Die Anerkennung ist ein Grundmechanismus sozialer Existenz
Interview von Krassimir Stojanov mit Axel Honneth
Krassimir Stojanov: Meine erste Frage bezieht sich auf den Aufsatz “Die soziale Dynamik von Missachtung”. Am Anfang des Aufsatzes behaupten Sie, dass man heute nicht mehr von einer Kritischen Gesellschaftstheorie sprechen könne, dass diese Theorie – jedenfalls im Sinne der klassischen Frankfurter Schule – längst nicht mehr existent sei. Auf der anderen Seite umreißen Sie jedoch eine ziemlich kontinuierliche Traditionslinie, die irgendwo bei Horkheimer und Adorno beginnt und sich bis zu Ihrem eigenen Konzept hinzieht. Wie ist das zu verstehen? Kann man immer noch von einem aktuell wirkenden Paradigma der Frankfurter Schule sprechen?
Axel Honneth: Die Schwierigkeit bei dieser Frage ergibt sich einfach aus dem geschichtlichen Entwicklungskontext dieses Paradigmas: In der Nachkriegszeit, seit den 50er Jahren, haben sich weltweit eine Vielzahl von Konzepten innerhalb der Gesellschaftstheorie entwickelt, die allesamt beanspruchen, eine Art von Kritik an den ihnen gegenwärtigen Gesellschaften auszuüben. Dazu aber verwenden sie im Vergleich zur Frankfurter Schule ganz andere Mittel. Das heißt, wir haben es mit einer geradezu explosionsartigen Pluralisierung von unterschiedlichsten Modellen der Kritik zu tun. Man kann etwa in diesem Zusammenhang an Foucault denken, man kann hierbei den ganzen Diskurs über Kolonialismus, die postcolonial studies, oder etwa den Diskurs der gender studies erwähnen, um sich klar zu machen, dass es ganz schwierig, ja geradezu abenteuerlich wäre, wenn eine bestimmte Tradition einen Monopolanspruch auf den Kritikbegriff erheben würde. Insofern glaube ich, wenn wir heute von “Kritischer Theorie” sprechen, nicht mehr selbstverständlich ist, was damit gemeint ist. Insofern muss man schon von vornhinein nur im Plural von “Kritischer Theorie” sprechen. Wir haben es mit unterschiedlichsten Kritischen Theorien zu tun. Wenn man jetzt aber in irgendeiner Weise gleichwohl den Versuch machen möchte, an dieser Tradition festzuhalten – also an der Tradition der Frankfurter Schule – dann sollte man auch genauer angeben, worin die Einzigartigkeit dieser Tradition liegt, und ob diese Einzigartigkeit heute noch eigentlich erhaltenswert ist. Genau in bezug auf dieses Problem mache ich einen Vorschlag im Aufsatz, indem ich sage, dass sich im Vergleich zu vielen anderen Modellen von Kritik und kritischer Theorie die Frankfurter Schule durch die Aufnahme eines linkshegelianischen Denkmotivs auszeichnet. Daher können wir von Kritik im Sinne der Frankfurter Schule nur dann sprechen, wenn wir dieses linkshegelianisches Motiv für verteidigenswert halten: Es ist ja klar, dass weder Foucault, noch der Feminismus, noch die gender studies, noch die postcolonial studies linkshegelianische Theorieelemente aufnehmen.
Mit diesem linkshegelianischen Motiv meine ich ausschließlich die Vorstellung, dass der Gesichtspunkt der Kritik in irgendeiner Weise als verankert in der existierenden Gesellschaft gedacht werden soll. Dies bezeichne ich im Aufsatz als “vorwissenschaftliche Instanz der Kritik”.
Nur wenn so etwas überhaupt intendiert wird – nämlich eine Kritik an der gegenwärtigen Verfassung von Gesellschaften unter Bezug auf eine solche vorwissenschaftliche Instanz (die den kritischen Gesichtspunkt sozial legitimiert) – dann haben wir es tatsächlich mit einer Kontinuierung der Frankfurter Schule zu tun. Das ist die Grundidee. Diese Anbindung der Kritik an eine vorwissenschaftliche Instanz wäre ein Identitätsmerkmal der Frankfurter Schule, das sie innerhalb der Pluralität der Versionen kritischer Theorie auszeichnet.
Sind Sie der Meinung, dass auch Adorno dieses Motiv verfolgt? Bei einer bestimmten Interpretationsweise seines Werks könnte man behaupten, dass es eine enge Verwandtschaft zwischen Adorno und Foucault bei dem Kritikbegriff gibt. Adorno scheint doch ähnlich wie Foucault Kritik als eine reine Negativität, als eine reine Dekonstruktion zu verstehen, die sich durch keine emanzipativen Interessen einer vorwissenschaftlichen Praxis tragen lässt.
Ja, sicherlich gibt es diese Tendenz bei Adorno. Andererseits finde ich, dass gerade seine Ästhetik so zu verstehen ist, dass sie in philosophischer Einstellung den Ort, oder das Medium innerhalb der gesellschaftlichen Praxis kennzeichnet – nämlich die Kunst –, das intern, also innergesellschaftlich, eine solche kritische Perspektive bewahrt. Insofern ist der Ansatz von Adorno – ganz anderes als der Ansatz von Foucault – systematisch auf die Rückbindung an eine Ästhetik angewiesen, die sich vornimmt, diese vorwissenschaftliche Instanz der Kritik unter dem Verweis des Mediums der Kunst offen zu legen. Und das ist in der Tat ein großer Unterschied zwischen den beiden Ansätzen.
Natürlich, die Dynamik der Frankfurter Schule selbst ist dadurch gekennzeichnet, dass die Einsicht in diesen vorwissenschaftlichen Kontext der Kritik immer schwieriger wird: In dem Maße, in dem behauptet wird, dass die Gesellschaft einen Verblendungszusammenhang darstellt, wird die Behauptung einer solchen vorwissenschaftlichen Instanz oder eines vorwissenschaftlichen Agens immer problematischer. Das ist die innere Dynamik dieser ganzen Tradition, deswegen wird diese Instanz als immer schmaler, immer kleiner angesehen. Am Ende bleibt tatsächlich nur die Kunst. Aber selbst wenn nur die Kunst übrigbleibt, ist dieses Modell von Kritik immer noch linkshegelianisch: Sie kommt ohne Rückbindung an etwas nicht aus, was innerhalb der Gesellschaft als vorwissenschaftliche Form der Kritik gedacht wird – bei Adorno dann eben das Medium der Kunst.
