Die zwei Körper der Julia Timoschenko

Julia Timoschenko ist ein politisches Phänomen – selbst für die turbulenten Verhältnisse im post-kommunistischen Osteuropa sind ihr kometenhafter Aufstieg als Geschäftsfrau, der triumphale Einzug in die Politik und das nachfolgende Drama der kriminellen Strafverfolgung und Inhaftierung einzigartig. Ende der 1980er-Jahre gründete sie einen Videoverleih, den sie unter Zuhilfenahme der Verbindungen ihres Ehemannes zu einem Geschäftsimperium aufbaute. Zehn Jahre später ging sie wie viele andere ukrainische Unternehmer in die Politik, um eigene Geschäftsinteressen zu wahren. Einmal ins ukrainische Parlament gewählt, schloss sie sich bald der Opposition gegen Präsident Kutschma an. Nachdem der sie 2001 aus dem Amt der stellvertretenden Ministerpräsidentin mit dem Ressort Energiepolitik entlassen hatte, wurde sie angeklagt und verbrachte 42 Tage in Untersuchungshaft – ein Umstand, den sie später nutzte, um sich als Opfer des Regimes Kutschma darzustellen. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004 unterstützte Timoschenko den Kandidaten Viktor Juschtschenko und wurde damit zur weiblichen Ikone der Orangen Revolution. Ihre Auftritte in jener Zeit bedienten ein breites Spektrum kultureller Assoziationen: von der Marianne der ukrainischen Revolution und der Kämpferin gegen dunkle Mächte bis hin zur traditionsbewussten Mutter der Nation, einem Sinnbild für Keuschheit, Zärtlichkeit und Liebe. Mit ihrem goldblonden Zopf, der an einen Heiligenschein ebenso erinnert wie an eine Krone und der zum wichtigsten Markenzeichen in der ukrainischen Politik geworden ist, enterte Julia Timoschenko die Cover der Hochglanzmagazine und die Fernsehschirme. In ihrer Aufmachung als Polit-Star setzte sie darauf, die ukrainische und die internationale Öffentlichkeit weniger zu überzeugen als zu verführen.

Juschtschenko ernannte sie zur Ministerpräsidentin; jedoch fanden die politischen Flitterwochen ein jähes Ende, als die Orange Koalition zerbrach und Timoschenko nach einem halben Jahr wieder entlassen wurde. 2007 kehrte sie ins Amt zurück und konnte ihre Stellung trotz grundlegender Meinungsverschiedenheiten mit dem Präsidenten erfolgreich verteidigen, auch wenn der Konflikt zu einer dauerhaften Blockierung der politischen Lage führte und die demokratischen Reformen im Land aufs Spiel setzte. 2010 trat Timoschenko bei den Präsidentschaftswahlen gegen Viktor Janukowitsch an und verlor nur knapp. Ein Jahr später wurde sie wegen “Amtsmissbrauchs” und der Veruntreuung von Staatsgeldern vor Gericht gestellt, wobei es um im Jahr 2009 ausgehandelte Gaslieferverträge mit Russland ging; nach zwei Monaten der Beweisaufnahme wurde sie wegen “Missachtung des Gerichtes” noch im Verhandlungssaal festgenommen. Im Oktober 2011 wurde sie schließlich schuldig gesprochen und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Im Dezember desselben Jahres erfolgte eine weitere Anklage. Eine neue Untersuchung habe den Verdacht der Steuerhinterziehung ergeben, zudem gebe es Hinweise auf den Diebstahl von Steuergeldern durch die Vereinten Energiesysteme der Ukraine (EESU), eine Gesellschaft, der Timoschenko von 1996 bis 2000 vorstand. Im Januar 2013 teilte man ihr offiziell mit, sie stehe unter Verdacht, den Mord an einem Geschäftsmann aus Donetsk, Jewhen Schtscherban, und dessen Frau in Auftrag gegeben zu haben.

Seit ihrer Verhaftung spaltet der Fall Timoschenko die ukrainische Gesellschaft. In den Augen westlicher Beobachter gilt er als Musterbeispiel für Justizwillkür und politische Unterdrückung. Während ihrer Inhaftierung trat Timoschenko mehrfach in den Hungerstreik, um gegen ihre politisch motivierte Verurteilung und später auch gegen Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2012 zu protestieren. Seit Haftbeginn beklagt sie ihren schlechten Gesundheitszustand. Da sie unter lähmenden Rückenschmerzen leide, weigerte Timoschenko sich, an weiteren Gerichtsverhandlungen gegen sie teilzunehmen; sie beschwerte sich mehrfach, körperlich misshandelt worden zu sein und drückte sogar Sorge um ihr Leben aus. Nicht zuletzt aus diesem Grund lehnte sie eine Behandlung durch ukrainische Gefängnismediziner ab und appellierte an den Westen, eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. Im Februar 2012 wurde Timoschenko von drei kanadischen und zwei deutschen Ärzten untersucht, die jeweils bestätigten, dass die Patientin schwer erkrankt sei und unter Haftbedingungen nicht adäquat versorgt werden könne. Während Timoschenkos Unterstützer die Fotos ihrer Blutergüsse im Internet veröffentlichten, ließen die ukrainischen Behörden Bildmaterial aus gefängniseigenen Videokameras durchsickern, auf dem die angeblich so schwerkranke Oppositionsführerin sich behände durch ihre Zelle bewegt und leidenschaftlich ihren Anwalt umarmt. Timoschenko selbst bezeichnete die Videos, die auch im ukrainischen Staatsfernsehen liefen, als Fälschung. Ihre Familie und ihre politischen Verbündeten betonten, dass die dauerhafte Videoüberwachung einer Verletzung der Privatsphäre gleichkomme und ein politisches Druckmittel sei.

