Editorial

Dass man Russland mit dem Verstand nicht erfassen könne, gehört zu den alten Klischees über die eurasische Landmasse, die nach dem Zerfall der Sowjetunion noch immer über eine Bevölkerung von fast 150 Millionen verfügt. Zwar löst auch im zwölften Jahr der russischen Unabhängigkeit eine Katastrophe die andere ab und der Krieg in Tschetschenien geht bald in sein achtes Jahr, aber die apokalyptischen Diskurse sind merklich schwächer geworden. Moskau hält sich längst nicht mehr für das Zentrum der Welt, soweit ist Normalität eingekehrt. Die Megapolis boomt und lässt als Russlands Zentrum alles hinter sich in Geschichtslosigkeit versinken. Bestes Beispiel dafür war der gemeinsame Auftritt des russischen Präsidenten Putin und des deutschen Kanzlers Schröder bei der Wiedereröffnung des so genannten Bernsteinzimmers. Die von “Ruhrgas” gesponserte “Wiedergutmachung” des im Zweiten Weltkrieg abhanden gekommenen Kunsthandwerks wurde von imperialem, goldbraunen Glanz überstrahlt, als hätte es die Millionen von Kriegstoten auf beiden Seiten nie gegeben.

Den inoffiziellen Abschluss des deutsch-russischen Jahres mit zahllosen Lesungen, Konzerten und Ausstellungen stellt die Frankfurter Buchmesse dar ­ Gastland Russland. Russland wird als “Land der Leser” vermarktet, die Krimiautorin Polina Daschkowa hat daheim mehr als 15 Millionen Bücher verkauft ­ also ist sie Literatur. Dass sie im Literaturhaus München zwischen Andrej Bitow und Wladimir Sorokin von der Wand strahlt, verwundert dann doch. Was einen renommierten Verlag wie Dumont dazu bringt, das weibliche Pendant zur Russendisco Alina Wituchnowskaja als “schwarze Ikone” zu verkaufen und ihren rabiaten Quatsch ins Deutsche übersetzen zu lassen, weiß Gott allein.

In der Moskauer Verlagsszene hat indessen das Prinzip Skandal Einzug gehalten und nach mehreren Anläufen hat es der Ad Marginem-Verleger Sascha Iwanow, bislang für Edel-Geistiges von Benjamin über Derrida bis Barthes zuständig, geschafft: mit der Serie “Trash” und Alexander Prochanow, einem der widerlichsten Schreiber Russlands, ist er mittlerweile dort angekommen, wohin er offenbar immer schon wollte: Prochanow, die “Nachtigall des Generalstabs”, der seinerzeit nicht nur ein übles Buch über Afghanistan produziert hatte und Moskau in den Neunzigerjahren mit dem Neofaschistenblatt Der Tag beglückte, landete mit einer Kreml-Schmonze mehr als einen Achtungserfolg. Soviel Kremlnähe inspirierte den Verleger offenbar, mit seinem Hausautor Wladimir Sorokin einen noch größeren Coup zu versuchen: die “Putinjugend” (im Original deutsch !) warf Sorokin Pornografie vor, Beschmutzung der russischen Seele, ein Strafverfahren gegen den einstigen Konzeptualisten rückte in bedrohliche Nähe. Die Moskauer Küchen sind immer voller Gerüche und Gerüchte, zumeist entbehren sie nicht ganz einer gewissen Plausibilität: Tatjana Tolstaja soll die Reden für Putin schreiben (was kein besonderes Ruhmesblatt wäre), Alexander Solschenizyn den Krieg in Tschetschenien absegnen (das tut er auch öffentlich), im Fall der Anklage gegen Sorokin, zu der es letztlich nicht kam, hieß es, der ehemalige Militär Iwanow habe den Skandal selbst initiiert und die kremltreuen Neofaschisten für ihren Auftritt bezahlt. Der Moskauer Zynismus ist bekannt, rührend allerdings die deutschen Reaktionen: Sorokin liest, das Publikum drängt sich, der Schriftsteller Ingo Schulze schreibt eine Zeit-Seite lang über den Fall, um schließlich den gegenwärtig grassierenden Totalitarismus anzuklagen. Putin selbst stand angeblich hinter der Affäre. Nicht einmal in Zeiten Breschnews sei Sorokin verboten worden! Dass es den damals als Autor noch gar nicht gab, scheint der Entrüstete nicht zu wissen.

Während in den USA neuerdings über das Vergessen des Gulag diskutiert wird, gehört die Unbekanntheit eines Autors wie Warlam Schalamow zu den Merkwürdigkeiten des deutschen Sprachraumes. Die fast zwanzig Jahre Lagerhaft trugen Schalamow nicht nur Solschenizyns sonderbare Respektbekundung (Schalamow hätte weitaus schlimmere Lager erlebt als er selbst) und die Aufforderung ein, gemeinsam den Archipel Gulag zu schreiben. In Frankreich und im anglosächsischen Raum vielfach übersetzt, wurde er im Land des Historikerstreits nie wirklich zur Kenntnis genommen. Vom Lyriker Nikolaj Sabolozkij, Weggefährte von Charms, Wwedenskij und Waginow stammt ein zweiter, während des Zweiten Weltkriegs geschriebener Text über das Sibirien der Lager. Die Hölle in Russlands fernem Osten erscheint hier geradezu lieblich, und was Sabolozkij hinter der Figur eines “Reisenden” versteckt, ist heute traurige Realität: Der Archipel Gulag ist weitgehend denkmallos in der Naturgeschichte verschwunden.

Ende der Neunzigerjahre erschien Samisdat des Jahrhunderts, eine voluminöse Sammlung jener in Sowjetzeiten zensurierten Literatur, die sich nach den Kriterien des Offiziösen nur sich selbst und nicht “uns” verpflichtet wusste und damit systemfeindlich war. Zwar gehört es mittlerweile fast zu den Gemeinplätzen über die neuere russische Literatur, dass nicht alles, was offiziell erscheinen konnte, schlecht, und nicht alles, was dem Underground entstammte, automatisch gut war, die reine Faktenhuberei mancher Erforscher der “anderen” Literatur aber hat verschwinden lassen, worum es drei Generationen anderer russischer Dichtung eigentlich ging: sich selbst, nur der eigenen Stimme und jener der Literatur verpflichtet zu wissen. Der nächste Schritt ist längst und flugs getan: Die andere Literatur, den Underground, hat es eigentlich gar nicht gegeben. Vorbei und reines Nichts, vollkommenes Einerlei. Der Großteil der in diesem Heft versammelten Autoren würde dem widersprechen, mancher auf der Erkennbarkeit eines “Who was who” in der russischen Literatur bestehen. Nach Metropole Moskau (Wespennest 107/1997) versuchen wir auch mit dieser Ausgabe einen Bogen durch die “andere” russische Literatur zu schlagen.

Published 1 October 2003
Original in German

Contributed by Wespennest © Wespennest Eurozine

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