Das neue Paradoxon

Die USA: ein Land unter vielen anderen?

Vielleicht, so schreibt Per Wirtén, stehen wir jetzt vor einem großen Paradoxon: dass jene Globalisierung, welche viele Europäer als Amerikanisierung betrachten, in Wirklichkeit dazu führt, dass die USA sich von dem einzigen Imperium in ein Land unter vielen verwandeln.

Eine Woche nach den Terrorangriffen auf das Pentagon und das World Trade Center wurde die Zahl der Toten und Vermissten auf 5000 Personen geschätzt. Doch am 20. September revidierte man die Zahl plötzlich. Meine Lokalzeitung hier in North Carolina publizierte an jenem Morgen eine Weltkarte mit der umwälzenden Information, dass Staatsbürger aus 42 verschiedenen Ländern als tot oder vermisst galten. Der Terrorangriff war eine globale und nicht nur eine amerikanische Tragödie.

Kolumbien: 199 Vermisste, Großbritannien: 100 Tote und 200 Vermisste, Israel: 113 Vermisste, Deutschland: 270 Vermisste, Kambodscha: 20 Vermisste, Bangladesch: mindestens 50 Tote, Türkei: 131 Vermisste, Pakistan: ein Toter und von den 650 im World Trade Center arbeitenden Pakistani galt eine unbekannte Anzahl als vermisst. Und so weiter.

Auf einen Schlag stieg die Zahl der toten oder vermissten Personen auf über 6500. Es war, als hätte niemand im ganzen Land bis dahin auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass sich außer Amerikanern auch noch andere Staatsbürger in den Häusern aufgehalten haben könnten. Die Fremden – , wie man in den USA sagt – waren nie in die Schätzungen mit einbezogen worden. Und obwohl ein Viertel der Toten aus anderen Ländern stammte, behandelten Politiker und Journalisten die Katastrophe auch weiterhin wie eine rein amerikanische Angelegenheit. gerieten ebenso schnell wieder in Vergessenheit, wie sie entdeckt worden waren.

Die tiefe Isolation der USA

Als Europäer fällt es schwer, das Ausmaß der Egozentrik der USA und die Tiefe ihrer Isolation von der Umwelt zu verstehen. Es gibt hier eine Inselmentalität, welche in Kombination mit der Position einer Weltmacht sowohl erschreckend als auch unbehaglich ist. Jedesmal, wenn ich hierher komme, verschwindet der Rest der Welt. Dem amerikanischen Imperium haftet etwas zutiefst Widersprüchliches an.

Amerikanische Strategen und Analytiker haben über den triumphalen Sieg des Landes im Kalten Krieg gejubelt. Lediglich ein paar kleine, nebensächliche Säuberungsexpeditionen blieben übrig, bevor sich der Kriegslärm endlich legen und die Welt amerikanisch werden würde.

Aber hinter den Hurrarufen herrscht Verwirrung und eine Art Identitätskrise. Was soll das Imperium eigentlich mit seiner neuen und nahezu uneingeschränkten Macht anfangen?

Man sagt, die USA waren stets hin und hergerissen zwischen Isolationismus und Imperialismus. Vor einem Jahr schrieb der Historiker Robert V. Daniels in der Zeitschrift Dissent, dass die beiden Sichtweisen zwei formative, entgegengesetzte und tief verankerte nationale Selbstbilder mit Wurzeln in der politischen und sozialen Mentalität des frühen 19. Jahrhunderts sind. Seiner Meinung nach hat dieser Gegensatz – oder die Spaltung der nationalen Psyche, wie er es nennt – nach dem Fall der Mauer wieder neu an Aktualität gewonnen und die amerikanische Politik ist seitdem unberechenbar zwischen den beiden Polen dahingedriftet.

Isolationismus geht von der Vorstellung aus, dass die Umwelt als solche eine Bedrohung für die Werte des Landes und dessen weiteres Bestehen darstellt. Es gilt, sich selbst um jeden Preis gegen all diese bekannten und unbekannten Bedrohungen zu schützen. Deshalb brauchte es zum Beispiel erst ein Ereignis wie Pearl Harbor, damit sich die USA widerwillig im Zweiten Weltkrieg engagierten.

Die Erweckungsmission

Die imperialistische Tradition bezeichnet Daniels als “Erweckungsmission”. Er meint, dass sie aus den großen christlichen Erweckungsbewegungen der 1820er Jahre hervorgegangen ist, in deren Rahmen man einen moralischen Auftrag für die Nation formulierte, eine Mission, die Welt zu verändern, in welcher der religiöse Eifer nach und nach durch säkulare Werte wie Demokratie, freie Marktwirtschaft und den “American way of life” ersetzt wurde. Sinn und Zweck ist es nicht, die Welt zu kontrollieren, sondern sie zu retten. Deshalb fällt es den Amerikanern auch so schwer, den Zusammenhang zwischen den Säuberungsexpeditionen in entfernte Provinzen und dem Hass gegen das Imperium zu erkennen, zwischen ihren eigenen Bombern und jenen Verkehrsflugzeugen, die in das World Trade Center und das Pentagon gekracht sind.

