder den UJN unterbinden können.
Das Kabinett der nationalen Einheit, das man 1967 am Vorabend des
Krieges eilends zusammengeschustert hatte, hielt sich noch lange im
Amt. Zunächst geführt vom schwachen Levi Eschkol, der kurz nach
dem Krieg starb, danach von der Hardlinerin Golda Meir, die für
ihren herablassenden Maternalismus berühmt war – und für den
Ausspruch: “Wer sind die Palästinenser? Ich bin eine
Palästinenserin.”

Die israelische Regierung ließ Washington wissen, man sei bereit,
sich als Gegenleistung für einen Frieden aus den besetzten
Territorien Ägyptens und Syriens zurückzuziehen. Einen Rückzug
aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen hingegen schloss sie
explizit aus. Bis heute gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass
US-Diplomaten in Kairo oder in Damaskus die Möglichkeit eines
Vertrags auf der Basis eines israelischen Rückzugs sondiert
hätten. Und auch eine Recherche der New York Review of Books bei
den US National Archives unter Berufung auf den Freedom of
Information Act brachte nicht ein einziges Telegramm, keinen Bericht
oder mündlichen Hinweis zum Vorschein, der darauf hindeuten
würde, dass Washington im Sommer 1967 einen Friedensprozess in Gang
zu bringen versuchte. Über die Gründe für dieses Versäumnis
kann man nur spekulieren. Nicht nur war die US-Regierung
offensichtlich ganz froh, dass Israel die wichtigsten Klienten der
Sowjetunion im Nahen Osten gedemütigt hatte, sie zeigte auch keine
Eile, den arabisch-israelischen Konflikt beizulegen. Der Krieg
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde zum
Stellvertreterkonflikt – und zum Übungsfeld für die Waffensysteme
der beiden Supermächte. Dass der Suezkanal blockiert blieb, kam
Washington gerade recht. Der Vietnamkrieg war in vollem Gange und die
Johnson-Regierung hatte nichts dagegen, wenn sowjetische
Versorgungsschiffe für Nordvietnam gezwungen waren, die lange Route
um Afrika zu nehmen. Wenig später verkündeten die arabischen
Staaten auf ihrem Gipfeltreffen in Khartoum ihre “drei Neins”: Nein
zur Anerkennung, Nein zu Verhandlungen und Nein zu einem
Friedensabkommen mit Israel. Danach geschah mehrere Jahre nichts. Mit
einer gewissen Schadenfreude beschrieb ein arabischer Israeli das
israelische Dilemma mit folgendem Bild: “Statt die Schlange, die sie
bedrohte, totzutreten, haben sie sie verschluckt. Jetzt müssen sie
mit ihr leben – oder sterben.”

Ein Dilemma ist per definitionem ein Konflikt zwischen zwei gleich
unerwünschten Alternativen. Stand Israel wirklich vor einem solchen
Konflikt? Das war nicht der Fall, wie wir heute wissen. Es gab sehr
wohl eine Chance für den Frieden – mit den Palästinensern im
Sommer 1967, mit Jordanien und Ägypten 1971 und 1972. Gleich nach
dem Krieg von 1967 führten zwei hohe israelische Geheimdienstler
(einer war David Kimche, der später Vizechef des Mossad und dann
Staatssekretär im israelischen Außenministerium wurde)
Gespräche mit prominenten Führungspersönlichkeiten der
Palästinenser im gesamten Westjordanland: mit Intellektuellen,
Notablen, Bürgermeistern und religiösen Würdenträgern. Wie
Kimche berichtet, zeigten sich die meisten der Befragten bereit, im
Westjordanland einen entmilitarisierten Palästinenserstaat
aufzubauen, der einen Separatfrieden mit Israel unterzeichnen
könnte. Zu der Zeit war die PLO noch eine weitgehend
marginalisierte Gruppe.

