Die Macht und der Glaube

Der politische Islam

Der gute Vorsatz, einen “Kampf der Kulturen” zu vermeiden,
kennzeichnet die westliche Politik seit dem 11. September. Die
“Allianz gegen den Terror” kann nur zusammengehalten werden, wenn in
islamischen Ländern wie Pakistan und Ägypten die Regime ihren
Völkern glaubhaft machen könnten, dass es sich um keinen
christlichen “Kreuzzug” handelt. Ob das gelingt, hängt nicht nur
von der Kriegsführung in Afghanistan ab, sondern auch von der
Wahrnehmung in den westlichen “Kulturnationen”. Hier wird sich ein
differenziertes Bild der “islamischen Welt” nur entwickeln, wenn es
gelingt, jenseits der religiösen Dimension für jedes einzelne
Land die soziale Dynamik und die ökonomischen Probleme
differenziert zu analysieren.

Man dürfe den Islam nicht mit dem Terrorismus gleichsetzen, mahnen
die politischen Führer des Westens. Doch so einfach lässt sich
das Problem nicht aus der Welt schaffen. Der bewusste oder unbewusste
Rassismus droht sich angesichts einer verschreckten und
verunsicherten öffentlichen Meinung noch viel stärker
auszubreiten. Ohnehin bestehende Vorurteile gegen den Islam,
Klischeevorstellungen und Unwissenheit tragen allesamt dazu bei, die
These von einer Konfrontation der Religionen und Kulturen zu
bestätigen. So entsteht das unbestimmte Gefühl, die
demokratischen “Kulturnationen” des “Westens” hätten nun einen
“Krieg” (oder gar einen “Kreuzzug”) gegen die “totalitären” und
“fanatischen” Muslime eröffnet. Diese Wahrnehmung erscheint sogar
plausibel, haben doch die Terroristen ihrerseits den heiligen Krieg
(Dschihad) gegen die “ungläubigen Kreuzfahrer” ausgerufen, die
angeblich die Gemeinschaft der Muslime unterdrücken. Diese
bestürzend komplementären Wahrnehmungsmuster haben die
gefährliche Wirkung, die Kluft zwischen zwei Kulturen und zwei
Welten zu vertiefen, zwischen den Reichen und den Armen, die von
Frustration und aufgestauten Hassgefühlen zerfressen werden.

Im Westen tragen Politiker und Medien – mit lobenswerten Ausnahmen –
in doppelter Weise zu dieser Polarisierung bei: zum einen, indem sie
die religiösen Überzeugungen der Terroristen in den Vordergrund
stellen und deren politische Motive ausblenden, zum anderen, indem
sie sprachlich die unterschiedlichen Dimensionen des Problems, die
sie eigentlich auseinander halten wollen, dann doch wieder
vermischen. So produziert die willkürliche und unterschiedslose
Verwendung der Begriffe “Islam”, “Fanatismus”, “Terrorismus” und
“Fundamentalismus” allemal Verwirrung, im schlimmsten Fall fördert
sie antiislamische rassistische Vorurteile. Eine Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts Ifop hat ergeben, dass jeder zweite
Franzose das Wort “Islam” mit Fanatismus assoziiert (Le Monde, 5.
Oktober 2001).

Das Operieren mit Begriffen wie “Fundamentalismus” und
“Integralismus”, die als “protestantische” beziehungsweise
“katholische” Erscheinungen dem Islam gleichermaßen fremd sind,
muss zwangsläufig zu destruktiven Missverständnissen führen.
Dasselbe gilt für den Begriff “Islamismus”, der von einigen
Islamwissenschaftlern hilfsweise eingeführt wurde, während andere
den Begriff des “politischen Islam” für genauer halten. Auch bei
der Einordnung islamistischer Parteien und Bewegungen zeigt sich,
dass jede Verallgemeinerung erneut zu Verwirrung und falschen
Gleichsetzungen führt, denn diese Gruppierungen sind extrem
verschieden und haben oft nur den Bezug auf die Religion des
Propheten gemein, die sie aber ganz unterschiedlich, wenn nicht
gegensätzlich interpretieren – was auch erklärt, warum sie im
politischen Spektrum von ganz rechts bis ganz links angesiedelt sind.

