Editorial "L'Homme" 1/2003

Gerade in einer Zeit, in der das Single Dasein und die Kohabitation anerkannte Lebensformen sind und die Ehe ihre vielhundertjährige Dominanz als ideale Form der Geschlechterbeziehung und legitimer Ort der Reproduktion nicht mehr halten kann, übt sie in zunehmendem Maße ein Faszinosum auf die Forschung aus. Die Debatten um Individualisierung räumen dem Lebenskomplex Ehe und Partnerschaft breiten Raum ein. Ausgangspunkt sind Befunde in zahlreichen Ländern Europas, die hohe Scheidungsraten, eine Zunahme der “Ehen ohne Trauschein” und den Anstieg der Einpersonenhaushalte festhalten. Individuelle Bedürfnisse, Entscheidungen und vor allem neue ökonomische Möglichkeiten für Männer und Frauen scheinen traditionsreiche Bindungen, wie es die Ehe unter religiösen und zivilrechtlichen Gesichtspunkten ist, entbehrlich zu machen. Dennoch ist dieser Befund keineswegs eindeutig. Die unterschiedlichen Signale, die diese Entwicklung kennzeichnet, lassen beide Sichtweisen zu: “Zerfall und Vergötzung von Ehe, Familie und Liebespartnerschaft” wurde dies genannt.”1 Der Scheidung folgt die Wiederverheiratung und Ehe ist in wachsendem Maße nicht mehr ausschließlich ein Ort heterosexueller Beziehungen. Single Haushalte nehmen zu, aber sind sie eine eigenständige Lebensform, oder nur ein Übergang, neuerlich zur Ehe?

Die Ehe steht im Interesse zahlreicher Wissenschaften, nicht zuletzt der Ethnologie, die insbesonders in den letzten Jahrzehnten die Geschichtswissenschaft stark beeinflusst hat. Die historische Analyse der Ehe als Teil der Struktur der Verwandtschaft und der Systeme der Allianz geht auf diese interdisziplinäre Beziehung zurück. Familiengeschichte, Rechtsgeschichte, Historische Demographie und zuletzt vor allem die Frauen- und Geschlechtergeschichte haben den Forschungsrahmen erweitert und die Fragestellungen differenziert. Welche Strukturierungskraft dem Heiratsverhalten beigemessen wird, zeigt der 1965 von Hajnal konzipierte “European Marriage Pattern”. Ein Heiratsmuster zweiteilt Europa, in einen westlichen Teil mit hohem Heiratsalter und hoher Ledigenrate und einen östlichen mit der gegenteiligen Charakteristik. Die lebhaften und kontroversiellen Diskussionen, die durch diese gedachte Linie zwischen Triest und St. Petersburg entstanden sind, die Modifikationen, die vorgeschlagen wurden, verweisen auf die Bedeutung, die der Ehe sozialhistorisch zugemessen wurde. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte hatte sehr schnell in der historischen Analyse der Ehe einen Knotenpunkt für die Asymmetrie der Geschlechterbeziehungen gefunden. Insbesonders mit der Eheschließung verloren Frauen zu bestimmten Zeiten in mehreren europäischen Ländern und über Europas Grenzen hinaus bürgerliche Rechte, wie das Recht der Verfügung über Eigentum. Nancy F. Cott hat in ihrem Band über die Geschichte der Ehe in den USA auf die Strukturierung von Gender durch die Institution Ehe verwiesen. “Turning men and women into husbands and wives, marriage has designated the ways both sexes act in the world and the reciprocal relation between them. It has done so probably more emphatically than any other single institution or social force.”2 Über diesen Aspekt des Paradigmatischen hinaus, gibt die Geschichte der Ehe einen Einblick in die politischen Interessen an dieser Institution, über deren Gestaltung gesellschaftliche Steuerungen vorgenommen werden sollten.