Dalia Grybauskaite, President of Lithuania, visits Tymoshenko at the hospital in Kharkiv. Photo: Dzoja Gunda Barysaite. Source:The official website of the President of the Republic of Lithuania

Folglich tritt Timoschenkos Körper nun zum zweiten Mal auf der politischen Bühne in Erscheinung, diesmal in der Opferrolle. Ihr körperlicher Zustand und ihre gesundheitlichen Probleme, die wechselnden Symptome und widersprüchlichen Diagnosen werden immer wieder zum Gegenstand der Debatte zwischen ukrainischen und westlichen Ärzten, Anwälten, Politikern und Journalisten. Timoschenkos Körper ist selbst zum Austragungsort politischer Kämpfe geworden: festgesetzt, minutiös beobachtet und geschunden symbolisiert er nicht nur den Zustand der Opposition, sondern der ukrainischen Gesellschaft insgesamt; längst ist die Nation zur Geisel des “kriminellen Regimes” von Präsident Janukowitsch geworden.

Dieser Essay will die ukrainische Politik der Post-Sowjet-Ära und das Dilemma von Demokratisierung und europäischer Integration aus einer bestimmten Perspektive erkunden, in Bezug auf die Rolle nämlich, die Julia Timoschenkos Körper in der ukrainischen Politik einnimmt. Dabei ist die Metapher von den zwei Körpern der Julia Timoschenko selbst mehrdeutig: Zum einen unterscheide ich zwischen dem physischen und dem politischen beziehungsweise symbolischen Körper. Zum anderen möchte ich Timoschenko-1, populäre Ministerpräsidentin und Polit-Star, dessen Auftritte die traditionellen Werte und kapitalistischen Sehnsüchte der Ukrainer auf sich vereint, die Figur Timoschenko-2 gegenüberstellen, inhaftierte Anführerin der politischen Opposition, deren weggesperrter, misshandelter Körper selbst zu einer Bühne wurde, auf der sich das Drama der verhinderten ukrainischen Demokratie abspielt – vor allem vor den Augen eines westlichen Publikums.

Der vergeschlechtlichte Körper im postmodernen Politikspektakel

Der Titel meines Essays spielt auf Ernst Kantorowiczs viel zitierte Publikation Die zwei Körper des Königs an. Der Mediävist Kantorowicz beschreibt darin, wie der natürliche Körper des Königs mit physischen Attributen belegt und dem Leiden und Sterben unterworfen war wie der eines jeden menschlichen Wesens, während sein anderer, spiritueller Körper die Macht der Monarchie symbolisierte und somit den irdischen überdauerte. Diese körperliche Dimension der Macht existiert in einer Demokratie nicht mehr, erwacht in autoritären und totalitären Regimes jedoch zu neuem Leben. Der US-Anthropologe Alexei Yurchak hat den sowjetischen Kult um Wladimir Lenin untersucht und kommt zu dem Schluss, Lenins konservierter Körper und seine Zurschaustellung in einem öffentlichen Mausoleum habe bei der Legitimation der sowjetischen Politik eine wichtige Rolle gespielt.
Neuere Studien zu Populismus und politischem Starruhm verweisen entsprechend auf die Rückkehr des Körpers (des weiblichen und des männlichen) in seiner symbolischen Dimension in die moderne Politik. Eine von Helena Goscilo editierte Textsammlung zeigt auf, wie das äußere Erscheinungsbild von Präsident Putin und die medialen Inszenierungen desselben seine Popularität merklich steigern konnten und ihn zur kulturellen Ikone eines neuen russischen Männlichkeitsbegriffes beförderten: “Eine von Putins Innovationen … bezieht sich auf die Frage der männlichen Sexualität, was für den Vater der Nation vor Putins Amtsantritt undenkbar gewesen wäre … Putin präsentiert sich als Musterbeispiel für Fitness und Gesundheit und spricht damit Frauen ebenso an wie Männer. Einige der Fotos, die der Öffentlichkeit bereitwillig zur Verfügung gestellt wurden, zeigen einen fröhlich und mit nacktem Oberkörper posierenden Putin, der seine wohldefinierten Muskeln als visuelle Manifestation von Männlichkeit zur Schau stellt.”1

Während diese neuen Tendenzen sich in Putins Fall einem autoritären Personenkult aus der stalinistischen Vergangenheit Russlands zurechnen lassen, sind ähnliche Phänomene in westlichen Demokratien normalerweise das Ergebnis einer Verquickung von Politik und Populärkultur, die einen neuen Stil politischer Kommunikation hervorbringt: “Die Werbung definiert (durch ihre Konventionen) letztendlich die politische Kommunikation. Politiker werden zu Stars und die Politik zu einer Abfolge spektakulärer Ereignisse, inszeniert zur Unterhaltung eines bürgerlichen Publikums.”2

