Bedenke die Form!

Der amerikanische Politikwissenschaftler Tom Lampert im Gespräch mit Heinz Bude und Thomas Medicus

Bereits im Jahre 2001 ist Tom Lamperts Buch “Ein einziges Leben. Acht Geschichten aus dem Krieg” bei Hanser erschienen. Seit 2004 ist es auch in einer englischen Version greifbar. Entstanden auf der Grundlage mehrjähriger Archivrecherchen in den USA, Deutschland, Polen und den Niederlanden, widmet sich die Monographie acht unterschiedlichen Lebensläufen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Obwohl sich gerade das biographische Genre in den letzten Jahren zunehmend der deutschen Vergangenheit zugewandt hat, sind Lamperts Rekonstruktionen bis heute ebenso ungewöhnlich wie wegweisend geblieben. Für eine Bilanz des bundesdeutschen Erinnerungsdiskurses, der sich auf der Schwelle zu einer neuen Epoche befindet, bieten sie sich deshalb ebenso an wie für Sondierungen einer Zukunft des Erinnerns, die faktisch schon begonnen hat.

Vielleicht ist es kein Zufall, daß ein den gewohnten Deutungsmustern deutscher Vergangenheit derart zuwiderlaufendes Buch einen notorischen Abweichler zum Autor hat. Labyrinthisch hat sich der während seiner Arbeit an den “Acht Geschichten” in Berlin lebende Amerikaner Lampert – er hat in Stanford Politikwissenschaft studiert und an der Cornell University promoviert – über die Grenzen seiner eigenen wissenschaftlichen Disziplin wie die der Geschichtswissenschaft hinweggeschrieben. Erich Kube, Erich von dem Bach-Zelewski und Karl Loewenstein werden im folgenden Gespräch stellvertretend für die übrigen fünf Protagonisten des Buches häufiger zitiert. Der Antisemit Erich Kube setzte sich als Generalkommissar in “Weißruthenien” für das Leben von Juden im Minsker Ghetto ein und fiel 1943 einem von Partisanen verübten Sprengstoffanschlag zum Opfer. SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski, “Höherer SS- und Polizeiführer Russland-Mitte”, verantwortlich für zahlreiche Massenvernichtungsaktionen, betrieb sein mörderisches Tun bis zum Ende des Kriegs. Und Karl Loewenstein, Leiter der jüdischen Ghetto-Polizei in Theresienstadt, wurde nach dem Kriegwegen seiner Tätigkeit sowohl der Kollaboration bezichtigt als auch für seinen Widerstand gewürdigt. Um die Komplexität und Ambiguität des dokumentarischen Materials optimal zu entfalten, hat Lampert, wie das Nachwort zu seinem Buch hervorhebt, sämtliche Geschichten nicht als wissenschaftliche Analysen, sondern als Erzählungen verfaßt.

Lamperts biographische Experimente bewegen sich also bewußt im Unerprobten und dem vom offiziellen Erinnerungsdiskurs Mißachteten. Dabei opponiert seine Darstellung der Geschichte nicht nur strikten Gattungstrennungen zwischen Literatur und Dokumentation. Sie pflegt zudem eine Lakonie, die vermeiden will, was Lampert im Gespräch die “Adjektivierung” nennt. Der asketische Umgang mit den Eigenschaftswörtern bringt jene Skepsis zum Ausdruck, mit der Lampert der Instrumentalisierung von Gefühlen und Moralvorstellungen begegnet, die für seine Einschätzung den offiziellen bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurs nicht zu seinem Vorteil geprägt hat. Die Kritik des 1962 in Boston geborenen Lampert wirft im Grunde die Frage auf, ob und wie kollektives Erinnern jenseits einer medial überstrapazierten Wirkungsästhetik von Furcht, Mitleid und Katharsis vorstellbar sei. In diesem Kontext scheint die Tradition einer Geschichtserinnerung auf, die von einer ganz auf die Rationalität moralischer Empfindungen setzenden öffentlichen Meinung in eine andere Sphäre abgedrängt worden ist. Im Rekurs auf Alexander Kluges literarischen Eigensinn wird dem gegenüber das Formbewußtsein eines Erinnerns geltend gemacht, das nicht Wiedervergegenwärtigung will, sondern den irreversiblen Übergang zur Geschichte als Chance für noch unerprobte Weisen des Gedenkens begreift. Ob generationell bedingte Distanzen dem nationalsozialistischen Totalitarismus dank größerer Nüchternheit und kontingenzsensibler Aufmerksamkeit besser gerecht werden, müssen kommende Diskussionen klären. Mögliche Fluchtlinien skizziert das folgende Gespräch.
Heinz Bude und Thomas Medicus