Wir haben heute die Chance, wieder breiter eine solche vorwissenschaftliche Instanz der Kritik ins Auge zu nehmen, die nun in der Form der normativen Infrastruktur intersubjektiver Verhältnisse erscheint.
In Ihrem Konzept ist die Kritik allerdings immer an normative Maßstäbe gebunden…
Ja, aber auch bei Adorno ist natürlich das Medium der Kunst selbst, wenn man so will, intern-normativ. Mein Dissens mit Adorno besteht in der Überzeugung, die ich mit Habermas immer geteilt habe, dass diese systematische Verbindung von Kritischer Theorie und Ästhetik eine zu schwache Basis ist; dass sie die vollen Ansprüche einer Kritischen Theorie nicht tragen kann. Deswegen habe ich mich in der Nachfolge von Habermas – vor allem von dessen intersubjektivitätstheoretischer Wende – auf dem Weg nach der theoretischen Wiedergewinnung einer vorwissenschaftlichen Instanz gemacht, die breiter und in ihrem normativen Gehalt klarer als das Medium der Kunst ist. Sie können die ganze Entwicklung von Habermas so verstehen, dass er einen Ausweg aus der viel zu engen Bindung zwischen Kritischer Theorie und Ästhetik sucht, indem er nun in der intersubjektiven Praxis die normativen Ansprüche zu finden glaubt, über die Adorno wiederum der Meinung war, dass sie nur noch im Medium der Kunst enthalten sind. Ich stehe selbst in der Tradition von Habermas und insofern glaube ich, dass wir heute die Chance haben, wieder breiter eine solche vorwissenschaftliche Instanz ins Auge zu nehmen, die nun in der Form der normativen Infrastruktur intersubjektiver Verhältnisse erscheint.
Aus der Perspektive der Foucaultschen Tradition würde dieser Kritikbegriff wahrscheinlich nicht radikal genug erscheinen. Eine radikale Kritik würde sich nach Foucault an keine externe normative Standards binden wollen, denn es gibt keine Garantie, dass diese Standards nicht selbst Produkte gesellschaftlicher Entfremdungsprozesse sind. Die Frage ist, ob der Foucaultsche Kritikbegriff nicht tiefgreifender und nicht konsequenter ist?
Ich würde die umgekehrte Frage stellen, ob nicht eine solche Radikalisierung der Kritik ihrerseits die Gefahr mit sich bringt, gar nicht mehr die Legitimität der eigenen Kritikinstanz ausweisen zu können. Also, wenn wir die Bindung an vorwissenschaftliche Normen zu sehr lockern, dann wird der kritische Standpunkt kontingent. Das indiziert schon die Formulierung, die Sie verwendet haben: Man enthebt sich der Mühe und entzieht sich der Notwendigkeit, in der sozialen Praxis der vorfindlichen Gesellschaft selbst die Normen zu identifizieren, von denen wir uns legitimerweise leiten lassen können, um die gesellschaftliche Verfassung zu kritisieren. Wenn wir diese Bindung aufheben, wie dies bei Foucault geschieht, dann riskieren wir damit einen kontingenten Begriff der Kritik. Dann kann gar nicht mehr gezeigt oder begründet werden, warum überhaupt der kritische Maßstab von anderen für sinnvoll gehalten werden soll. Also, man begibt sich sozusagen des Restes eines Universalitätsanspruches, der mit Kritik immer einhergeht.
Sie haben gerade eben gesagt, dass Sie sich in der Tradition von Habermas positionieren. In Ihren Schriften gibt es allerdings unterschiedliche Formulierungen in Bezug auf diese Tradition, die für mich nicht ganz eindeutig sind. Es ist mir nicht ganz klar, ob Sie Ihren Ansatz als eine Ergänzung zur Universalpragmatik, oder als etwas qualitativ Neues verstehen. Auch im hier erörterten Aufsatz ist diese Zweideutigkeit zu spüren. Auf der anderen Seite scheint Habermas selbst Ihren Ansatz als eine Ergänzung zu seiner eigenen Theorie zu verstehen. Wie sehen Sie das?
Ich bin selbst aus dieser Ambivalenz noch nicht ganz herausgekommen. Das besagt nur, dass mein Verhältnis zur Habermasschen Theorie letztlich sehr verwickelt – und in allen Einzelheiten von mir nicht durchschaut – ist. Ich glaube, ich hatte lange Zeit die Idee, eine immanente Ergänzung des Habermasschen Projekts und insbesondere der Universalpragmatik zu verfolgen. Es gibt auch frühere Aufsätze von mir, die zeigen wollten, dass man die Diskursethik nur ein Stück weit radikalisieren muss, um materielle Normen daraus entwickeln zu können, die als Basis einer Gesellschaftskritik fungieren sollen. Auf der anderen Seite aber habe ich im Vollzug meiner eigenen Arbeit realisieren müssen, dass das, was ich tue, kaum als eine Ergänzung zu Habermas zu verstehen ist. Denn ich habe im Grunde genommen die starke Habermassche Intuition preisgegeben, dass die normative Rechtfertigung allein durch den methodischen Weg einer Rekonstruktion der sprachimmanenten, redepraxisimmanenten Regeln zu gewinnen ist. Ich glaube nicht, dass mein eigenes Projekt heute noch in diesem Sinne verstanden werden kann. Dafür ist es anthropologisch breiter angesetzt: Ich ziele darauf, die normativen Verbindlichkeiten intersubjektiven Handelns im Ganzen vor Augen zu führen – also nicht nur die normativen Prinzipien der Redepraxis, wie dies bei Habermas und Apel der Fall ist, sondern die normativen Prinzipien, die auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Reproduktion in den Strukturen intersubjektiven Handelns verankert sind: institutionell verankert als Ansprüchlichkeiten, die wir wechselseitig gegeneinander erheben können. Dieses Programm erweist sich als viel breiter als das, was Habermas ursprünglich anvisiert hat. Insofern glaube ich inzwischen, dass mein Ansatz nicht mehr als eine Ergänzung, sogar nicht mal als eine Erweiterung verstanden werden sollte, sondern als eine – zwar durch Habermas enorm motivierte und ohne ihn gar nicht vorstellbare, aber sich von ihm mehr und mehr abkehrende – Neuformulierung, die ihren Ausdruck im Anerkennungsparadigma findet. Unter diesem Paradigma verstehe ich wesentlich mehr als das, was Habermas im Rahmen seiner Diskursethik über Anerkennung sagt.