Feministische Politikwissenschaftlerinnen weisen darauf hin, dass der weibliche Körper bei der Repräsentation von Macht eine ambivalente Rolle spielt. Elza Ibroscheva und Maria Raicheva-Stover beobachten in einer Studie zu den bulgarischen Parlamentswahlen im Jahr 2005 beispielsweise, dass “die Berichterstattung über Kandidatinnen durch das Prisma der Geschlechterstereotypen gebrochen wird, was wiederum den bestehenden Trend zur postkommunistischen Maskulinisierung der Demokratie verstärkt”.3 Ihrer Analyse zufolge “behandeln die Medien alles Politische als eine Männerdomäne und stellen Politikerinnen als Ausnahme und den bestehenden Geschlechterklischees entsprechend dar”. Diese feministische Kritik, die auf die stereotype und verzerrte Darstellung von Frauen abzielt, kann jedoch nicht erklären, warum manche Politikerinnen selbst unter eher maskulinen, sexistischen Rahmenbedingungen so populär werden können. Im Gegenteil, manche Politikerinnen scheinen von den Mechanismen noch zu profitieren, wie Julia Shulga in einer Studie über Julia Timoschenko schreibt: “Der weibliche Körper kann als effektives Mittel der politischen Machtdemonstration eingesetzt werden, da seine visuellen Charakteristika – wie zum Beispiel Kleidung, Styling und Haltung – sich den männlichen gegenüber durch ein größeres Spektrum auszeichnen und daher weitreichendere Möglichkeiten der politischen Kommunikation eröffnen.”4

Timoschenko-1: glamouröser Körper, Polit-Star und Populistin der Post-Sowjet-Ära

Als eine der Anführerinnen der Orangen Revolution und spätere Ministerpräsidentin beeindruckte Julia Timoschenko die Gender-Experten durch ihre Fähigkeiten zu Selbstentwurf und Selbstinszenierung als politische Ikone. Marian Rubchak bemerkte als Erste, dass Timoschenko sich mit dem traditionellen Haarzopf ukrainischer nationalistischer Codes bediente, indem sie das Bild der Bereginia heraufbeschwor, einer heidnischen, slawischen Göttin, Schutzpatronin nicht nur der Familie, sondern der ganzen Nation.5 Rubchak wies darauf hin, dass Timoschenko erfolgreich den ukrainischen Mythos von der mütterlichen Macht instrumentalisierte, der tief in der ukrainischen Gesellschaft verankert ist. Dennoch reichen ethnografische Aspekte allein nicht aus, um eine Politikerin in einem post-sowjetischen Staat, dessen Bevölkerung sich nach internationalen Konsumstandards sehnt, zu einem politischen Star zu machen. Timoschenkos Innovation bestand aus einer einzigartigen Mischung von Tradition und Moderne, in der sich nationale Archetypen mit weltweit gültigen Klischees kosmopolitischer Mode vermischten – Schuhe mit hohen Absätzen und ein Mantel von Louis Vuitton kombiniert mit einem traditionell bestickten Tuch.6 Brian James Baer spricht in diesem Zusammenhang von post-kommunistischer bricolage, die die “nachrevolutionär aufgeheizte Stimmung und die semiotische Verunsicherung der post-sowjetischen Gesellschaft” widerspiegele.7

Die Lemberger Feministin und Wissenschaftlerin Oksana Kis erklärt Julia Timoschenkos politische Erfolge mit dem Instinkt zur geschickten Kombination der beiden vorherrschenden Modelle normativer Weiblichkeit in der Ukraine, mit Bereginia und Barbie, die einem nationalen beziehungsweise kosmopolitischen Ideal von Weiblichkeit entsprächen: “Eine Frau, die in der ukrainischen Politik Karriere machen will, muss mindestens zwei Rollen ausfüllen: Als Bereginia soll sie die tugendhafte Landesmutter sein, als Barbie das nationale Sexsymbol.”8 Wenn Bereginia die früher verbotene Ideologie des ukrainischen Nationalismus verkörpert, steht Barbie für eine westliche Konsumorientierung und marktgesteuertes Streben nach Mode und Schönheit. Aus feministischer Perspektive schränken beide Rollenmodelle in ihrer Starrheit jedoch die politische Handlungsfähigkeit der Frau ein, die in jedem Fall dienen muss – “einmal dem Mann, einmal dem patriarchalisch organisierten Nationalstaat”.

Und in der Tat tritt Timoschenko im Vergleich zu westlichen Politikerinnen wie Angela Merkel oder Hillary Clinton aggressiv weiblich auf. Natalia Matamoros zufolge verrät Timoschenkos Ansatz, anders zum Beispiel als der höchst angepasste, geschäftsmäßige Kleidungsstil einer Hillary Clinton, eine traditionelle ukrainische Vorstellung von der ausgesprochen weiblichen Gestaltung von Kleidung und Frisur: “Die Anzahl der Schmuckelemente ihrer Kleidung ist erstaunlich, ebenso die Wahl erlesener Stoffe und auffälliger Farben. Timoschenkos Stil ist ‘explizit unmännlich’, ihre ‘Unterscheidung vom Mann’ wird durch die vielen überfemininen Details ihrer Kleidung noch hervorgehoben. Selbst zu einer schlichten Armeejacke … würde sie immer einen Rock tragen, niemals Hosen.”9

Dennoch ist diese “explizite” Weiblichkeit in der männlich geprägten Welt der Politik nicht notwendigerweise ein Signal der Unterordnung. Im Gegenteil, Timoschenkos äußere Erscheinung passt zu ihrem Stil der politischen Kommunikation, der eher auf Gefühle und Emotionen abzielt als auf rationale Argumente. Sie setzt auf Verführung statt Überzeugung. Nicht zufälligerweise schwingt in dem Kürzel für ihre Partei “Block Julia Timoschenko” BJuT das Wort beauty mit, verwendet auch in einem ihrer Wahlkampfslogans, der sich auf einen oftmals missverstandenen Satz Fjodor Dostojewskis bezog: “Schönheit wird die Welt retten!”