Der Kimche-Report wurde, soweit wir wissen, von Dajan ad acta gelegt.
Dem Kabinett hat er niemals vorgelegen. Doch in der Hybris der ersten
Monate nach dem gewonnenen Krieg wäre wohl selbst ein erster
Versuch, diese Möglichkeit auszuloten, vom israelischen Kabinett
abgelehnt worden. Dajan glaubte fest, so lange man die Eingeborenen
freundlich und anständig behandele – was anfangs der Fall war -,
werde man den Status quo in den besetzten Gebieten über
Generationen aufrechterhalten können. Die Palästinenser waren
noch bemerkenswert fügsam; so hatten die Israelis das
Westjordanland binnen weniger Stunden erobern können, ohne einen
einzigen Schuss abzugeben. Dayan und mit ihm fast das gesamte
politische und militärische Establishment waren der Überzeugung,
dass nicht nur die Palästinenser, sondern auch Ägypten und Syrien
auf Jahrzehnte hinaus keine militärische Bedrohung darstellen
würden. Bei einem Besuch in Vietnam soll er auf die Frage von
General Westmoreland, wie man einen Krieg gewinne, geantwortet haben:
“Vor allem muss man sich als Feind die Araber aussuchen.” Ein paar
Wochen nach dem Krieg äußerte er mir gegenüber:
“Westjordanland? Das sind doch nur zwei kleine Städte.”

Wir vergessen zuweilen, dass Spitzenpolitiker ein ganz anderes Leben
führen als wir normalen Bürger. In ihren Autoeskorten
überfahren sie jede rote Ampel, nicht selten sind sie sogar mit dem
Hubschrauber unterwegs. Aus dem Cockpit eines Hubschraubers
betrachtet, mag das Westjordanland tatsächlich nicht viel mehr sein
als ein halbes Dutzend erbärmlich kleiner Städte. Wie Dajan die
Dinge sah, kam auch in einem anderen Interview zum Ausdruck. Auf die
Frage, wie Israel einen Frieden zu erreichen hoffe, antwortete er:
Indem wir eisenhart da stehen bleiben, wo wir heute stehen, bis die
Araber zum Nachgeben bereit sind.

Bis zum Jom-Kippur-Krieg von 1973 vertrat Dajan gegenüber Ägypten
die Position, dass es für Israel vorteilhafter sei, Scharm
al-Scheich und die halbe Sinai-Halbinsel zu haben statt einen Frieden
mit Ägypten, ohne Scharm al-Scheich zu behalten. Nach 1973
änderte sich seine Einstellung zu Ägypten, und er war bereit, den
besetzten Sinai aufzugeben. Was das Westjordanland betrifft, blieb
Dajan jedoch ein Annexionist. US-Außenminister Henry Kissinger
klagte damals, wann immer man sich bei den Israelis nach ihren
politischen Absichten für dieses besetzte Gebiet erkundige, erhalte
man einfach keine Antwort.

In Wahrheit wurden trotz des dreifachen Nein von Khartoum, schon bald
nach dem Krieg von 1967 direkte Verhandlungen mit Jordanien
aufgenommen, ab 1970 sogar mit König Hussein persönlich. Noch als
Golda Meir öffentlich lamentierte, “wenn sich die Araber doch nur
mit uns an einen Tisch setzen und wie anständige Menschen mit uns
reden würden”, trafen ihre Abgesandten heimlich mit dem König
zusammen. Hussein steuerte sogar seinen eigenen Hubschrauber nach Tel
Aviv und ließ sich von Dajan zu einem Bummel durch das Nachtleben
ausführen. Der König war zum Frieden unter der Bedingung bereit,
dass sich Israel aus dem größten Teil des Westjordanlands und aus
Ost-Jerusalem zurückziehen und die muslimischen und christlichen
heiligen Stätten in der Altstadt wieder an Jordanien zurückfallen
würden. Als Gegenleistung war er bereit, den Israelis
Zugeständnisse an den schmalsten Stellen der Küstenebene und
bezüglich der Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem zu machen.