Mit dem Konzept, das Sie im “Kampf um Anerkennung” entwickelt haben, verbinden Sie auch das Programm einer formalen Anthropologie. Sie unterscheiden in diesem Buch zwischen drei Anerkennungsformen: Liebe, Recht und sozialer Wertschätzung. Kann man davon ausgehen, dass diese Dreiteilung auch als die Grundstruktur einer kulturinvarianten Anthropologie zu verstehen ist, oder sind das Anerkennungsformen, die spezifisch für die modernen westlichen Gesellschaften sind?
Das letztere ist der Fall. Im “Kampf um Anerkennung” schwanke ich ein bisschen zwischen der Idee einerseits, dass wir diese Dreiteilung als universell verstehen sollen, und der Vorstellung andererseits, dass diese drei Anerkennungsformen eher als Resultat einer bestimmten sozio-moralischen Entwicklung aufzufassen sind. Aber schon im “Kampf um Anerkennung” wird klar, dass die Unterscheidung zwischen sozialer Wertschätzung und rechtlicher Anerkennung ein Produkt der Moderne ist. Damit wird schon deutlich, dass ich diese Dreiteilung nicht als etwas Kulturinvariantes verstehe, sondern eben als Ergebnis einer sozio-moralischen Entwicklung von Anerkennungsverhältnissen. Invariant ist die Angewiesenheit der sozialen Integration auf Muster wechselseitiger Anerkennung. Das scheint mir in der Tat eine formal-anthropologische These zu sein. Zugespitzt gesagt: Wir können uns überhaupt keine Formen lebensfähiger, überlebensfähiger Gesellschaften denken, in denen die normative Integration nicht über bestimmte Muster oder Mechanismen wechselseitiger Anerkennung funktioniert. Ich würde soweit gehen zu sagen, dass Gesellschaft identisch mit der Etablierung von solchen Mustern intersubjektiver Anerkennung ist. Ich kann mich nur in dem Maße als Mitglied der Gesellschaft begreifen, in dem ich mich in bestimmten Aspekten meiner Persönlichkeit anerkannt fühle, und umgekehrt: die anderen Subjekte können nur das Subjekt als Mitglied der Gesellschaft wahrnehmen, das in gewisser Weise anerkanntes Mitglied ist. Insofern ist Anerkennung ein Grundmechanismus sozialer Existenz. Das ist die formal-anthropologische Dimension und interessant wäre zu untersuchen, wie sich die Anerkennungsverhältnisse sozialmoralisch entwickelt haben. Die Unterscheidung von drei Anerkennungsformen, mit der ich im “Kampf um Anerkennung” operiere, ist ein Produkt einer Entwicklung der Anerkennungsverhältnisse, einer bestimmten Reifung und Modernisierung dieser Verhältnisse.
Soweit der westliche Marxismus mit dem Begriff des Interesses operiert, halte ich ihn für verfehlt.
Sie unterscheiden explizit zwischen einem anerkennungstheoretischen und einem marxistischen Paradigma innerhalb der neuesten Kritischen Theorie. Bedeutet dies, dass Sie die theoretische Optik des westlichen Marxismus für endgültig überholt – auch im Kontext der Weiterentwicklung der Tradition dieser Theorie – halten?
Nein, nicht als Ganzes. So global würde ich das nicht sagen. Ich habe an der Stelle, die Sie wahrscheinlich vor Augen haben – das ist meine Erwiderung auf Nancy Fraser – sagen wollen, dass klassischerweise der Marxismus einen Zugang zur vorwissenschaftlichen Instanz der Kritik über den Begriff des Interesses sucht. Dieser Begriff ist – wie der Begriff der Anerkennung – sehr komplex, da er sich auf etwas in den Gesellschaften anzutreffendes bezieht (wir alle haben Interessen, gesellschaftliche Subjekte sind ohne Interessen gar nicht vorstellbar) und gleichzeitig auf etwas Normatives. Interessen sind subjektive Aspirationen, die insofern einen normativen Status haben, als sie begründet oder unbegründet sein können. Dasselbe gilt für die Anerkennungsansprüche. Und ich habe nur darauf hinweisen wollen, dass der Weg über den Interessenbegriff, den der Marxismus eingeschlagen hat, zu einer utilitaristischen Verengung führt. Der Ansatz, bei den Interessen des Subjekts einzusetzen, scheint mir zu schmal zu sein, weil man dann die intersubjektiven Verflechtungen des Subjekts nicht in den Blick bekommt. Wenn man dagegen bei der Anerkennung ansetzt, hat man von vornhinein den Tatbestand der Intersubjektivität vor Augen. In diesem Sinne würde ich den westlichen Marxismus für verfehlt halten, soweit er mit dem Begriff des Interesses operiert. Aber das heißt nicht, dass nicht viele interessante Aspekte in der Tradition des westlichen Marxismus angelegt sind, die bis heute als verteidigenswert gelten können – wie z. B. das ganze Paradigma der Rationalität und der gesellschaftlichen Rationalisierung, so wie es sich von Max Weber bis Lukacs entwickelt hat: das ist ja ein zentraler Bestandteil des westlichen Marxismus. Die Radikalisierung des Weberschen Rationalitätsbegriffs halte ich bis heute für verteidigenswert – trotzt der gesamten Struktur, in der dieses Projekt bei Lukacs vorgenommen und in der Nachfolgetradition weiter verfolgt wird.