Während des Kalten Krieges konnten beide Sichtweisen – Isolationismus und Imperialismus – nebeneinander existieren und einander gegenseitig verstärken. Doch nun wirken sie wie veraltete Tiere aus der Urzeit, gestrandete Wale, die um ihr Überleben kämpfen.

“Niemand sollte es wagen, uns zu sagen was getan werden sollte, da wir es sind, die allen anderen sagen, was sie zu tun haben”, sagen die modernen Isolationisten in der Republikanischen Partei. Die Verfechter des idealistisch motivierten Imperialismus in der Demokratischen Partei klingen ebenso zynisch, wenn sie Zusammenarbeit anbieten, um die Probleme der Welt zu lösen, “aber nur unter der Bedingung, dass ihr unsere führende Rolle anerkennt”.

Hinter beiden Sichtweisen versteckt sich das amerikanische Außergewöhnlichkeitsdenken, d.h. die Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten allen anderen Staaten moralisch und politisch überlegen sind. Dass dieses Land auserwählt ist. “Wir sind die Kinder einer Offenbarung, nicht einer Geschichte, und zusammen mit Präsident Bush können wir deshalb davon ausgehen, dass wir über einen natürlichen Instinkt für das Gute verfügen und uns, mit anderen Worten, nicht um das Gesetz kümmern müssen. Gesetze sind für Menschen da, die unglücklicherweise ohne die DNA der Tugenden geboren wurden.” So schrieb der Chefredakteur Lewis H. Lapham in einer scharfen Abrechnung mit dem “amerikanischen Römischen Reich” einen Monat vor den Terrorangriffen (Harper’s Magazine, August 2001).

Außergewöhnlichkeitsdenken kann aber auch viel einfacher zum Ausdruck kommen. Wenn ich den Amerikanern, die ich hier im Süden treffe, erzähle, dass meine Familie definitiv nicht vor hat, länger als ein Jahr in den USA zu bleiben, reagieren sie für gewöhnlich mit Unverständnis. Warum wollt ihr nicht bleiben? Jeder möchte doch Amerikaner werden! Seltsamerweise leben sie immer noch in der Annahme, dass das Leben in den USA in jeder Hinsicht besser sei als in den Wohlfahrtsstaaten Nordeuropas. Vielleicht traf dies 1967 zu, aber sicher nicht im Jahr 2001.

Es kann aber auch so ausgedrückt werden, wie George W. Bush dies im Juni 2001 getan hat: “Ich bin nach Europa gereist. Und sah, dass wir anders sind, auf eine positive Weise. Dass wir einzigartig sind, auf eine unglaublich positive Weise.” Im übrigen Bushs erste richtige Reise ins Ausland.

Das Ausmaß der Veränderung

Die äußerste und schlimmste Konsequenz des Außergewöhnlichkeitsdenkens ist es, dass die Amerikaner unantastbar und makellos werden. Ohne sie würde die Freiheit ihre Basis verlieren, weggeweht werden und in der ewigen Dunkelheit der Nacht verschwinden.
Nach dem 11. September haben auch in Schweden Verfasser von Leitartikeln und Sprecher diverser Medien ein extrem idealisiertes Bild der USA zum Ausdruck gebracht. Auffassungen, die nach Vietnam, Watergate und Reagan kaum zu hören gewesen waren, sind plötzlich wieder in der öffentlichen Diskussion aufgetaucht.

Man muss nur in den Zeitungen von vor einigen Monaten blättern, um das Ausmaß der Veränderungen zu erfassen. Anfang August veröffentlichte die Washington Post einen satirischen Cartoon, in dem Bush, mit dem geplanten Raketenabwehrsystem am Kopf, durch ein Fernrohr blickt und erklärt, dass er versucht, einen “Schurkenstaat” zu finden. Hinter ihm stehen die gesamten UN, mit den Europäern in vorderster Front, bereit, ihm in den Hintern zu treten. Sie haben soeben einen Schurkenstaat entdeckt, und Bush ist dessen Präsident.

Während des Frühlings und Sommers wuchs eine Woge der Kritik an Bushs arrogantem und diktatorischem Isolationismus heran. Die Vereinigten Staaten hatten das Abkommen von Kyoto abgelehnt, sabotierten die Bemühungen der UN, dem Handel mit Handfeuerwaffen ein Ende zu setzen, weigerten sich, das Abkommen gegen Landminen zu unterzeichnen, lehnten einen zusätzlichen Paragraphen in der Konvention gegen biologische Kriegsführung ab und wandten sich heftig gegen den Internationalen Gerichtshof und damit gegen ein stärkeres globales Rechtssystem.