Beispielhaft kann man die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen
islamistischen Richtungen im Iran studieren. Als der Imam Chomeini
1979 die Macht übernommen hatte, zeigte sich rasch, dass seine
schärfsten Gegner nicht die weltlichen Parteien waren, sondern
bestimmte islamistische Gruppierungen, darunter liberal gesinnte (die
von einzelnen Großajatollahs gestützt wurden), aber auch
sozialdemokratisch oder marxistisch orientierte. Nachdem das
Chomeini-Regime mit seinen Gegnern abgerechnet hatte, hat sich
neuerdings ein Konflikt zwischen zwei großen Strömungen
herausgebildet: zwischen dem totalitären Lager um den “geistlichen
Führer” Ajatollah Ali Chamenei (das eindeutig in der Minderheit
ist) und der demokratisch und weltlich orientierten Bewegung unter
Führung des Staatspräsidenten Mohammad Chatami. Die
gesellschaftlichen Gegensätze zeichnen sich auch innerhalb der
Geistlichkeit ab, in der sich Reformisten und Konservative
unversöhnlich gegenüberstehen – beide gestützt auf ihre sehr
unterschiedliche Auslegung der heiligen Schriften.

Die Türkei ist ein weiteres Land mit muslimischer Bevölkerung, in
dem die islamistische Bewegung, unter verschiedenen Namen, schon seit
einem halben Jahrhundert eine politische Rolle spielt. Sie achtet die
Gesetze und bekennt sich zu den weltlichen Prinzipien des
kemalistischen Staates, dem sie zugleich vorwirft, den Grundsatz der
staatlichen Neutralität in religiösen Angelegenheiten zu
missachten, wie er etwa in Frankreich und den Vereinigten Staaten
gilt. Diese “Islam-Demokraten”, wie sie in der Türkei, in
Anspielung auf die europäischen “Christ-Demokraten” gelegentlich
genannt werden, sind im Parlament und in den Gemeinderäten stark
vertreten. Sie stellten Minister in verschiedenen
Koalitionsregierungen, und ihr ehemaliger Vorsitzender Necmettin
Erbakan (dem inzwischen die Bürgerrechte aberkannt wurden) stand
von 1996 bis 1997 als erster Islamist an der Spitze einer
Regierungskoalition.

Dass sich die Islamisten diskriminiert fühlen, hat sie
paradoxerweise zu Vorreitern der Demokratisierung gemacht, die sich
für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union und für
die Achtung der Menschenrechte einsetzen.

Islamisten als Bündnispartner?

Auch in Ägypten gibt es eine Reihe islamistischer Organisationen
mit unterschiedlichsten Zielen, die aber bis auf eine oder zwei
Ausnahmen einen friedlichen Reformkurs verfolgen. Das gilt auch für
die bedeutendste und älteste Gruppierung, die Muslimbrüder, die
sich sowohl gegen die Gewalt und die islamistische Diktatur im Sudan
wie gegen die “Verbrechen” der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA)
in Algerien ausgesprochen haben. Dennoch haben Teile der
Muslimbrüder die politische Grundhaltung der Bruderschaft als zu
konservativ empfunden und die politische Partei Wasat (“die Mitte”)
gegründet. Das Programm dieser Partei formuliert Pluralismus und
Menschenrechte als wichtige Prinzipien – was mit einer Frau und einem
koptischen Christen in der Führung deutlich wird. Das andere Extrem
verkörpert der von Dr. Zawahiri geführte islamische Dschihad, der
sich inzwischen Ussama Bin Ladens Terrororganisation al-Qaida
angeschlossen hat.

Es gibt etliche weitere Beispiele für die unterschiedlichen
Ausprägungen des politischen Islam in den Ländern zwischen
Atlantik und Persischem Golf. Seit 1928 in Ägypten die
Muslimbruderschaft gegründet wurde, die sich zunächst regional
stark ausbreitete, später aber ihre Vormachtstellung verlor, haben
die islamischen Bewegungen vielfache Wandlungen und bemerkenswerte
Entwicklungen durchlaufen. Den ersten Wendepunkt markierte die
schmachvolle Niederlage der arabischen Armeen im Sechstagekrieg gegen
Israel, im Juni 1967. Danach begann der Niedergang der
nationalistischen und sozialistischen Kräfte, denen man die Schuld
an diesem Debakel gab. Gedemütigt, verzweifelt und
orientierungslos, suchte die Bevölkerung der arabischen Länder
Zuflucht im Glauben. Die Islamisten nutzten, da sie von den meisten
Regimen in den Untergrund gedrängt worden waren, zur Verbreitung
ihrer Botschaft Moscheen und die unzähligen Vereine und
Wohlfahrtseinrichtungen, die sie gegründet hatten.