Sie grenzen sich aber auch explizit von der Bedeutung ab, die dem Begriff der instrumentellen Vernunft in der marxistischen Tradition zugeschrieben wird, nämlich als dem Träger der Entfremdung. Sie versuchen doch insgesamt, das emanzipatorische Potential, die Basis der sozialen Kritik, unterhalb von kognitivistischen Strukturen anzusiedeln…
Ja… Das ist, glaube ich, ein anderer Gesichtspunkt. Es gibt in der Tradition des westlichen Marxismus eine Verengung. Man hat gedacht, dass sich Pathologien von Gesellschaften automatisch aus Vereinseitigung bestimmter Rationalitätstypen ergeben müssen. Vielleicht ist das ein kognitivistischer Fehlschluss oder eine kognitivistische Engführung. Man achtet zu sehr auf Rationalitätsstrukturen und man bekommt zu wenig in den Blick, was sich vielleicht jenseits von rationalen Orientierungen noch an Bindungen und an sozialen Mechanismen zu erkennen gibt. Also, ich habe nur zum Ausdruck bringen wollen, dass wir nicht den Fehler machen dürfen, uns einseitig auf Rationalitätsstrukturen in der Form von Orientierungen und Deutungsmustern zu konzentrieren, wenn wir die Pathologien und Verdinglichungen von Gesellschaften analysieren.
Das, was ich ablehne, ist die Vorstellung, dass wir durch eine Analyse ökonomischer Strukturen zugleich soziale Bewusstseinsformationen untersuchen können. Diese Vorstellung scheint mir das marxistische Erbe des Linkshegelianismus in seiner schlechten Variation zu sein.
Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, den Ihnen die noch verbliebenen “orthodoxen” Vertreter der Kritischen Theorie machen: nämlich, dass Sie den neomarxistischen Rahmen dieser Tradition preisgegeben und deshalb – man kann fast sagen – zur Beerdigung dieser Theorie beigetragen hätten, insofern dieser neomarxistische Rahmen notwendige Identitätsbedingung der Kritischen Theorie sei?
Da hängt alles davon ab, was dieser “neomarxistische Rahmen” ist. Und das ist zunächst einmal ein Problem – oder es markiert ein wirkliches Problem. Ich möchte nicht darauf verzichten, die Analyse von Gesellschaften so vorzunehmen, dass der Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und soziokultureller Lebenswelt nicht aus den Augen gerät. Dies wäre wirklich falsch. Wenn das die marxistische Pointe ist, da scheint sie mir weiterhin erhaltenswert. Und die Tatsache, dass ich diesen Zusammenhang noch nicht richtig in den Griff bekommen habe, ist nur ein Ausdruck der Unvollständigkeit meiner eigener Ansätze, und bedeutet nicht, dass ich den Neomarxismus einfach über den Haufen werfen möchte. Habermas selbst hat in der “Theorie des kommunikativen Handelns” diesen Zusammenhang durch die Verkoppelung von System und Lebenswelt auszubuchstabieren versucht. Das ist sein Versuch, das marxistische Erbe gesellschaftstheoretisch einzubeziehen. Etwas ähnliches muss auch ich durchführen; ich muss den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Mechanismen der gesellschaftlichen Integration und lebensweltlicher Realität auffassen. Wie dieser Zusammenhang genau geschieht, ist für mich immer noch eine offene Frage. Ich bin auf dem Weg dahin, mir diesen Tatbestand klar zu machen, aber es ist ein Defizit in meiner Theorie.
Wenn das mit “marxistischen Rahmen” gemeint ist, möchte ihn gar nicht preisgeben. Wenn damit mehr gemeint ist – und man muss jetzt fragen, was dieses “mehr” ist – dann würde ich diesen Rahmen möglicherweise preisgeben. Also das, was ich preisgeben möchte, sind starke sozialontologische Implikationen: etwa bei der Analyse des Warentausches, des Kapitalprozesses und so weiter. Dieser ganze – man kann sagen – linkshegelianische Überhang – Kapitalanalyse, Analyse des Warentausches als Bewusstseinsanalyse: diese ganze Idee, die 50 bis 60 Jahre lang so entscheidend und schon bei Lukacs in einer fundamentalen Weise konstitutiv war – die möchte ich preisgeben. Das, was ich ablehne, ist die Vorstellung, dass wir durch eine Analyse ökonomischer Strukturen zugleich soziale Bewusstseinsformationen untersuchen können. Diese Vorstellung scheint mir das marxistische Erbe des Linkshegelianismus in seiner schlechten Variation zu sein.
Ich möchte noch mal das Projekt einer anerkennungstheoretisch ansetzenden formalen Anthropologie ansprechen. Ein ähnliches Projekt verfolgt Tzvetan Todorov in seinem Buch “Abenteuer des Zusammenlebens”. Können Sie die Differenz zwischen Ihrem Ansatz und dem Ansatz von Todorov beschreiben?
Wir – Todorov und ich – haben uns sogar darüber verständigt. Wir konnten bei einer Konferenz darüber reden. Wir haben dieselbe Grundintuitionen. Auch Todorov behauptet, dass das, was an einer formalen Anthropologie im wesentlichen in den Blick kommen muss, die Abhängigkeit des Subjekts von Anerkennung ist. Das heißt, auch er hat die Grundposition, dass die Anerkennungsstruktur fundamental für die soziale Existenz und für die gesellschaftliche Integration ist. Insofern haben wir sehr viel an Gemeinsamkeiten.
Die Differenzen liegen dann dort, wo wir den Anerkennungsbegriff konkret ausfüllen. Er hat bestimmte Vorstellungen, dass es elementare Formen der Anerkennung gibt – ich glaube, er nennt sie “existentielle Anerkennung”. Je mehr ich mich mit diesem Begriff beschäftige, desto mehr wird mir unklar, was damit im einzelnen gemeint ist. Also, es käme letztendlich darauf an, dass wir gegenseitig überprüfen, was wir unter “Anerkennung” genau verstehen. Da liegen wahrscheinlich die Differenzen. Aber wir sind noch nicht dazu gekommen, diesen Komplex genauer zu analysieren.