Die beiden einflussreichen konservativen Kolumnisten Charles Krauthammer und George Will gaben mit ihren spitzen Federn dieser neuen Arroganz des Imperiums einen zusätzlichen Glanz. Krauthammer schrieb in der Time: “[Amerika] ist die dominierende Weltmacht, mächtiger als jede andere seit dem Römischen Reich. Dementsprechend ist Amerika in einer Position, um Normen umzuformulieren, Erwartungen zu verändern und neue Realitäten zu schaffen. Wie? Durch unapologetic and implacable Willensdemonstrationen.” Und George Will gab in der Washington Post noch eins drauf, indem er schrieb, dass die USA alleine am stärksten dastünden.

Extremer Isolationismus

Viele scheinen nun verdrängen zu wollen, dass dieser extreme Isolationismus und das Außergewöhnlichkeitsdenken die grundlegenden Normen für die Auslandspolitik der Administration Bush bilden. Stattdessen werden Hoffnungen gehegt, ebendiese Administration könne nach dem dunklen Kapitel der Terroranschläge eine Verwandlung erfahren, etwas Neues könne hervortreten.

In den ersten Tagen nach den Anschlägen schien es wirklich eine selbstkritische Prüfung zu geben, als wären die formativen Identitäten, von denen Robert V. Daniels spricht, in Schwingung versetzt worden und vielleicht auf dem Weg, ebenso unwiederbringlich zusammenzustürzen wie die Wolkenkratzer im südlichen Manhatten.

Die Tage des einseitigen Isolationismus sind sicherlich vorüber. Doch die Versuche Colin Powells und George Bushs, eine internationale Allianz zu schaffen, Alliierte mit massiver Unterstützung und Schuldenabschreibung zu kaufen, der hastige Beschluss des Kongresses, mit der eigenen Schuldenrückzahlung an die UN zu beginnen, erwecken in mir den Verdacht, dass sich hier eine Sehnsucht nach den längst vergangenen Tagen des Kalten Krieges feststellen lässt. Die Reihen schließen sich. Die Verwirrung endet. Die CIA hat die Erlaubnis erhalten, ihre Versuche, unerwünschte Regime zu destabilisieren, zu korrumpieren und abzusetzen, wieder aufzunehmen. Isolationismus und Imperialismus können wieder miteinander verschmelzen.

Das Problem ist, dass die Welt sich verändert hat. Eine Wiederholung der politischen Muster des Kalten Krieges ist nicht möglich. Dem hat die Globalisierung den Boden unter den Füßen weggezogen. Jede Form von Außergewöhnlichkeitsdenken – sei es amerikanisch, schwedisch oder islamistisch – ist destruktiv für eine internationale Rechtsordnung, auf Dauer unmöglich aufrechtzuerhalten, und sie versperrt jeder Form von grenzüberschreitender Demokratie und Gerechtigkeit den Weg.

Die Bedeutung der Proteste

Gleichzeitig wäre es eine Vereinfachung, bei der Deutung der zukünftigen Rolle der USA innerhalb der internationalen Gemeinschaft die Standpunkte und Vorstellungen der führenden Elite außer Acht zu lassen. Die Stürme während Clintons Präsidentschaft haben gezeigt, dass die Staatsbürger im allgemeinen deutlich klüger und urteilsfähiger waren als die Eliten der Politik und Medien in Washington. Und ich habe das starke Gefühl, dass jene anfängliche Schwingung noch vorhanden ist, dass sie sich in aller Stille durch Vororte, Kleinstädte und Shoppingmalls bewegt und dass am 11. September etwas Grundlegendes ordentlich ins Wanken geraten ist.

Und was passiert, wenn man den Terrorakt in ein größeres Muster wachsenden Bewusstseins für eine widersinnige und ungerechte Weltordnung einbettet? Es war an den amerikanischen Universitäten und innerhalb der Gewerkschaften, wo die Protestbewegungen erstmals in Gang kamen. Die unterschiedlichen Effekte der Globalisierung sind langsam auch in die amerikanische Gesellschaft eingesickert. Auch hier mit der Botschaft, dass kein Mensch und kein Land eine Insel ist. Nicht einmal die USA.

Vielleicht stehen wir vor einem großen Paradoxon: dass jene Globalisierung, welche von vielen Europäern als Amerikanisierung erachtet wird, tatsächlich dazu führt, dass sich die USA vom einzigen Imperium in ein Land unter all den anderen Ländern verwandeln.

Published 14 January 2002
Original in Swedish
Translated by Cornelia Nalepka

© eurozine Arena

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