“Schönheit” ist natürlich ein soziales und kulturelles Konstrukt. In der Tradition der russischen Klassiker (die sich in der Sowjetliteratur nur teilweise fortgesetzt hat) ist weibliche Schönheit in der Regel ein Ausdruck des reichen Innenlebens einer Frau und ihrer spirituellen Qualitäten; sie ist das Ergebnis einer seelischen Entwicklung, der oftmals großes Leid voranging. Timoschenko war sich dieses kulturellen Musters durchaus bewusst, als sie ihr Martyrium unter dem Kutschma-Regime 2001 thematisierte. Ihre Verwandlung von der “kranken, blassen, schwachen Frau – eine heilige Märtyrerin, das Opfer einer korrupten Justiz … in eine entschlossene, mächtige, schöne Dame von Welt”10 passte dazu. Ihre Schönheit wurde als Nachweis ihrer moralischen Integrität betrachtet, ihrer Keuschheit und spirituellen Reinheit, was ihre antagonistische Haltung zum korrupten Regime und zur schmutzigen Welt der Männerpolitik noch unterstrich.

Gleichzeitig meint “Schönheit” in der post-sowjetischen Ukraine immer auch “Glamour”. Helena Goscilo und Vlad Strukov zufolge bezeichnet “Glamour” in Russland (und überhaupt im post-sowjetischen Raum) weitaus mehr als den augenfälligen Konsum der “Neureichen”: “Als Nebenprodukt der Konsumkultur ist Glamour in Russland zu einer neuen Utopie avanciert, die sowohl die überholten sowjetischen Entwürfe von einer besseren Zukunft als auch die ersten Visionen einer Demokratie, wie sie Anfang der 1990er aufschienen, ersetzt hat. Glamour ist nicht nur eine flüchtige Laune, ein Wirtschaftsphänomen, sondern das Ideal einer sozialen Struktur, wie sie von Putins Regime verbreitet und gefördert wird. So wie die alten sowjetischen Bestrebungen zielt die Glamour-Utopie darauf ab, ein neues Wesen zu erschaffen, den homo glamuricus, der den homo sovieticus ersetzen soll; so entsteht eine neue, bourgeoise Mittelschicht, deren Ideologie und Geschmack gleichermaßen standardisiert sind.”11

Timoschenkos glamouröser Körper zeigt natürlich, dass die Wurzeln der politischen Klasse in der Ukraine, die praktisch über Nacht aus den Ruinen der Sowjetökonomie erwuchs und ihr hohes soziales Ansehen nur durch zweifelhaft angehäuften Reichtum gewann, nicht allzu tief sind. In der post-sowjetischen Ukraine ist Glamour zu einer Form des sozialen Kapitals geworden (Bourdieu), das die neue soziale Ordnung legitimiert. Mehr noch, die allfällige Sichtbarkeit der Glamourkultur und der unverhohlene Konsumwille der politischen Klasse bezeugt eine natürlich gewachsene Verbindung zur Oligarchie. Um es noch direkter zu sagen: Glamour ist die Quasi-Ideologie des “übernommenen” Staates, der manchmal auch als “Ukraine Ltd.” bezeichnet wird; Glamour bescheinigt der Gesellschaft die Abwesenheit von Politik im Weber’schen Sinne – als autonome Sphäre von politischen Akteuren.
Aber Glamour, wie Goscilo und Strukov ihn oben beschreiben, ist nicht nur die Kultur der Reichen, sondern eine populäre Utopie, die als relativ neue Erscheinung eng mit dem post-sowjetischen Populismus verknüpft ist, der einzigen Demokratieform, die für die Ukrainer nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfügbar war. Im Westen klingt das Wort Populismus wie ein Schimpfwort, verkörpert es doch den Niedergang der repräsentativen Demokratie. Aus post-sowjetischer Perspektive jedoch kann Populismus durchaus als erster Schritt hin zu demokratischen Verhältnissen gesehen werden, worauf auch Francisco Panizza hinweist: “Populismus ist mehr als nur eine Krise der repräsentativen Demokratie, in der Menschen ihre alte Identität ablegen und eine neue, ‘populäre’ annehmen. Es geht dabei auch um den Anfang von Repräsentation, wenn jene, die aufgrund ihrer Klasse, Religion, Ethnie oder ihres Wohnortes noch nie vertreten wurden, erstmals politische Teilhabe erfahren können.”12

Die Orange Revolution in der Ukraine war eine populistische Bewegung, die einer großen Menschenmasse das Gefühl der politischen Teilhabe vermittelt hat, die ihre Ziele jedoch verfehlte aufgrund des Mangels an stabilen demokratischen Institutionen, Strukturen und Instrumenten öffentlicher Kontrolle. Politischer Wettkampf und Pressefreiheit allein reichten nicht aus, die Korruption zu besiegen; ohne funktionierende demokratische Institutionen waren die politischen Reformen dazu verurteilt, im Populismus unterzugehen.

Julia Timoschenko wurde oft die “Königin des ukrainischen Populismus” genannt. Aber das Bild von der glamourösen Prinzessin entsprach nicht ganz der klassischen Definition des Populisten, der sich Zustimmung sichert dadurch, dass er sich “als Führungsperson kulturelle Elemente einverleibt, die in den Augen der dominanten Kultur gemeinhin als Marker der Unterlegenheit gelten”.13 Timoschenko versprach jedem einzelnen Gerechtigkeit, Liebe und Fürsorge, sie bezog die Alten und die Armen mit ein und trat gleichzeitig als wunderschöne, gepflegte Dame auf, die nicht einmal versuchte, den Wert ihrer Designerkleidung zu verstecken. Im Gegenteil, ihr glamouröser politischer Körper stand im Zentrum des politischen Spektakels der Orangen Revolution. Wie kann eine populistische Politikerin in einem Land mit einem Durchschnittseinkommen von weniger als hundert Dollar im Monat Louis Vuitton tragen? So lautete die oft gestellte Frage westlicher Journalisten. Die Antwort ist ganz einfach: Glamour als “Opium für das Volk”14 macht einen elementaren Teil des post-sowjetischen Populismus aus.