Der Gerechtigkeitsbegriff ist durch die Einbeziehung der Idee einer intakten Lebensform zu erweitern.
Herr Honneth, Sie propagieren einen “erweiterten Gerechtigkeitsbegriff” – und zwar auch als Orientierungsmöglichkeit für politisches Handeln. Dabei versuchen Sie die etwa für Rawls oder für Habermas charakteristische Trennung der Fragen des Gerechten von denen des Guten aufzuheben. Nach diesem Begriff ist gerecht nicht nur das, was den Prinzipien der Gleichberechtigung und der Chancengleichheit entspricht, sondern soll Gerechtigkeit auch die Sicherung von intakten Lebensformen bedeuten, die individuelle Selbstverwirklichung ermöglichen. Ich frage mich, ob nicht auf diese Art und Weise der Gerechtigkeitsbegriff viel zu weit ausgedehnt wird, und ob er nicht dadurch seine Beschreibungsschärfe, ja seine Orientierungsfunktion und seine normative Kraft verliert – insbesondere in Fällen, wo die Frage nach der Sicherung von intakten Lebensformen mit dem Prinzip der Gleichbehandlung kollidiert. Ich meine hierbei z. B. die Politik der sogenannten “positiven Diskriminierung”.
Aber die Politik der “positiven Diskriminierung” leitet sich eigentlich vom Prinzip der Gleichbehandlung ab… Oder? Sie ist eine Forderung der Gleichheit, nicht eine Forderung eines erweiterten Gerechtigkeitsbegriffs.
Aber diese Politik erfordert, dass bestimmte kulturelle Lebensformen z. B. von Minderheiten – von bisher benachteiligten Minderheiten – bevorzugt behandelt werden sollen…
Ja, aber das ist jetzt eine komplizierte Frage, wirklich. Ich glaube, wenn wir an Ideen positiver Diskriminierung denken – sei es gegenüber Frauen, oder gegenüber kulturellen Minderheiten – wir eigentlich immer die Gleichheit als leitendes Prinzip vor Augen haben. Wir fordern positive Diskriminierung, um eine Geschichte von Benachteiligungen rückwirkend zu kompensieren. Das heißt, positive Diskriminierung ist eine zeitlich begrenzte Maßnahme im Name der Gleichberechtigung. Für die Begründung solcher Maßnahmen braucht man nicht mal einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff, sondern nur ein Gleichheitsbegriff, der zunächst einmal an der Vorstellung individueller Autonomie orientiert ist. Man argumentiert, dass die Verhältnisse, unter denen Frauen oder kulturelle Minderheiten leben, diese Autonomie einschränken oder eingeschränkt haben. Man fordert positive Diskriminierung gewissermaßen kompensatorisch, um diesen Gruppen die Ausübung der Autonomie zu ermöglichen. Das ist eine Gleichheitsforderung.
Wenn ich nun “erweiterte Gerechtigkeit” sage, dann entsteht natürlich die Gefahr, die Sie meinen – dass der Gerechtigkeitsbegriff seine Eindeutigkeit verliert, die er hat, solange wir ihn im Leitfaden der Idee der individuellen Gleichheit verstehen. Ich glaube jedoch, dass wir schon heute in Situationen leben, bei denen sich diese Unterscheidungen selbst verflüssigen, Situationen, bei denen Problematiken, die man früher vielleicht als ethische Fragen abtun konnte – weil man der Überzeugung war, dass sie sich nicht wirklich konsensuell lösen lassen – zunehmend Herausforderungen stellen, die wir konsensuell lösen müssen. Die ökologischen Probleme wären ein Beispiel dafür, die Probleme der Bioethik ein anderes. Und wir können uns nicht mehr leisten zu sagen, das seien Fragen, die nicht im Kern konsensuell lösbar seien, daher sollten wir es bei den unterschiedlichen kritischen Perspektiven zu ihnen belassen. Vielmehr drängen sich diese Fragen selbst in einer Richtung auf, die uns zwingt, den Gerechtigkeitsbegriff zu erweitern: und zwar durch die Einbeziehung der Idee einer intakten Lebensform. Dadurch wird dieser Begriff natürlich komplexer. Aber ich glaube nicht, dass wir eine andere Chance haben. Die Entwicklung selbst zwingt uns doch, den Gerechtigkeitsbegriff so zu erweitern, dass er über das traditionelle Prinzip der Gleichheit hinaus kommt. Denn wir können es nicht umgehen, bestimmte moralische oder ethische Probleme unserer Gegenwart in einem richtigen Sinn zu lösen, und “richtig” kann nur heißen: “gerecht”.
Ich glaube nicht, dass wir uns bei allen diesen Fragen mit den alten begrifflichen Mustern behelfen können, sondern dass wir sozusagen die soziale Struktur unserer Lebensform selbst zum Bezugspunkt machen müssen. Selbstverständlich ist die individuelle Autonomie ein wesentlicher Bestandteil dieser Struktur. Aber es gehört zu dieser Struktur auch vieles an spezifischen Formen von Sozialbeziehungen, die zu garantieren vielleicht ebenfalls gerecht wäre. Das ist ja die Grundidee.
Sie haben dieses Konzept im Rahmen einer programmatischen Rede bei dem letzten Kongress der Grünen vorgetragen und ihn als ein mögliches Heilmittel für die Identitätskrise dieser Milieus reklamiert, die man hierzulande herkömmlich als “links-liberal” bezeichnet. In Bezug darauf habe ich einige Fragen. Die erste davon wäre, wo Sie eigentlich den Unterschied dieser Milieus von den traditionell sozialdemokratischen sehen?