Aus Überzeugung oder taktischem Kalkül übernahmen sie in ihren
politischen Parolen die Programmatik ihrer einstigen Konkurrenten. In
ihren Kampagnen kamen in der einen oder anderen Form auch
nationalistische, antiimperialistische oder soziale Forderungen vor:
Man wetterte gegen das Unrecht, die Korruption, die Gewaltherrschaft
der regierenden Oligarchen. Der Rahmen des politischen Islam bot
nahezu die einzige Möglichkeit, gegen die Verhältnisse zu
protestieren und Forderungen zu stellen. Sieht man von den
theologischen Bezügen ab, waren die Erklärungen von Imam Chomeini
den Aufrufen von Führern der Dritten Welt, etwa denen des einstigen
ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel-Nasser, zum Verwechseln
ähnlich. Der Führer der iranischen Revolution konnte damit jenes
Feld besetzen, das ihm der Schah hinterlassen hatte, nachdem er alle
Gruppierungen der demokratischen Opposition, von rechts bis links,
zerschlagen hatte.

Ganz offensichtlich fand das politische und soziale Programm der
Islamisten, so demagogisch es vorgetragen wurde, in der Bevölkerung
weit mehr Anklang als die religiöse Botschaft, die zumeist
frauenfeindlich war und einen repressiven Sittenkodex propagierte.
Nur so dürfte der Aufschwung der Islamisten zu erklären sein, der
sich erst vollzog, nachdem sie sich zu Kämpfern für die nationale
Sache gewandelt hatten. Sie erhielten allerdings auch
Unterstützung, vor allem finanzieller Art, von Saudi-Arabien und
anderen Golfstaaten, die sich von der Beseitigung gegnerischer Regime
eine Konsolidierung ihrer Position versprachen. Diese Freigebigkeit
zahlte sich letzten Endes wenig aus, weil die Geberstaaten nicht
begriffen, dass der politische Islam in seiner neuen Form auch ihren
eigenen Regimen nicht unbedingt gewogen war.

Wo sie die Bedrohung erkannten, versuchten die arabischen Regime, die
Islamisten durch teilweise äußerst brutale Verfolgung oder durch
Instrumentalisierung und Integration in die staatlichen Institutionen
auszuschalten. So wurden etwa die Islamisten im Libanon, in
Jordanien, in Kuwait und in Jemen erfolgreich eingebunden. Dort
sitzen sie im Parlament, in einigen Fällen stellten sie auch
Minister. Dagegen wurden sie in Syrien durch entsetzliche Massaker
dezimiert, in Tunesien und im Irak gnadenlos unterdrückt. In
Algerien hat die Fraktion der innerhalb des Regimes,
die für die völlige Auslöschung der Islamisten eintritt,
bislang nur erreicht, dass ein äußerst blutiger Konflikt sich
endlos hinzieht.

Es ist auch keineswegs so, dass der Konflikt zwischen Islamisten und
Machthabern identisch ist mit der Konfrontation von Gegnern und
Befürwortern eines weltlichen Staates. Auch in einigen der Staaten,
die den politischen Islam bekämpfen, sind die heiligen Schriften
des Islam die Grundlage von Verfassung und Gesetzgebung. Andere
Staaten wiederum tun alles, um die Islamisierung so weit
voranzutreiben, dass zwischen dem Regime und seinen islamistischen
Gegnern kaum noch ein Unterschied auszumachen ist. Die besten
Beispiele dafür sind Saudi-Arabien und Ägypten. Mit wenigen
Ausnahmen haben alle Staaten der Region zeitweise mit den Islamisten
paktiert und sie als Alliierte gegen noch gefährlichere Gegner
benutzt. Der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat zum Beispiel
protegierte sie in den Siebzigerjahren, um die linken Nasseristen und
die Kommunisten in Schach zu halten – absurderweise waren es dann
Islamisten, die Sadat 1981 ermordeten. Sein Amtsnachfolger Hosni
Mubarak ließ von der Verfolgung der Islamisten eine Zeit lang ab,
als diese sich im Kampf gegen die Sowjetunion in Afghanistan
engagierten – auch er wurde dann 1995 Ziel eines islamistischen
Attentats. König Hussein von Jordanien stützte sich in Konflikten
mit Gruppen, die seine Macht bedrohten, wiederholt auf die
Islamisten, und auch der jemenitische Staatspräsident Abdallah
Saleh nahm im Krieg gegen die marxistische Führung von Südjemen
islamistische Bündnispartner in Anspruch. Ebenso hielt es der
frühere sudanesische Präsident Dschaafar al-Numeiri: Er brauchte
die Islamisten, um sich der Parteien zu erwehren, die gegen seine
absolutistische Herrschaft antraten, und um die
christlich-animistischen Rebellenbewegungen im Süden des Landes
niederzuhalten.