Timoschenko-2: der geschundene Körper, die gelähmte Opposition und die defizitäre Demokratie der Ukraine

Im Mai 2011, ein Jahr, nachdem sie die Präsidentschaftswahlen gegen Viktor Janukowitsch verloren hatte, wurde Timoschenko wegen “Amtsmissbrauchs” angeklagt und im August desselben Jahres noch im Gerichtssaal verhaftet. Auch gegen ein Dutzend früherer Minister ihres ehemaligen Kabinetts wurden Verfahren eingeleitet, alles im Zuge einer Kampagne, die von Präsident Janukowitsch als “Kampf gegen die Korruption” bezeichnet, von der ukrainischen Opposition hingegen als “politische Verfolgung” gebrandmarkt wurde. Schon bald nach ihrer Verhaftung beschwerte Timoschenko sich über mehrere Hämatome und verlangte nach ihrem Hausarzt, der ihr Blut abnehmen solle; manche Vertreter des BJuT fürchteten, sie könnte vergiftet werden, so wie es Viktor Juschtschenko 2004 passiert war. Wenige Wochen später setzten starke Rückenschmerzen bei Timoschenko ein; medizinische Untersuchungen in einer Privatklinik in Kiew deuteten auf einen Bandscheibenvorfall hin. Da sie vor Schmerz unbeweglich sei, weigerte Timoschenko sich, dem Gerichtsverfahren gegen sie beizuwohnen, außerdem beklagte sie, körperlich misshandelt worden zu sein. Mit Timoschenkos medizinisch untermauertem Boykott konfrontiert, begingen die Behörden taktische Fehler, die dem Image des Präsidenten nachhaltigen Schaden zufügten. Zum Beispiel ordnete das Gericht für den 8. Dezember eine Anhörung in Timoschenkos Zelle an, während derer die Angeklagte unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln bewegungsunfähig im Bett lag. Dieser Vorgang wurde von vielen ukrainischen und internationalen Beobachtern als Verstoß gegen die Menschenrechte bewertet.

Das körperliche und moralische Leid der inhaftierten Timoschenko, das zweifellos nicht gespielt ist, wurde von der ukrainischen Opposition als Folter durch das repressive Regime von Präsident Janukowitsch angeprangert, der sich persönlich an Timoschenko rächen wolle. Während der Präsident öffentlich versicherte, Timoschenko werde gemäß “europäischer Standards” medizinisch betreut, äußerte sich ihr Anwalt Sergej Wlasenko zutiefst besorgt um Julias Sicherheit, denn “Janukowitsch braucht sie nicht lebend”. Dass Timoschenkos Martyrium großes Medieninteresse erregte, hatte gerade während der ersten Monate ihrer Inhaftierung einen höchst mobilisierenden Effekt – in den Straßen von Kiew versammelten sich regelmäßig Tausende von Demonstranten, um die verhaftete Oppositionsführerin zu unterstützen. Am 27. November, Timoschenkos Geburtstag, wurde in den griechisch-katholischen und ukrainisch-orthodoxen Kirchen des Landes für die Gefangene gebetet. Im Dezember 2011 blockierten Abgeordnete des BJuT das ukrainische Parlament mit dem Spruchband “Janukowitsch, bring Julia nicht um!” und forderten die Freilassung ihrer Anführerin.

Am 30. Dezember 2011 wurde Timoschenko in das Frauengefängnis Katschanowka in Charkiw an der ostukrainischen Grenze zu Russland verlegt. Eine der Motivationen der Behörden war, sie aus Kiew zu entfernen, wo sie weiterhin das Interesse der Medien auf sich zog, eine bedeutende Anzahl von Unterstützern hatte und von ausländischen Diplomaten besucht werden konnte. In dieser Situation machte Timoschenko ihren drastisch sich verschlechternden Gesundheitszustand und die ihr zugefügten körperlichen Misshandlungen öffentlich, um das Medieninteresse lebendig zu halten. Sie lehnte eine Behandlung durch offizielle Gefängnisärzte ab und verlangte eine unabhängige medizinische Untersuchung. Im Februar 2012 wurde sie von drei kanadischen und zwei deutschen Ärzten besucht, die sie untersuchen durften und zu dem Schluss kamen, Timoschenko sei “schwer krank”, sie leide Schmerzen und bedürfe “toxikologischer und anderer Laboruntersuchungen”. Als im April 2012 in Charkiw ein weiterer Prozess gegen sie eröffnet wurde, in dem es um vermeintliche Unterschlagung von öffentlichen Geldern durch die Vereinten Energiesysteme der Ukraine ging, weigerte sie sich unter Hinweis auf ihre Gesundheit, persönlich teilzunehmen. Indem sie ihren Zustand benutzte, um das Gericht zu brüskieren und sich gleichzeitig konsequent jeder Behandlung entzog, machte Timoschenko ihren Körper zu einer politischen Waffe, mit der sie die Pläne ihrer politischen Feinde effektiv durchkreuzen konnte.