Aber von diesem Angebot wollte Israel nichts wissen. Inzwischen hatte
man Jerusalem “für alle Zeiten” zur Hauptstadt Israels ausgerufen,
nicht ohne zuvor das Stadtgebiet auf das arabische Ost-Jerusalem,
aber auch auf Teile des früheren Westjordanlands auszudehnen. Auf
diesem Territorium Groß-Jerusalem wurden nun – auf dem enteigneten
Grund und Boden von Palästinensern – immer neue Siedlungen
errichtet. Zudem hielt man an der neuesten (noch expansiveren)
Fassung des Allon-Plans fest. Das war gleichbedeutend mit der
Annexion des gesamten Jordantals zwischen dem See Genezareth und dem
Toten Meer, der dicht bevölkerten Region südlich von Jerusalem
bis Hebron sowie der Hänge des westlichen und nördlichen
Berglandes von Samaria im Norden. König Hussein ließ die Israelis
wissen, über derart weitreichende Konzessionen müssten sie mit
der PLO verhandeln. Im Rückblick ist es geradezu tragisch, dass
damals kein Abkommen mit den palästinensischen Führern im
Westjordanland oder mit Jordanien zustande kam. Denn vor 30 Jahren
waren die Palästinenser noch nicht durch ein Besatzungsregime
radikalisiert, das sie zunehmend erniedrigte und ihnen große Teile
ihres Grund und Bodens wegnahm, die dann exklusiv von jüdischen
Siedlern genutzt wurden. Es existierten weder Hamas noch Hisbollah;
die PLO war noch keine international anerkannte Organisation. Hätte
es damals ein autonomes palästinensisches Staatsgebilde in
friedlicher Koexistenz mit Israel gegeben, wäre die PLO zwar nicht
von der Bühne verschwunden, aber sie hätte vielleicht sehr viel
weniger Einfluss gehabt. Eine Friedensregelung mit Jordanien hätte
die Palästinenserfrage erneut, wie schon vor 1967, zu einem
vorwiegend innerjordanischen Problem gemacht.

*

Dass es damals zu keiner Friedensvereinbarung kam ist umso
tragischer, als die Zahl der Siedler noch relativ begrenzt war. Die
nicht einmal 3 000 Leute wären nicht wie heute imstande gewesen,
ihr Veto gegen jeden Kompromiss einzulegen. Inzwischen sind im
Westjordanland und im Gaza-Streifen rund 200 000 Siedler ansässig,
das sind doppelt so viele wie zum Zeitpunkt des Oslo-Vertrags von
1993. Zählt man die 200 000 Menschen dazu, die auf ehemals
jordanischem Territorium in Ost-Jerusalem wohnen, so liegt die
Gesamtzahl der Siedler inzwischen bei 400 000. Und die Wohnkomplexe
wachsen weiter. Man stelle sich vor, was es für den Friedensprozess
in Nordirland bedeuten würde, wenn die britische Regierung laufend
zu tausenden Protestanten aus Schottland in Nordirland ansiedeln
würde, subventioniert mit Regierungsgeldern und auf Land, das man
zuvor irischen Katholiken weggenommen hat.

Aufs Ganze gesehen war die Besatzung ein Gewinn bringendes
Unternehmen. Bis zur ersten Intifada nach zwanzig Jahren war die
Kostenrechnung mehr als ausgeglichen. Zum einen musste die
palästinensische Bevölkerung Steuern zahlen, zum anderen
entwickelten sich die besetzten Gebiet zwangsläufig zum Absatzmarkt
für israelische Produkte und Dienstleistungen. Michael Ben Jair,
Generalstaatsanwalt in der Regierung Rabin, schrieb kürzlich in
Ha’aretz: “Der Sechstagekrieg wurde uns aufgezwungen, aber der siebte
Tag des Krieges, der am 12. Juni 1967 anbrach, dauert bis heute an
und resultiert aus unserer eigenen Entscheidung. Mit Begeisterung
sind wir zu einer Kolonistengesellschaft geworden, die internationale
Verträge missachtet, Grund und Boden beschlagnahmt, Siedler aus
Israel in die besetzten Gebiete verbringt, Diebstahl begeht und für
all das noch irgendwelche Rechtfertigungen findet.” Das sind harte
Worte. Doch der tragische Wahnsinn, den ich hier beschreibe, liegt
darin begründet, dass Ben Jair solche Ansichten nicht schon vor
Jahren, zu seiner Zeit als Generalstaatsanwalt, in einem offiziellen
Memorandum zu Papier brachte.