Das ist eine schwierige soziologische Frage. Es ist sicherlich so, dass das sozialdemokratische Wählermilieu sich immer noch viel stärker aus der Schicht der weitgehend qualifizierten Arbeiterschaft rekrutiert und dort seinen Kern hat, während sich die Grünen in ganz hohem Maße aus akademischen Milieus rekrutieren, und zwar aus Milieus, die sich an den so genannten “post-materialistischen Werten” orientieren. Das sind klassische Entgegensetzungen, die nicht wirklich überwunden worden sind. Die Idee ist, den Grünen ein Programm zu empfehlen, das in sein Zentrum nicht die Ökologie setzt – und auch nicht eine bestimmte Form von Libertanianismus –, sondern sich unter dem Begriff der Gerechtigkeit zu konstituieren versucht. Der Hintergrund eines solchen Vorschlags ist der Versuch, die beiden angesprochenen Milieus anzunähern. Die Frage ist also, ob der klassisch gestrickte Gerechtigkeitsbegriff, der bei dem traditionellen Wählermilieu der Sozialdemokratie eine große Rolle spielt, nicht erweitert werden könnte, um ihn anschlussfähig für die grünen Milieus zu machen. Also die Idee ist, dass sich zwei Lager dadurch stärker annähern, dass sich das eine Lager neu definiert.
Wer heute den Begriff “Multikulturalismus” im Mund führt, hat damit noch gar nichts gesagt.
Zu der Semantik der links-liberalen Milieus – so wie ich sie hier seit fast zehn Jahren erlebe – gehört auch die Idee einer multikulturellen Gesellschaft. Sie haben mal gesagt, “multikulturelle Gesellschaft” sei ein leeres Wort. Wie meinen Sie das? Meinen Sie, dass dieser Begriff keinerlei Erklärungskraft hat, oder meinen Sie, dass er noch nicht präzisiert ist?
Ich meine dies zunächst als Beschreibung des empirischen Tatbestands, dass der Terminus “multikulturelle Gesellschaft” in unterschiedlichster Weise verstanden wird: mal als etwas Gutes, mal als etwas Schlechtes; manchmal weiß man nicht, ob damit ein Rechtstatbestand, oder ein bestimmter soziokultureller Tatbestand, oder nur ein ökonomischer Tatbestand gemeint ist. Das alles ist so vielschichtig und im semantischen Gebrauch so unklar, dass ich zunächst einmal meinte sagen zu müssen, wer heute den Begriff “Multikulturalismus” im Mund führt, damit noch gar nichts gesagt hat. Man muss erst ausführen, was damit wirklich gemeint ist. Den Begriff des Multikulturalismus muss man zuerst mit bestimmten Vorstellungen füllen, erst dann wird der Begriff halbwegs greifbar.
Wie ist es dann zu erklären, dass dieser Begriff eine so große Karriere macht?
Gerade weil er so leer ist… Natürlich verbinden die Grünen damit eine ganz bestimmte Vorstellung. Sie verbinden damit die Idee einer Einwanderungsgesellschaft, in der auch zukünftig die Einwanderungsgruppen kulturelle Minderheiten darstellen, und gleiche Rechte wie die inländischen Bürger genießen sollten. Das ist eine Grundvorstellung, an der man schon sehen kann, dass der so verstandene Multikulturalismusbegriff eine Erweiterung unserer staatsbürgerlichen und verfassungsrechtlichen Vorstellungsmöglichkeiten erfordert. Andere verbinden aber – wenn man an die Konservativen denkt – etwas ganz anderes mit diesem Begriff. Sie meinen nämlich die Gefahr, dass bei der Vermischung von so vielen kulturellen Vorstellungen, Horizonten und Überzeugungen das, was sie als “deutsch” bezeichnen, verloren gehen würde. Das ist eine völlig andere Idee vom Multikulturalismus. Und ich glaube, dass dieser Begriff so prominent ist, weil er ganz vage eine bestimmte Entwicklung markiert, für die wir noch keine anderen, präziseren Begriffe haben.
In der ganzen 68er Bewegung mischten sich irgendwie wahnhafte mit extrem sensitiven Empfindungen.
Jetzt möchte ich einen Sprung machen, obwohl sich die nächste Frage immer noch auf das links-liberale politische Milieu bezieht. Es ist allgemein bekannt, dass ein genetischer Zusammenhang zwischen diesem Milieu und der 68er Bewegung (und seinen Nachwirkungen in den 70er Jahren) besteht. Aus einer externen Position ist es manchmal schwierig nachzuvollziehen, wogegen sich eigentlich der Protest dieser Bewegung richtete. So hat z. B. Angela Merkel neuerdings im Kontext der Auseinandersetzung um die Vergangenheit der grünen Minister Joschka Fischer und Jürgen Trittin behauptet, dass die Bundesrepublik eigentlich seit 1946 ein demokratisches Land sei, und daher die Demokratisierungsforderungen der Außerparlamentarischen Opposition, zu der auch Fischer und Trittin in den 70er Jahren gehörten, völlig gegenstandslos seien.
Das ist eine komplexe Frage, weil die 68er Bewegung unterschiedliche Zielsetzungen hatte. Einige dieser Zielsetzungen waren eingebettet in fiktiven (oder relativ fiktiven) und illusionären Zustandsbeschreibungen. Andere Zielsetzungen lassen sich tatsächlich auf den Nenner einer Demokratisierung, Liberalisierung und auch einer Eingrenzung kapitalistischer Fehlentwicklungen bringen. Man muss sich zuerst den ganzen Komplex von Zielen vor Augen führen: Die Häuserbesetzungen dienten in hohem Maße der symbolischen Artikulation eines eklatanten Missstandes – nämlich der Spekulation mit Wohnungen, durch die eine Vielzahl von Betroffenen in die Gefahr gerieten, obdachlos zu werden. Das war ein ganz konkreter Bezugspunkt des Protestes in der damaligen Situation, der, wie ich glaube, gut begründet war. Hingegen hatte aus heutiger Sicht die Idee, das Proletariat in einem revolutionären Sinne zu mobilisieren, etwas leicht Wahnhaftes. So mischten sich irgendwie in der ganzen Bewegung wahnhafte mit extrem sensitiven Empfindungen. Ökologische Zielsetzungen waren vollkommen fremd. Es gab die Vorstellung davon noch gar nicht. Aber auch die anderen Zielvorstellungen wie Demokratisierung und Liberalisierung kann man nur dann wirklich nachvollziehen, wenn man sich drastisch klar macht, wie die Verhältnisse in den früheren 60er Jahren beschaffen waren: wie die Schulen beschaffen waren, wie die Universitäten beschaffen waren; wie die politische Kultur insgesamt beschaffen war, in der von einer Aufarbeitung der Vergangenheit noch nicht die Rede war, in der es eher eine Tendenz zu einem autoritären Elitedemokratismus gab – als ob dieser eine substantielle Demokratie wäre. Das alles muss man sich vor Augen führen, um sich klar zu machen, wie die Verhältnisse waren.