Das Rechtsinstitut der Ehe verweist im jeweils unterschiedlichen historisch-politischen Kontext auf den engen Zusammenhang zwischen Geschlechterdiskurs, Legitimation von Herrschaft und Institutionalisierung von Macht: Die politische Dimension der Kategorie Gender, ihr heuristischer Wert als “moderne Strukturkategorie” (Erna Appelt) ist am Beispiel der Ehe als konstitutives Element des Rechts- und Herrschaftsdiskurses unmittelbar zu fassen.

Herrschaft und Autorität definieren und konstituieren sich über religiöse, ethische und in der Folge rechtliche und politische Muster, zu deren Verfestigung sie ihrerseits auf dem Wege der Konsensstiftung beitragen: Die Entwürfe von Männlichkeit, Weiblichkeit, des “rechtmäßigen” Verhältnisses zwischen den Geschlechtern (und Generationen) bilden auf diese Weise kommunikative Grundbausteine des Diskurses vom Recht und dessen Umsetzung in “legitimierter” Herrschaftspraxis.

Der Kampf um die Ehe (als Sakrament beziehungsweise bürgerlicher Vertrag, als gesellschaftsstrukturierende Matrix) setzte über Jahrhunderte deren kirchliche beziehungsweise staatliche Institutionalisierung zur jeweiligen Herrschaftslegitimierung in Gang, die Definitionsmacht über die Ehe und deren rechtlich legitimierte Exekution bildeten in der säkularen europäischen Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat das entscheidende Herrschaftsinstrument, um welches erbittert gerungen wurde: Die Ehe geriet gewissermaßen zum Bodensatz, auf dem sich die modernen Prozesse von Staatsbildung und Säkularisierung vollziehen konnten.

Zugleich war mit diesen Prozessen die “Entfamilialisierung der Politik” verbunden. Die Transferierung der Macht von traditionalen feudalen Herrschaftsträgern auf die männlichen Familienoberhäupter des modernen Nationalstaats brachte mit dem entfamilialisierten Staat auch die “entpolitisierte”, das heißt aufs “Private” reduzierte Ehe und Familie hervor, die nun ihrerseits genderspezifisch differenzierte Handlungsräume von Öffentlichkeit und Privatheit schuf, rechtlich legitimierte und die moderne “Ordnung der Geschlechter” (Claudia Honegger) konstituierte.3

Diesen engen Zusammenhang von moderner Staatsbildung und Geschlechterdiskurs in der Entwicklung und Ausdifferenzierung von privatem (bürgerlichen) und öffentlichem (staatsbürgerlichen) Recht hat die feministische rechtshistorische Forschung – gerade über die Analyse des Rechtsinstituts Ehe – in den letzten Jahren deutlich herausgearbeitet, wenngleich die “allgemeine” rechtshistorische Wissenschaft von einer Rezeption dieses Ansatzes noch weit entfernt ist.

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte hingegen hat ihren Fragenraster an die Institution Ehe stark erweitert, wie Ellinor Forster und Margareth Lanzinger in einem Forschungsüberblick darstellen.

Benedetta Borello und Vilana Pilinkaite-Sotirovic behandeln in ihren Beiträgen Strategien des Aushandelns der Position von Ehefrauen im Rahmen des rechtlich Möglichen. Anhand von Trennungsprozessen des 17. Jahrhunderts vor der “Sacra Rota Romana” zeigt Borello wie dabei neben den Vorstellungen der Frauen von ihrer Ehre und dem legitimen Unterhalt immer auch der familiale, politische und soziale Kontext hereinspielte, dass etwa Prozesse oft erst aufgenommen wurden, wenn die Zusammensetzung der “Rota” mit der politischen Position der Familie zusammenpasste. Die katholischen Bäuerinnen Litauens akzeptierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar prinzipiell die nominelle Oberhoheit der Ehemänner, doch wird bei der Analyse der bei den Konsistorialgerichten mehrheitlich von Frauen eingereichten Klagen klar, so Pilinkaite-Sotirovic, dass sie Maßnahmen ergreifen konnten, wenn Männer ihrem Beitrag im landwirtschaftlichen Produktionsprozess nicht nachkamen. Heinrich R. Schmidt setzt sich mit dem Zusammenhang von Männer- und Staatsgewalt in der Geschichte der Ehe und der Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit auseinander. Die Ehekonflikte zeigen, wie markant der Staat ins Haus eingriff, wie kaum Immunität und staatsfreier Raum blieb und dieser Vorgang umgekehrt die Verfestigung von Staatsmacht vorantrieb. Die Monopolisierung der legitimen Gewalt beim Staat drängte die hausherrliche Gewalt nach und nach zurück.