In Israel sah es kaum anders aus. Solange die Muslimbrüder in den
besetzten Gebieten vor allem gegen Jassir Arafats PLO antraten, in
der sie eine aus Nationalisten und Marxisten zusammengewürfelte
Bande von Verrätern an der islamischen Sache sahen, erhielten sie
diskrete Unterstützung von der jeweiligen israelischen Regierung.
Wie kurzsichtig diese Politik war, musste die israelische Führung
dann aber 1987 einsehen, als die Bruderschaft mit Beginn der ersten
Intifada die Hamas ins Leben rief. Diese islamistische Bewegung hat
sich bis heute der Befreiung Palästinas durch Terrorismus und
bewaffneten Kampf verschrieben.

Auch die USA reagierten ähnlich wie Israel und die arabischen
Staaten. Lange Zeit sah man in Washington die Islamisten als
natürliche Bündnispartner: Sie waren unversöhnliche Feinde der
“kommunistischen Atheisten” und Verfechter der Marktwirtschaft, womit
sie sich aus amerikanischer Sicht ihren Platz in der “freien Welt”
verdient hatten. Also behandelte man sie nachsichtig und machte sie
zu Bundesgenossen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs unterhielten die
USA eine unverbrüchliche Allianz mit Saudi-Arabien, dem Stammland
des fundamentalistischen wahhabitischen Islam. Im Kampf gegen den
Nasserismus und gegen das sowjetische “Reich des Bösen” fanden sich
während der Fünfziger- und Sechzigerjahre verschiedene islamische
Staaten und islamistische Bewegungen als Hilfstruppen im
amerikanischen Lager. Damals sah man den “Kampf zwischen Gut und
Böse” in seiner ersten Fassung.

Die Situation änderte sich grundlegend durch drei aufeinander
folgende Ereignisse: die Vertreibung der Roten Armee aus Afghanistan,
den Golfkrieg und die Auflösung des sowjetischen Imperiums. Seitdem
konnte sich in den afghanischen Bergregionen eine neue Spielart des
Islamismus entwickeln. Seine Träger waren die Mudschaheddin, die
sich nicht mehr als eingeborene Hilfstruppen der USA verstanden.
Ussama Bin Laden und seine zukünftigen Anhänger waren
überzeugt, dass sie durch heldenhaften Kampf und große Opfer ein
islamisches Land befreien könnten. Für diese Kämpfer, von denen
sich viele als Märtyrer verstanden, muss die Enttäuschung nach
ihrem Sieg umso größer gewesen sein, als sie keinerlei
Anerkennung oder Entschädigung bekamen, in der Regel ohne Arbeit
und Einkünfte blieben und auch keine Pläne für ihre Integration
in die Gesellschaft entwickelt wurden. Die USA, die sich letztlich
doch ein wenig in der Pflicht fühlten, versuchten mit sanftem
Druck, einige widerstrebende Regierungen zu bewegen, diese heiligen
Krieger wieder aufzunehmen. Vergebens – mit der Folge, dass sich
diese dann ganz der Gewalt verschrieben: in Algerien, in Kaschmir, in
Palästina, im Libanon und in Ägypten und später in Bosnien und
Tschetschenien. Als Ägypten sich weigerte, Scheich Omar Abdel
Rahman aufzunehmen, der in die Ermordung von Präsident Sadat
verstrickt war, wurde ihm 1991 in den USA politisches Asyl gewährt.
Zwei Jahre später organisierte der blinde Scheich den ersten
Anschlag auf das World Trade Center in New York, was ihm eine
langjährige Haftstrafe einbrachte.