Ich muss jetzt aber fragen, wie der Zustand der politischen Kultur damals konkret war – abgesehen von den Punkten wie der Aufarbeitung der Vergangenheit, die Sie bereits angesprochen haben…
Man muss sich aber die 60er Jahre vorstellen, nicht die 70er. In den 60er Jahre hatten wir ein hohes Maß an politischem Autoritarismus. Das war die Zeit der Notstandgesetzgebung. Diese Gesetzgebung war ein drastischer Eingriff in das Demokratiegebot der Verfassung. Es gab eine ziemlich ungehemmte kapitalistische Entwicklung in vielen Bereichen. Es gab eine selbstverständliche Autorität des Bürgertums. Das Bürgertum hatte sich gerade – durch das Wirtschaftswunder – in Reichtum hineingearbeitet (oder hineingesetzt) und vermochte, das dadurch angesammelte ökonomische Kapital ziemlich grenzenlos zu benutzen. Das sind alles Randbedingungen, die heute manchmal aus dem Blick geraten, weil man nur die Gewaltbereitschaft und die revolutionäre Euphorie der 68er Bewegung vor Augen bekommt. Um sich diese Randbedingungen zu vergegenwärtigen, genügt es manchmal sogar, sich kommunalpolitische Auseinadersetzungen aus der damaligen Zeit anzuschauen. Während meiner Studienzeit war ich bei den Jusos im Ruhrgebiet. Es gab kaum Kindergärten. Die Idee, dass man privates Eigentum zugunsten öffentlicher Güter auch einschränken darf, war vollkommen fremd. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wir haben damals im Ruhrgebiet dafür gekämpft, dass die Wege zu einem See eröffnet werden. Am See hatten nämlich Privateigentümer ihre Grundstücke und machten es der Gesamtbevölkerung unmöglich, den See zu belaufen. Heute ist es eine relative Selbstverständlichkeit, dass Seegrundstücke einen bestimmten Raum am Ufer für öffentliche Wege frei lassen müssen. Damals war das nicht denkbar.
Dies waren ganz konkrete Zielsetzungen auf lokaler, kommunaler Ebene, die natürlich schwer alle unter einen Begriff zu bringen sind. Und ich glaube, es wäre falsch, alle diese Zielsetzungen unter der Bezeichnung “Antikapitalismus” zu subsumieren, obwohl dies damals die Tendenz war. Es gab wahrscheinlich nicht mal einen einzigen Nenner für die politischen Vorstellungen von einer weiteren Demokratisierung, von Einschränkung kapitalistischer Fehlentwicklungen. Und vor allem die damals angesetzte Liberalisierung von Kindererziehung und Schulpädagogik ist nur auf dem Hintergrund der unglaublich dumpfen, autoritären Atmosphäre der früheren 60er Jahre nachzuvollziehen.
Ein Teil der westlichen Linken vermutet in Osteuropa vormoderne, demokratieunfähige Gesellschaftsformen.
Jetzt möchte ich gerne zum Verhältnis dieses Milieus zu den Transformationsprozessen in Osteuropa kommen. Mein Eindruck ist, dass im Rahmen dieses Milieus, aber auch bei kritischen Intellektuellen in der Bundesrepublik, diese Prozesse überwiegend als ein Ärgernis wahrgenommen werden. Dies ist auf den ersten Blick verwunderlich, denn es handelt sich bei diesen Prozessen unter anderem um Befreiung von Demokratisierungs- und Liberalisierungspotentialen. Wie ist das zu erklären?
Schwierig. Aber ich glaube, Ihre Feststellung ist teilweise richtig. Es stimmt, dass große Teile der Linken entweder indifferent, oder sogar abwehrend zu den Veränderungen in Osteuropa sind. Dem liegt ein bestimmtes Wahrnehmungsschema zugrunde, wonach ein durchgehender Totalitarismus keine demokratiefähige Gesellschaft hervorbringen kann. Dieses Bild wird global projiziert und dadurch kommt diese Reaktion zustande. Aber, natürlich, es wäre falsch zu sagen, die gesamte Linke sei so borniert bzw. so borniert gewesen. Es gab schon immer Teile der Linken, zumindest hier in der Bundesrepublik, die Kontakt mit Intellektuellen aus der DDR suchten, auch Interesse an den Befreiungsbewegungen in Osteuropa hatten. Schon an “Solidarnosc” haben sich die Geister geschieden. Als “Solidarnosc” auftauchte, stand die eine Seite begeistert dahinter, und die andere Seite warnte vor der katholischen Substanz dieser Bewegung. Und diese zweite Seite, die in “Solidarnosc” vor allem eine katholisch-populistische Bewegung sah, bildet der Kreis derjenigen, die bis heute Osteuropa aufgrund von vermuteten kulturellen Gegebenheiten mit Skepsis betrachten. Sie vermuten dort im Grunde genommen vormoderne, demokratieunfähige Gesellschaftsformen. Aus dieser Vermutung wird manchmal Ungarn ausgenommen, manchmal Polen, aber ansonsten wird alles so dargestellt… Aber z. B. Joschka Fischer ist natürlich anders. Er setzt sich sehr stark in seiner Politik für die Osterweiterung der NATO und der EU ein.
Sie haben das Stichwort “post-materialistische Werte” als Identitätsmerkmal des links-liberalen Milieus genannt. Wenn man nun im gesamteuropäischen Kontext – Osteuropa miteinbezogen – denkt, dann stellt sich die Frage, ob dieser Begriff eine tragende Funktion haben kann?