Elisabeth Frysak zeigt, wie die bürgerlichen Frauenvereine Österreichs im ersten Jahrzehnt nach 1900 versuchten, einige damals knapp 100 Jahre alten Bestimmungen des Ehe- und Familienrechtes anlässlich einer “Reform des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches” zu ändern. Die Einführung der Zivilehe und damit das Recht der Scheidung für Katholiken, die Zulassung von Ehefrauen zur Vormundschaft, die Anerkennung der Ansprüche der Ehefrau auf die Verlassenschaft ihres Mannes und auf das während der Ehe gemeinsam erworbene Vermögen, die Vaterschaftsfeststellung und Alimentationszahlungen bei ledigen Kindern wurde mittels Petitionen gefordert -Instrumente, die für den damaligen Parlamentarismus zu stumpf waren. So sollte es noch bis in die 1970er Jahre dauern, bis tatsächlich große Änderungen des Familienrechtes erfolgten.

Im “Forum” finden sich diesmal Beiträge, die die rechtliche Situation von Ehefrauen in verschiedenen Ländern (Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland, England, Bulgarien) beziehungsweise Rechtskulturen kurz analysieren. Das Ehegüterrecht selbst ist ein großes Thema der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Eigentum und das Verfügen über Eigentum und Besitz, auch im Sinne des Weitervererbens gibt Möglichkeiten des Handelns und der Gestaltung von Beziehungen, inner- und außerhalb der Ehe. Gütergemeinschaft oder Gütertrennung führten hierbei für Frauen zu unterschiedlichen Folgen in Hinblick auf die Verfügung über Eigentum. Die Mitgift, eine klassische Form der Gütertrennung, nimmt in der Geschichte des Ehegüterrechts insoferne einen besonderen Platz ein, als sie nicht nur die ehelichen Beziehungen regelt, sondern auch jene der Tochter zu ihrer – die Mitgift beisteuernden – Herkunftsfamilie; über ökonomische Bedeutung verfügte sie nicht nur für das Ehepaar, sondern auch für jene Gesellschaft, in der sie Geltung hatte. Die Forschung hat sich zunächst insbesonders für die räumliche und zeitliche Verbreitung der Mitgift und ihres Gegenkonzeptes, des Brautpreises, der von den Eltern des Mannes entrichtet wird, interessiert. Das Dotalsystem gilt als frauenfreundlich, weil die Mitgift nie in das Eigentum des Ehemannes übergeht, sondern ihm nur die Nutzung zusteht. Im Falle von Trennung oder Witwenschaft fällt sie an Frauen zurück. Inwiefern der Gegensatz von Brautpreis und Mitgift auch in der praktischen Anwendung bestätigt wird, müssten Detailforschungen analysieren.4 Die Geschichte der Mitgift selbst, die im 20. Jahrhundert in Europa ihre Bedeutung verloren hat, ist vor allem für Italien, Frankreich und Griechenland umfänglich und innovativ untersucht worden.5 Hingegen gibt es zahlreiche Lücken für andere Teile Europas, wo die Mitgift auch eine geringere Bedeutung gehabt haben mag. Um das abzuklären, sind vergleichende Analysen nötig. Meist wird ja bei kursorischen rechtshistorischen Rückblicken bei den ersten Rechtsvereinheitlichungen eingesetzt, wie etwa dem “Preußischen Allgemeinen Landrecht” von 1794, dem “Code Civil” von 1804, dem “Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch” von 1811, dem italienischen “Codice Civile” von 1865, dem “Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch” von 1900, die nicht zufälligerweise mit der Durchsetzung des Territorialstaates in Zusammenhang stehen.