Am 19. April 2012 wurde Timoschenko gegen ihren Willen von der Strafkolonie in eine Klinik in Charkiw gebracht, wo sie in den Hungerstreik trat, um gegen die Haftbedingungen und körperliche Misshandlungen zu protestieren. Einige Tage später besuchte die ukrainische Ombudsfrau Nina Karpatschowa die Gefangene und dokumentierte Hämatome an Bauch und Armen, die von Schlägen stammten. Fotos von Timoschenkos Blutergüssen erschienen in ukrainischen und internationalen Medien und sorgten für einen internationalen Aufschrei; in der Ukraine wurde die “Misshandlung der Julia Timoschenko” von oppositionellen Journalisten als Tabubruch und als Beweis für die moralische Verkommenheit des herrschenden Regimes gewertet. Präsident Janukowitsch musste einen weiteren Imageverlust einstecken. Im Mai 2012 tauchten im Internet neue Fotos der leidenden, unbeweglichen Timoschenko auf, blass und mager nach dem Hungerstreik. Die Bilder waren während des Besuchs der litauischen Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite im Krankenhaus entstanden.15 Die Reaktion des Janukowitsch-Regimes auf Timoschenkos Schachzug war recht vorhersehbar. Die ukrainische Justiz und die präsidentenfreundlichen Medien stritten ab, dass sie überhaupt unter gesundheitlichen Problemen oder körperlichen Misshandlungen leide. Darüber hinaus unternahmen sie den Versuch, Timoschenko zu diskreditieren, indem sie den Aufenthalt in der Strafkolonie und später im Krankenhaus als Luxusurlaub darstellten, der für die meisten Ukrainer unerschwinglich sei. Timoschenkos Sonderstatus als Glamour-Gefangene, als Berühmtheit im Fokus der öffentlichen Meinung, die täglich Besucher empfängt und ihren luxuriösen Lebensstil selbst im Gefängnis aufrechterhalten kann, wurde in einem Cartoon auf die Spitze getrieben, in dem die Gefangene in die Sauna und zum Sport geht und sogar Drogen konsumiert, während ihre Mitgefangenen hart arbeiten müssen.16
Indem sie Timoschenkos Star-Image und das Bild ihres “glamourösen” Körpers gegen sie verwendeten, machten sich Timoschenkos politische Gegner die Schattenseiten ihres Populismus zunutze – Neid und Schadenfreude. Ermüdet von Timoschenkos Verhandlung und genervt von ihren öffentlichen Beschwerden entzogen ihr nicht wenige Ukrainer ihre Sympathien. Im April 2012 erschien ein Interview mit Timoschenkos ehemaliger Zellennachbarin in den ukrainischen Medien, das das Alltagsleben im Frauengefängnis in allen Details schilderte. Nach Aussage von Julia Abaplowa werde Timoschenko rund um die Uhr medizinisch versorgt; sie sitze mehrere Stunden täglich am Tisch, um zu arbeiten, und nehme auch an den Fitnessübungen teil. Beide Frauen hätten sich köstliche Delikatessen geteilt, die Timoschenko von Verwandten und Unterstützern ins Gefängnis geschickt wurden. Sowohl Timoschenko als auch ihr Anwalt wiesen das Interview zurück; Timoschenko zufolge sei die Zellennachbarin erpresst, unter Druck gesetzt und zur Falschaussage gezwungen worden. Timoschenkos Anwalt Sergej Wlasenko veröffentlichte einen Brief, den Abaplowa angeblich im März 2012 geschrieben habe und in dem sie zugab, von der Gefängnisverwaltung genötigt worden zu sein; er betonte, Timoschenkos Sicherheit sei nicht gewährleistet. Abaplowa behauptete später, Timoschenko habe ihr den Brief selbst diktiert.
Als weiteres Beispiel für schwarze Propaganda durch die ukrainischen Behörden kann die absichtliche Veröffentlichung von Videoaufnahmen im April 2012 gelten, die Julia Timoschenko im Dezember 2011 in ihrer Zelle in Kiew zeigen. Im Video läuft die Inhaftierte in ihrer Gefängniszelle in High Heels herum, obwohl sie doch angegeben hatte, unter starken Rückenschmerzen zu leiden; am Ende der Aufzeichnung umarmt sie ihren Anwalt Sergej Wlasenko lange und leidenschaftlich. Das Video wurde sowohl von Wlasenko als auch von Timoschenko als Fälschung bezeichnet. Ein weiteres im Internet aufgetauchtes Video, das Timoschenko im Oktober 2012 im Krankenhaus und während einer Fitnessübung zeigt, wurde von ihr ebenfalls als Fälschung und Provokation zurückgewiesen.17

Die Frage der Videoüberwachung wurde zum Gegenstand der nächsten Debatte, die das politische Leben im Land auf Monate hin prägte. Timoschenko beschwerte sich darüber, dass ihre Zelle rund um die Uhr hell erleuchtet sei und darüber hinaus extensiv abgefilmt werde, was sie und ihre Unterstützer als “Folter” bezeichnen. Timoschenko argumentierte, besonders die Videokameras im Duschbereich und in der Toilette stellten eine Verletzung ihrer Privatsphäre dar. Vertreter der Justizbehörde bestritten die Existenz der Videokameras zunächst, räumten aber später ein, die Geräte seien installiert worden, “um Timoschenkos Leben und Gesundheit zu schützen”.