Die Siedler sind im heutigen Israel die stärkste aller politischen
Interessengruppen. In den letzten Jahren wurden sie staatlicherseits
großzügig unterstützt: mit Subventionen, Landübertragungen
und Mietsubventionen, mit Regierungsposten, Steuererleichterungen und
besonders gut funktionierenden öffentlichen Dienstleistungen. Bis
auf wenige Ausnahmen haben die Siedlungen Israel nicht “sicherer”
gemacht, wie zuweilen behauptet wird. Im Gegenteil. Die Siedlungen
machen heute teure Schutzmaßnahmen erforderlich, denn sie liegen
weit verstreut innerhalb von Gebieten mit dichter palästinensischer
Bevölkerung. Die unvermeidlichen Kontrollen, Ausgangssperren und
Gewaltmaßnahmen führen dazu, dass immer mehr Palästinenser
immer verbitterter reagieren, zumal sie ständig durch unsensible
oder undisziplinierte israelische Rekruten und Reservisten
gedemütigt werden.

Dafür zwei Beispiele: Ein komplettes Panzerregiment muss seit
Jahren eine kleine Kolonie von nationalistischen religiösen
Fanatikern bewachen, die sich in der Altstadt von Hebron, also in
einer fundamentalistisch geprägten muslimischen Umgebung
angesiedelt haben. Und im Gaza-Streifen liegen einige der fest
etablierten, blühenden Siedlungen nur wenige hundert Meter von
riesigen Flüchtlingslagern entfernt, in denen die Flüchtlinge
bereits in der dritten und vierten Generation leben. Hier bietet sich
dem Besucher ein irres Kontrasterlebnis: binnen fünf Minuten legt
er gleichsam die Strecke von der südkalifornischen Suburbia nach
Bangladesch zurück, vorbei an Stacheldrahtverhauen, Wachtürmen,
Suchscheinwerfern, Maschinengewehrnestern und betonierten
Straßensperren. Ein bizarrer Anblick, der kalte Angst auslöst.

Voller Wut müssen die Palästinenser zudem mit ansehen, wie ihre
Olivenhaine abgeholzt oder von Siedlern niedergebrannt werden. Oder
wie ihre Wasserzapfstellen austrocknen und ihre alten Bodenrechte und
kostbaren Wasserressourcen konfisziert werden, damit die Siedler
nebenan ihre Swimmingpools füllen können. Jeder Siedler
verbraucht im Durchschnitt etwa fünfmal so viel Wasser wie ein
Palästinenser. Obwohl bei Meinungsumfragen 70 Prozent der Israelis
sagen, sie seien für die Aufgabe von Siedlungen, kontrollieren die
Siedler und ihre rechtsradikalen und orthodoxen Anhänger heute
mindestens die Hälfte der Wählerstimmen. Und sie können
ständig mit Bürgerkrieg drohen, falls man ihre Interessen nicht
voll berücksichtigt. Den Kern der Siedlerbewegung bilden fanatische
Nationalisten und religiöse Fundamentalisten, die genau zu wissen
glauben, worüber sich Gott und Abraham in der Bronzezeit
unterhalten haben.

Die Siedler sind heute nicht mehr wie früher gesellschaftliche
Außenseiter oder illegale Landbesetzer. Viele von ihnen sind aus
ganz pragmatischen Gründen zu Siedlern geworden: Weil sie billigere
Wohnungen suchten und in einer angenehmeren Umgebung leben wollten,
die dennoch für Pendler bequem zu erreichen ist. Fast 25 Jahre lang
wurden die Siedler von jeder israelischen Regierung als Patrioten,
gute Bürger und gute Zionisten gefeiert. Zumindest im
Westjordanland gilt das Siedlungsprogramm schon längst als
Grundpfeiler der zionistischen und israelischen Identität. Doch
inzwischen gibt es eine zweite Generation von Siedlern, die zwischen
sich selbst und anderen Israelis, die in Tel Aviv oder in Tiberias
leben, gar keinen Unterschied mehr sehen. Und diese Leute gehen seit
dem Ausbruch der jüngsten Intifada und dem Auftauchen von
palästinensischen Selbstmordattentätern davon aus, dass sie nicht
nur eine Idee verteidigen, sondern auch: “die Heimat”.