Ich muss dazu sagen, ich finde den Ausdruck “post-materialistische Werte” in vielerlei Hinsicht nicht sehr glücklich. Als Beschreibungsinstrument ist er nicht besonders hilfreich. Ich glaube auch nicht, dass die “post-materialistischen Werte” das Vereinigende in einem erweiterten Europa sein können. Das könnte eher eine bestimmte Idee von sozialer und politischer Demokratie sein. Ich glaube, dass im Unterschied zu den USA der Demokratieprozess in Europa stärker soziale Elemente miteinbeziehen sollte. Ich glaube auch, dass die viel stärkere Aufmerksamkeit für soziale Belange – d. h. nicht nur für die sozioökonomische Lage des Einzelnen – eine Resonanz in Osteuropa hat, und dass deswegen eine Idee von Demokratie, die auch starke soziale Komponenten hat, ein angemessener Integrationsfaktor ist und sein wird.
Ist das nicht eine klassische sozialdemokratische Perspektive?
Ja, ich glaube, man kann so sagen. Vielleicht ist diese Perspektive aber nicht ganz sozialdemokratisch, weil die Sozialdemokratie immer glaubte, dass das Problem der demokratischen gesellschaftlichen Integration durch den klassischen Wohlfahrtsstaat zu lösen sei. Heute wissen wir, dass das so einfach nicht geht. Ich würde immer da hinzufügen – und insofern die sozialdemokratische Perspektive erweitern –, dass das Modell der sozialen Demokratie allein nicht ausreichend ist, sondern dass dazu auch eine pluralistische Unterfütterung hinzukommen muss. Das ist eine viel radikalere Vorstellung als das, was die ehemaligen wohlfahrtsstaatlichen Strukturen geleistet haben. Ich glaube, Europa muss eine enorme Aufmerksamkeit für die Tatsache entwickeln, dass alle seine Mitglieder – und ich glaube wirklich alle europäischen Nationalstaaten – entweder schon jetzt multikulturelle Gesellschaften sind, oder auf dem Weg dahin sind. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist nur eine Erinnerung daran, wie ethnisch vielschichtig Europa ist und wie mosaikreich seine ethnische Zusammensetzung ist. Insofern geht es um die Entwicklung eines gemeinsamen Modells nicht nur einer sozialen Demokratie, sondern auch einer multikulturalistischen Demokratie. Das müssten die beiden Grundprinzipen sein.
Zumeist wird heute das Konzept der Zivilgesellschaft als ein politizistisches Modell dargestellt.
Bei den Transformationsprozessen in Osteuropa bzw. innerhalb der führenden Kräfte dieser Prozesse spielte und spielt immer noch das Konzept der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle. Man kann in diesem Zusammenhang etwa “Solidarnosc” erwähnen, oder aber auch Zoran Djindjic. Sie grenzen sich von diesem Konzept ab…
Ja, aber nur insoweit es als ein gesamtes politisches Programm gedeutet wird. Ich glaube nicht, dass es dazu tragfähig genug ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Idee der civil society – die für mich nur eine andere Formulierung für die alte Idee der demokratischen Öffentlichkeit ist – durch eine Aufmerksamkeit für die sozioökonomischen Ungleichheiten erweitert wird, die die Teilnahme an der Zivilgesellschaft behindern. Zumeist wird heute das Konzept der Zivilgesellschaft als ein politizistisches Modell dargestellt: “politizistisch” deswegen, weil dieses Modell in der Nachfolge von Hannah Arendt die Aufmerksamkeit für vorpolitische Ungleichheiten verliert. Deshalb ist die Idee einer sozialen Demokratie wichtig: Die soziale Demokratie ist ein Prinzip, das es nicht zulässt, genau diesen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren. Es untermauert die Vorstellung, dass die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess in hohem Maße von dem ökonomischen und sozialen Status der Bürger und Bürgerinnen abhängt. Das ist, glaube ich, der große Unterschied zum früheren amerikanischen Demokratiemodell.
Ich weiß nicht, ob die nächste Frage ganz relevant ist, aber ich möchte sie trotzdem stellen. Würden Sie über Erklärungsmöglichkeiten für die ethnischen Konflikte in Osteuropa spekulieren? Wie ist Ihrer Meinung nach der Ausbruch der ethnonationalistischen Kriege im Ex-Jugoslawien zu erklären, obwohl die objektiven kulturellen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen – wie Sie wahrscheinlich wissen – dort gar nicht so groß sind?
Ja, das weiß ich. Ich habe hierzu nur triviale Erklärungen, die wahrscheinlich jeder aufgeklärte und halbwegs soziologisch gebildete Zeitungsleser auch hat. Ich glaube, dieser Krieg hängt in hohem Maße mit der negativen Dynamik zusammen, in die die soziale und politische Unsicherheit hineingezogen war. Im Augenblick, in dem ein relativ autoritäres Regime – das aber immerhin elementare Sicherheiten garantierte –, zusammenbrach, hat sich als ein möglicher Weg abgezeichnet, die entstehenden Unsicherheiten durch die Anbindung an eine kollektive Identität zu verarbeiten. Und der Rückzugsort für eine solche Suche nach Stabilität war geradezu die Konstruktion einer ethnischen Identität, die bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr präsent war. Vor dem Krieg war ich sehr oft in Jugoslawien und kein Kroate hat sich vor mir als Kroate bezeichnet. Die Sprachunterschiede waren minimal. Kulturelle Unterschiede wurden überhaupt nicht mehr betont. Und plötzlich haben sich innerhalb von zwei Jahren alle durch ethnische Merkmale definiert. Man muss sich vorstellen, wie explosionsartig dieser Prozess verlaufen ist. Dafür habe ich kaum eine bessere Erklärung, als die, die viele andere auch haben: dass die sozialen und ökonomischen Unsicherheiten hier eine primäre Bedeutung hatten.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
26.04. und 10.05.2001
Published 8 December 2006
Original in German
First published by Critique & Humanism 22 (2006)
Contributed by Critique & Humanism © Krassimir Stojanov/Axel Honneth/Critique & Humanism Eurozine
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