Ganz offensichtlich war die Videoüberwachung eines der letzten Mittel zur Ausübung psychologischen Drucks, die dem Regime Janukowitsch im Fall Timoschenko noch blieben – nicht nur, weil jede Frau sich durch den Blick des (männlichen) Voyeurs missbraucht und gedemütigt fühlen muss, sondern auch, weil die Videoaufzeichnungen reiches Material hergaben für Propagandamaßnahmen zur Diskreditierung der Oppositionsführerin. Trotz Strafverfolgung, Inhaftierung und Verbannung aus allen öffentlichen Ämtern hat Timoschenkos Körper seine symbolische Dimension nicht verloren: gefesselt, beobachtet und gefoltert bildet er den Zustand der politischen Opposition in der heutigen Ukraine ab. Als Opfer der permanenten Videoüberwachung wird Timoschenko zum Objekt der panoptischen Kontrolle, die ganz offensichtlich zur Bestrafung eingesetzt wird. Wenn jedoch laut Foucault das Modell des Panoptikon das öffentliche Spektakel der körperlichen Züchtigung ersetzen sollte, wird es im postmodernen Populismus selbst zu einem Instrument des politischen Spektakels. In einem besonders perversen Fall von “medialem Voyeurismus”18 wurde die ukrainische Öffentlichkeit eingeladen, die ehemalige Ministerpräsidentin und Oppositionsführerin zu bespannen, in ihre Privatsphäre einzudringen und über ihre Gesundheit und ihren Körper zu urteilen; im selben Zug sollte bewiesen werden, dass alle Krankheiten nur vorgetäuscht waren.

Im Januar 2013 trat Timoschenko abermals in den Hungerstreik und weigerte sich, in ihre Zelle zurückzukehren, so lange die Kameras nicht abgebaut würden. Sie kündigte an, nicht länger mit der Gefängnisverwaltung zu kooperieren und sich nur unter Gewaltanwendung ins Gericht bringen zu lassen. In einem offenen Brief münzte Timoschenko aktiv und kreativ ihren Status als Opfer von männlichem Voyeurismus in eine moralische Überlegenheit um, indem sie andeutete, es verschaffe Präsident Janukowitsch eine Art perverser Befriedigung, seine geschlagene und gefangene politische Feindin zu beobachten: “Von nun an werde ich mich nicht länger Ihren Einschüchterungsversuchen und Demütigungen aussetzen. Ich werde nicht länger gestatten, dass man mich oder meine Habseligkeiten durchsucht. Ich werde mich mit allen mir zur Verfügung stehenden körperlichen Mitteln verteidigen. Ich werde meine Zelle nicht eher wieder betreten, bis Sie, Viktor Fedorowitsch, Ihre Videokameras abbauen, die Sie benutzen, um mich im Bett zu beobachten, unter der Dusche und auf der Toilette, mit der Sie zuschauen, wie ich esse, mich ausziehe, schlafe, mit meinen Ärzten und Anwälten kommuniziere. Ich frage mich, ob Ihre Söhne Oleksandr und Viktor Ihr seltsames männliches Hobby teilen, Viktor Fedorowitsch.”19

Wenige Tage vor dem Gipfeltreffen der EU mit der Ukraine im März 2013, während des “Dialogs mit der Ukraine”, “empfahl” Viktor Janukowitsch der Gefängnisleitung, die Videokameras aus Julia Timoschenkos Krankenzimmer zu entfernen. Noch am selben Tag gab die Gefängnisverwaltung bekannt, die Kameras seien abgebaut worden.

Während Timoschenkos Strategie der Politisierung ihres verurteilten Körpers, die den eigenen Leib zum Austragungsort persönlichen Widerstandes macht, ihr erlaubte, das Interesse der Öffentlichkeit für mehr als anderthalb Jahre auf sich zu ziehen, hat der Erfolg seinen Preis. Die Trivialisierung ihres Körpers birgt die ernstzunehmende Gefahr ihrer “Desakralisierung” als politische Führungskraft, was die folgenden Zeilen eindrucksvoll beweisen: “Worin besteht die wahre Tragödie der Julia Timoschenko? Das Problem ist, dass sie von Idioten beraten wird! Durch die permanente Zurschaustellung ihrer Leiden im Gefängnis machten sie aus der nationalen Anführerin eine Teilnehmerin von Dom-2.20 Eine nationale Führungskraft muss ein politisches Ziel haben und die Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen. Stattdessen füttert man uns tagtäglich mit peinlichen Details über Spritzen, Wattebäusche, Seife und so weiter. Das zerstört ihren Status als Ikone, nicht die Behörden … Diese Idioten kapieren nicht, dass es in der Politik um Geheimnisse und Autorität geht. Warum sollten die Leute mit einer Politikerin mitfühlen, die als ganz normaler Mensch erscheint, die sich wie ein normaler Mensch benimmt?”21

In den Augen des Westens

Das politische Spektakel von Julia Timoschenkos Verhaftung lässt sich, ebenso wie das politische Spektakel der Orangen Revolution einige Jahre früher, kaum verstehen ohne Berücksichtigung der globalen Rahmenbedingungen. Die Ukraine, deren geopolitische Zukunft im Unklaren liegt, ist zerrissen zwischen Ost und West, zwischen dem post-sowjetischen Russland und der erweiterten EU. Die Orange Revolution hat Hoffnungen auf demokratische Reformen und auf eine Integration der Ukraine in die Europäische Union geweckt, und trotz der vielen Verfehlungen des Landes ist die EU immer noch an einer engen Zusammenarbeit mit dem Nachbarn im Osten interessiert. Seit Jahren wird über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union verhandelt. Die Unterzeichnung des Vertrages würde Präsident Janukowitsch eine beträchtliche politische Dividende sichern und sein internationales Ansehen steigern. Dennoch bleibt die politische Unterdrückung der ukrainischen Opposition das zentrale Hindernis auf dem Weg zu einer Einigung. Europäische Vertreter beklagen die “Willkür” der ukrainischen Justiz und machen die Unterzeichnung der Verträge von Timoschenkos Freilassung abhängig. Im Sommer 2012, kurz nach dem internationalen Skandal um Timoschenkos Misshandlung, riefen europäische Politiker und Politikerinnen, darunter auch Angela Merkel, zum Boykott der Fußball-EM in der Ukraine auf, und als erstes Zeichen möglicher Sanktionen zogen die USA im Oktober 2012 das Fünfjahresvisum des stellvertretenden Generalstaatsanwaltes der Ukraine, Renat Kusmin, ohne Angabe von Gründen zurück.