Die Folge ist, dass auf beiden Seiten inzwischen die Extremisten die
Oberhand haben, die in Israel wie in Palästina jeden Forschritt in
Richtung Frieden verhindern. Jeder Tag bringt eine neue Katastrophe,
ein Ende ist nicht in Sicht. Auf beiden Seiten haben offenbar die
Extremisten die nationale Sache usurpiert: auf palästinensischer
Seite die Hamas, auf israelischer Seite die Fanatiker der religiöse
Rechten. Diese Entwicklung ist umso tragischer, als dreißig Jahre
nach dem ersten Friedensvorschlag König Husseins von 1970 die
Regierung Barak einen ähnlichen Friedensplan – jedenfalls unter
Vorbehalt – befürwortet hat. In Camp David wurde den
Palästinensern auf der – übrigens wohl einmalig schlecht
vorbereiteten – Friedenskonferenz von US-Präsident Clinton – und
nicht von Barak selbst – eine “Verhandlungsgrundlage” von mehreren
Punkten vorgelegt, die einen Palästinenserstaat vorsahen, in dem
die Israelis 9 Prozent des besetzten Westjordanlandes behalten
durften. Arafat sah sich jedoch außerstande, diesem Konzept
zuzustimmen oder einen überzeugenden Gegenvorschlag zu machen. Nach
weiteren Geheimtreffen zwischen israelischen und palästinensischen
Diplomaten hat Clinton am 23. Dezember 2000 dann Arafat die
“Parameter” eines verbesserten Plans übermittelt, die das
israelische Kabinett akzeptiert hatte. Erst nach zehn Tagen
übermittelte Arafat seine Antwort, die Interesse an dem neuen
Vorschlag ausdrückte, aber auch Vorbehalte anmeldete. Vertreter
beider Seiten trafen sich dann vom 21. bis 27. Januar 2001 im
ägyptischen Taba. Mit eingem Erfolg, doch es war zu spät:
Clintons Amtszeit war abgelaufen und von Barak wussten alle,
einschließlich Arafats, dass er die bevorstehenden israelischen
Wahlen verlieren würde.

*

Über die Gründe, warum Arafat nicht wenigstens die Grundzüge
eines Abkommens eindeutig akzeptiert hat, können wir nur
spekulieren. Vielleicht dachte er, die neue Bush-Administration
würde ihm bessere Bedingungen anbieten. Oder er hatte jede Hoffnung
verloren, die besetzten Gebiete jemals auf dem Wege der Diplomatie
unter palästinensische Oberhoheit zu bringen. Vielleicht hoffte er
auch, Israel könnte durch den ständigen Einsatz von Gewaltmitteln
zur Aufgabe des Westjordanlands und des Gaza-Streifens gezwungen
werden, so wie kurz zuvor der Hisbollah-Terror die Israelis aus dem
Südlibanon vertrieben hatte. Womöglich zielte er auch immer noch
auf eine Art Groß-Palästina, so wie mächtige isarelische
Gruppen seit langem ein Groß-Israel errichten wollen, das vom
Mittelmeer bis zum Jordan reicht. Scharon hatte lange vorher
verkündet, er sei für einen Palästinenserstaat, der östlich
des Jordan, also im heutigen Jordanien liege.