Zyklischer Antiamerikanismus

Der Golfkrieg von 1990 bis 1991 führte in der gesamten
arabisch-muslimischen Welt zu Massenprotesten. Die Menschen gingen
dabei jedoch nicht aus Sympathie für Saddam Hussein auf die
Straße, sondern um gegen die einseitige Haltung Washingtons zu
protestieren, gegen eine Politik, in der mit “zweierlei Maß”
gemessen wurde. Empört fragte man sich fast überall in den
islamistischen und nationalistischen Medien, warum Irak wegen seines
Einmarschs in Kuwait mit Sanktionen belegt wurde, während Israel
seit Jahrzehnten ungestraft arabisches Territorium besetzt halten
durfte. Nach welcher Logik funktionierte ein Embargo, das im Lauf der
Jahre zum Tod von hunderttausenden irakischer Kinder führte? Und
was brachte die Amerikaner dazu, direkt nach dem Krieg in mehreren
Golfstaaten, vor allem in Saudi-Arabien, militärische Stützpunkte
einzurichten, wenn nicht die Absicht, unpopuläre und in einigen
Fällen vom Sturz bedrohte Herrscher zu schützen? Die alleinige
Supermacht USA, die nach dem Zerfall der Sowjetunion den Beginn einer
neuen Weltordnung verkündet hatte, wurde so zur bevorzugten
Zielscheibe sämtlicher Islamisten – auch jener, die unter dem Label
Bin Laden firmierten.

Die Feindschaft gegen die Außenpolitik der USA ist gewiss keine
arabisch-muslimische Erbkrankheit, auch wenn das gerne so dargestellt
wird. Antiamerikanische Ressentiments manifestieren sich inzwischen
weltweit, in Afrika, Lateinamerika und Asien – auch in Europa, und
dort nicht nur in der muslimischen Bevölkerung. Diese ablehnende
Haltung ist aber keineswegs unumstößlich. In der neueren
Geschichte gab es immer wieder Zeiten, in denen die Amerikaner in der
arabischen Welt sehr populär waren. Das gilt zum Beispiel für
Präsident Wilson, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs allen
kolonisierten Völkern die Befreiung versprach, oder auch für
Präsident Roosevelt, der sich 1944 gegenüber König Ibn Saud
verpflichtete, die arabischen Staaten an der Lösung des
Palästinaproblems zu beteiligen. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten
die USA als Gegner des britischen und französischen Kolonialismus,
im Suezkrieg 1956 rief Eisenhower Großbritannien, Frankreich und
Israel zur Beendigung der militärischen Operationen gegen Ägypten
und zum sofortigen Truppenrückzug auf. In solchen Zeiten hätte
eine Figur wie Bin Laden keine Chance gehabt.

Um einen inneren Zusammenhang zwischen Terrorismus und Islam zu
konstruieren, waren die Medien bereit, bis ins 11. Jahrhundert
zurückzugehen und auf die Verbrechen der Sekte der Assassinen zu
verweisen. Jeder ernsthafte Historiker wird natürlich klarstellen,
dass solche Parallelen zu den Unternehmungen Bin Ladens völlig
unsinnig sind. Tatsächlich ist der Terrorismus ein globales
Phänomen, es gab und gibt ihn überall auf der Welt, in so
unterschiedlichen Ländern wie Deutschland, Japan, Italien,
Argentinien oder Griechenland. Seine so genannte islamische Variante
ist erst vor kurzem entstanden, zuvor war er nacheinander oder
gleichzeitig palästinensisch, israelisch, ägyptisch oder
jemenitisch, er war eine dauerhafte oder lediglich sporadische
Erscheinung, er hatte individuelle, nationalistische oder staatliche
Ursprünge und suchte seine Ziele zumeist im eigenen Land.

Dagegen ist der Terrorismus der Organisation al-Qaida, die Ussama Bin
Laden am Ende des antisowjetischen Kriegs in Afghanistan gründete,
von ganz anderer und ganz eigenständiger Qualität. Ihr Terror
richtet sich fast ausschließlich gegen US-amerikanische Interessen,
sein Wesen und sein Rekrutierungsfeld sind transnational, denn
al-Qaida handelt im Namen der Umma, der über fünf Kontinente
verteilten “Gemeinschaft der Muslime”. Dieser Terrorismus ist mithin
“globalisiert”, er agiert weltweit – nach Auskunft des
US-Außenministeriums in mehr als fünfzig Staaten – und bedient
sich solcher Methoden und Techniken, die erst durch die
Globalisierung Verbreitung fanden. Seine Gefolgsleute kommen aus dem
Mittelstand und sind nicht selten mit der westlichen Kultur
aufgewachsen, sie organisieren sich in kleinen Gruppen, handeln fast
autonom – nur geleitet von den allgemeinen Direktiven eines
“Zentrums”, das schemenhaft bleibt, sich von keinem Staat
instrumentalisieren lässt und für seine Logistik und Finanzierung
ausschließlich auf private Initiativen, auf Wohlfahrtseinrichtungen
und reiche Spender zurückgreift.