Die Beiträge von Manuela Martini, Anna Bellavitis, Margret Friedrich und Susanne Lepsius setzen bei der Situation der Ehefrauen vor diesen Kodifizierungen ein und zeigen die Unterschiedlichkeiten der älteren Rechtstraditionen. Diese Kodifizierungen bedeuteten zugleich immer auch eine Vereinheitlichung der Rechte oder Pflichten von Ehefrauen, weshalb es meist zu Widersprüchen zu den sozial noch heterogen geprägten Lebensrealitäten kam. Das Ausmaß des Widerstandes dagegen, das offensichtlich jahrzehntelange bloße Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen dieser Kodifizierungen, ist in den wenigsten Ländern erforscht. In der Darstellung Strettons wird die englische Rechtstradition fassbar. Verheiratete Frauen hatten im “Common Law” nur wenige Rechte, doch dies kam bei der Vielzahl von zuständigen Rechtssprechungen gar nicht immer zur Anwendung. Ob die durch das Parlament im Laufe des 19. Jahrhunderts hinzugefügten Änderungen insgesamt eine Verbesserung eintrat, wie man lange glauben wollte, wird neuerdings nicht mehr so eindimensional gesehen. Tzetvana Bonceva und Anelia Kasabova-Dintcheva arbeiten in ihrem Beitrag über Bulgarien heraus, wie bereits bei der Sammlung bulgarischer Rechtsaltertümer im ausgehenden 19. Jahrhundert national passende Vorstellungen der “Zadruga”-Familie in die Quellenaufbereitung einflossen. Daher wurde bis in die semantische Ebene hinein oft von einem Brautpreis gesprochen, weil die Mitgift nicht zum Nationalisierungskonzept passte, die Kodifizierung eines Zivilrechtes unter dem Einfluss des “Codice Civile” dann als “Zerrüttung der Familie” interpretiert. Ein Beispiel dafür, wie die Aspekte der Rechtsmodernisierung, des Nationalismus und des Ehegüterrechtes miteinander verknüpft sind.

Die Geschichte der Ehe, ein großes Thema nicht nur der Frauen- und Geschlechtergeschichte, beschäftigt in den letzten Jahren verstärkt die Forschung. Auf die Vielfalt der sozialgeschichtlichen, anthropologischen, rechts- und diskursgeschichtlichen Erörterungen hinzuweisen, ist das Ziel dieses Heftes.

Ulrich Beck u. Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a .M. 1990, 225.

Nancy F. Cott, Public Vows. A History of Marriage and the Nation, Cambridge Mass. 2000, 3.

Vgl. Erna Appelt, Geschlecht, Staatsbürgerschaft, Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa, Frankfurt a. M./New York 1999, 48f. Vgl. zur Problematik auch Ursula Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft, in: Ute Gerhard Hg., Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, 265-292.

Zur sozialanthropologischen Diskussion vgl. Jack Goody u. S.J. Tambiah, Bridewealth and Dowry, Cambridge 1973; Marion A. Kaplan Hg., The Marriage Bargain: Women and Dowries in Eropean History, New York 1985.

Vgl. das Themenheft "Femmes, Dots et Patrimoines", hg. von Angela Groppi, in: Clio Histoire, Femmes et Societe, 7 (1997).

Published 24 September 2003
Original in German

Contributed by L'Homme © L'Homme Eurozine

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