Arafat und seine Gefolgsleute haben sicher die Macht und
Entschlossenheit Israels wie auch ihre internationale Unterstützung
gewaltig unterschätzt. Gegen die These israelischer Hardliner,
Arafat strebe mit aller Gewalt nach einem Groß-Palästina, spricht
allerdings, dass die Palästinenser in den letzten sieben Jahren 3
Milliarden Dollar in touristische Anlagen investiert haben. Diese
Projekte machen Sinn eigentlich nur für einen Palästinenserstaat,
den Arafat häufig genug als sein Ziel benannt hat und den Scharon
zu verhindern entschlossen ist.

Die israelische Rechte geht davon aus, dass es mit den
Palästinensern keinen brauchbaren Kompromiss geben könne. Aber
die fast 200 Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen und
über 200 000 Siedler auf dem Gebiet von Ost-Jerusalem sind ein
latent höchst explosives Potenzial, das jeden denkbaren
historischen Kompromiss verhindern kann. Wie viel leichter wäre es
heute, wenn Israel sich in etwa auf die Grenzen von 1967
beschränken würde (die es dem Land immerhin erlaubt haben,
innerhalb von sechs Tagen drei arabische Länder zu besiegen).

Stattdessen versucht die Scharon-Regierung heute, aus vorwiegend
innenpolitischen Gründen entlang dieser Grenzlinie hohe Mauern zu
errichten und zahllose weitere Mauern um jede Siedlung und um jede
palästinensische Stadt herum. Entlang den Straßen, die zu jeder
dieser Siedlungen führen, lässt die Regierung regelmäßig
Panzer und Kampfhubschrauber patrouillieren. Dennoch: Israel erleidet
schwere Verluste, muss Reservisten einberufen und eine riesige
Streitmacht in Jerusalem stationiert halten, um
Selbstmordattentäter davon abzuhalten, in jüdische Wohnviertel
einzudringen.

In Israel wie in Palästina ist die politische Mitte weggebrochen.
Die vielfach erörterte “Zwei-Staaten-Lösung” ist vielleicht nicht
mehr machbar, seit beiden Parteien jegliches Vertrauen in die andere
Seite abhanden gekommen ist. Im Namen von Groß-Israel und
Groß-Palästina blockieren die Extremisten jeden politischen
Fortschritt. Ich benutze die Begriffe “Groß-Israel” und
“Groß-Palästina” hier bewusst und mit großer Bitterkeit. Denn
zu welchen Katastrophen ähnliche “Groß”-Projekte anderswo
geführt haben, wissen wir von den Beispielen “Groß-Serbien” und
“Groß-Bulgarien”, dem “Groß-Kroatien” der Ustascha und der megali
idea der Griechen.

Was meint Ariel Scharon, wenn er von dem Ziel spricht, die
“Infrastruktur” des Terrors zu zerstören? Denn wir sprechen ja in
Wahrheit nicht von irgendeiner Garage oder Werkstatt, wo die Gürtel
mit Sprengstoff und Stahlnägeln präpariert oder die
Eigenbaugranaten gebastelt werden. Die wahre Infrastruktur ist viel
gefährlicher und besteht aus zwei Elementen: der wachsenden
Bereitschaft verbitterter junger Männer und Frauen, sich selbst in
die Luft zu sprengen, und der religiösen und politischen Kultur in
21 arabischen Staaten, wo diese Selbstmordattentäter als Märtyrer
gefeiert werden. Wie auch immer der Krieg im Irak ausgehen wird, so
viel ist sicher: Er wird die “Infrastruktur” verbreitern und
vertiefen – eine diffuse “Infrastruktur”, die selbst von der
mächtigsten Luftwaffe nicht zu vernichten ist. Die Amerikaner haben
Afghanistan besiegt, aber al-Qaida ist nicht “zerstört”.

Das enorme Siedlungsprojekt nach 1967 war nicht nur ein großes
Unrecht, sondern es war auch selbstzerstörerisch und politisch
ruinös. Es könnte sogar, ich wage gar nicht daran zu denken, zu
einem Zustand führen, der weitaus schlimmer ist, als was wir
derzeit erleben.

Published 17 April 2003
Original in German
Translated by Niels Kadritzke

Contributed by Le Monde diplomatique © Le Monde diplomatique Eurozine

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