Alle ukrainischen Akteure des Dramas sind sich natürlich des westlichen Publikums bewusst. Julia Timoschenko als beliebte ukrainische Politikerin mit einem starken pro-europäischen und pro-demokratischen Image hat an den Westen appelliert, ihren verzweifelten Kampf gegen Janukowitsch moralisch und politisch zu unterstützen. Indem sie ihren inhaftierten, gequälten Körper mit der ukrainischen Nation gleichsetzt, die von einem “kriminellen Regime” gedemütigt und unterdrückt wird, und sich an “Europa” als moralischen Schiedsrichter und legale Autorität wendet, brandmarkt sie Janukowitsch und seine Politik als un-, wenn nicht gar anti-europäisch. “Ihretwegen hat die Ukraine ihre Chance verspielt, als europäischer Staat anerkannt zu werden”, schrieb Timoschenko in der ersten Zeile ihres offenen Briefes. Ihr Opferstatus im Westen und die stete Unterstützung durch westliche Politiker ist ihr größtes moralisches Kapital und tatsächlich der einzige Vorteil, den sie ihren mächtigen Feinden gegenüber hat. Dieses symbolische Kapital könnte jedoch schnell verspielt sein, wenn ihr Image als Märtyrerin beschädigt wird. Der Vorwurf, einen Mord in Auftrag gegeben zu haben, wird gemäß der Logik ihrer Verfolger Timoschenkos politisches Ende in den Augen der westlichen Welt bedeuten. Inzwischen hat Julia Timoschenko, inhaftierte Oppositionsführerin und ehemaliger Polit-Star, keinen Einfluss mehr auf das politische Drehbuch, das von präsidialer Seite geschrieben wird. Gleichzeitig gilt es auch für sie, ihre Rolle unbeirrt weiterzuspielen, besteht darin doch ihre einzige Hoffnung, im eigenen Land und im Westen nicht in Vergessenheit zu geraten und eines Tages in die ukrainische Politik zurückzukehren.

Die Ironie von Präsident Janukowitschs Strategie der Überwachung zur “Disziplinierung und Bestrafung” liegt darin, dass er dadurch selbst in den Fokus der Beobachtung durch westliche Medien und Politiker gerückt ist. Er steht unter starkem Druck und befindet sich in dem Dilemma, sich entweder dem Druck aus dem Ausland zu beugen und seine Gegnerin, die ihm bei den kommenden Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 gefährlich werden kann, aus der Haft zu entlassen, oder das Assoziierungsabkommen zu opfern und das Risiko einer internationalen Isolierung oder gar Sanktionierung einzugehen. Der ukrainische Politologe Sergej Kudelia meint dazu: “Das Unvermögen der westlichen Regierungen, sich in der Causa Timoschenko durchzusetzen … beweist, dass selbst wenn die EU eindeutige Forderungen aufstellt und diese glaubhaft untermauert, indem sie in großem Umfang Wirtschaftshilfe zurückhält, die Führung des betroffenen Landes diese Forderungen durchaus ignorieren kann, wenn die innenpolitischen Kosten eines Einlenkens zu hoch sind … Wenn Janukowitsch sich bereit erklärt hätte, Timoschenko zu rehabilitieren und ihr eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen zu ermöglichen, hätte er dem Ausland gegenüber Schwäche gezeigt, die Opposition gestärkt und sich zudem eine gefährliche Rivalin geschaffen.”22

Während der letztmögliche Termin zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine heranrückt (es besteht noch die Hoffnung, eine Einigung könnte im November 2013 auf dem EU-Gipfel in Vilnius erzielt werden), wächst die Spannung. Die kürzlich erfolgte Freilassung von Juri Lutschenko, ehemals Innenminister in Timoschenkos Kabinett und politischer Verbündeter, erhöhte die Hoffnungen der Opposition auf Timoschenkos Begnadigung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied am 30. April 2013, die Untersuchungshaft der Politikerin sei politisch motiviert und rechtswidrig – eine lang ersehnte gute Nachricht für Timoschenko und ihre Anhänger. Das Gericht wies jedoch die Beschwerde über unmenschliche und demütigende Haftbedingungen zurück: Mangelndes Tageslicht, schlechte Trinkwasserqualität und fehlende Heizung hätten die Inhaftierte zwar beeinträchtigt, seien aber nicht schwerwiegend gewesen. Das Gericht wies außerdem ihre Beschwerde über die pausenlose Videoüberwachung zurück, da Timoschenko “die ukrainischen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft” habe, bevor sie sich an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg wandte. Das Gericht war nicht in der Lage, zweifelsfrei festzustellen, ob Timoschenko während des Transportes in die Klinik im April 2012 geschlagen worden war, da sie zu jener Zeit eine medizinische Untersuchung verweigert habe.

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Published 6 November 2013
Original in English
Translated by Eva Bonné
First published by Eurozine (English version); Wespennest 165 (2013) (German version)

Contributed by Wespennest © Tatiana Zhurzhenko / Wespennest / Eurozine

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