Agierten die Terroristen von einst im Namen von Organisationen, die
sich zugleich gewaltfrei in der politischen Öffentlichkeit
betätigten, so verfügen die Anhänger Bin Ladens, so weit
erkennbar, über keinen organisierten Rückhalt in der
Bevölkerung islamischer Länder. Sie sind sozusagen Entwurzelte,
die den Anspruch erheben, in Wort und Tat die Weltgesamtheit der
etwas über eine Milliarde Muslime aller Glaubensrichtungen zu
vertreten.

Die höchsten geistlichen Autoritäten des Islam, der Sunniten wie
der Schiiten, haben die Selbstmordattentate vom 11. September
praktisch einmütig verurteilt – was von den westlichen Medien
freilich weitgehend ignoriert wurde. In feierlichen Erklärungen
oder beim Freitagsgebet in den Moscheen erklärten sie das Massaker
an Unschuldigen für ebenso unvereinbar mit Geist und Buchstaben der
heiligen Schriften des Islam wie den Selbstmord der Attentäter, den
jede der drei großen monotheistischen Religionen verbietet. Welchen
Wert soll man also den Fatwas beimessen, in denen Bin Laden und seine
Mitstreiter zum Dschihad aufrufen? Deren Autorität als
Religionsgelehrte scheint äußerst zweifelhaft. Ähnliches gilt
für das wenig sittenstrenge Verhalten der Luftpiraten. Zwei von
ihnen sollen vor ihrer Schreckenstat in Florida in Bars gesessen und
Alkohol getrunken haben.

Auch die islamistischen Bewegungen der arabischen Welt haben sich,
bis auf wenige Ausnahmen, zu den Ereignissen geäußert. So hat
etwa die al-Nahda, die tunesische Untergrundorganisation von Rached
Ghannouchi, in einem Kommuniqué die Terroraktionen “rückhaltlos
verurteilt”, und zwar als “barbarische Handlungen, die durch nichts
zu rechtfertigen sind” und die “nicht den Muslimen zugeschrieben
werden dürfen”. Andere islamistische Organisationen zogen es vor,
sich weniger deutlich, aber ebenso ablehnend gegen “alle Gewalttaten,
von wem sie auch ausgehen”, zu äußern.

Statt sich auf den Islam und seine angebliche Nähe zu Fanatismus
und Terrorismus zu konzentrieren, sollte man sich vielleicht eher mit
der geistigen Verfassung der Massenmörder vom 11. September
befassen. Man sollte über die Faszination des Todes nachdenken,
für die nicht nur Bin Laden steht, sondern der auch einige Sekten
in Europa und den USA erlagen und dadurch traurige Berühmtheit
erlangten. Und man sollte sich fragen, was das Glücksgefühl
bedeutet, das Selbstmordattentäter vor ihrer Tat offenbar beseelt.

Nun wird Bin Laden zwar von den Islamisten und den islamischen
Religionsgelehrten abgelehnt und implizit als Ketzer betrachtet,
dennoch scheint er Verständnis und Sympathie in verschiedenen,
nicht nur muslimischen Gesellschaften zu finden. Dies überrascht
wenig: Menschen, die sich entrechtet und von der Globalisierung
benachteiligt fühlen, die sich als Opfer eines arroganten
Hegemonialstrebens der Vereinigten Staaten sehen, mögen von den
religiösen Haarspaltereien und den abscheulichen Methoden von
al-Qaida wenig halten – dennoch haben sie die politische Botschaft
offenbar verstanden. Eine Botschaft, von der die éradicateurs des
Feldzugs “Dauerhafte Freiheit” nichts wissen wollen – auf die Gefahr
hin, dass sie der Behauptung Recht geben, es handle sich um einen
Krieg der Religionen.

Published 7 December 2001
Original in French
Translated by Edgar Peinelt

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Contrapress Media GmbH / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine

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