Thomas Medicus: Sie sind Amerikaner und haben lange Zeit in Berlin gelebt. Ist das Holocaust-Mahnmal ein Ort, zu dem Sie gerne hingehen?

Tom Lampert: Ich bin nicht einmal da gewesen. Formelle, institutionalisierte Formen von Erinnerung haben für mich keine große Bedeutung. Ich mag das Repräsentative nicht. Wenn es ein Buch zur Erinnerung an die ermordeten Juden in Europa gäbe, würde ich es auch nicht lesen. Der einzige Ort der Erinnerung, der mich wirklich beeindruckt hat, war Birkenau, das große Lager in Auschwitz, wo einfach gar nichts ist. Dort ist alles heruntergekommen und bleibt sich selbst überlassen.

Heinz Bude: Stört Sie es, wenn Erinnerung in einer öffentlichen Sphäre verhandelt wird?

TL: Nein, im Gegenteil. Erinnerung ist eine öffentliche Angelegenheit. Allerdings schienen mir die Ausstellungen in den ehemaligen Konzentrationslagern, die ich gesehen habe – ich muß gestehen, ich bin seit Jahren nicht mehr in einer solchen Gedenkstätte gewesen –, dem Inhalt und der Form nach sehr schulmeisterlich. Mein Eindruck war immer, daß sie den jeweiligen Gedenkorten einfach nicht gerecht wurden. Zum Teil könnte man von “verwalteter Kultur” sprechen.

TM: Ihr Buch stellt geschichtliche Sachverhalte in Geschichten dar, die für sich stehen. Aber kann man Ihr Unternehmen nicht auch als Intervention begreifen? Erheben Sie Einspruch gegen ganz bestimmte Elemente, Positionen, Einstellungen der offiziellen bundesdeutschen Erinnerungskultur?

TL: Es war mir klar, daß ich nicht in ein Vakuum schreibe. Das Buch sollte eine nichtpolemische Intervention in einer langen Debatte sein. Deshalb kam es mir vor allem auf den Ton an, in dem ich die Sachverhalte darstellte. Im übrigen gab es keine vollständigen Biographien über Wilhelm Kube, Karl Loewenstein oder Erich von dem Bach-Zelewski. Über sämtliche Personen, die im Buch auftauchen, gab es recht wenig oder gar keine Literatur, zum Teil, weil ihre Lebensläufe nicht in die gängigen Deutungsmuster hineinpassen. Kausale Erklärungen des Holocausts kommen mir meistens eher fadenscheinig vor – Daniel Goldhagen ist nur ein extremes Beispiel. Ebenso fraglich finde ich das Pathos. Es ist schwer für mich zu beurteilen, ob es vor 50 Jahren zum Beispiel in Elie Wiesels “Nacht” berechtigt war. Heute, würde ich sagen, ist das eine unangemessene Weise, mit der Vergangenheit umzugehen. Auch die konventionelle Geschichtsschreibung wird in vielerlei Hinsicht der Realität des Nationalsozialismus nicht gerecht. Manche Details sind für Historiker kaum interessant. 1911 erhält Wilhelm Kube von der Berliner Universität ein Moses-Mendelssohn-Stipendium; im gleichen Jahr wird er in einer antisemitischen Studentenverbindung aktiv. Dies in eine diskursive Argumentationsform einzubringen, ist vielleicht schwierig. Ich wollte denjenigen Teil der Geschichte darstellen, der bei Historikern häufig herausfällt. Ich bin nicht gegen diskursives Denken, aber es muß eine Vielfalt von Erinnerungsformen geben. Es gibt weder eine einzige Stimme noch eine einzige geeignete Form.

HB: Sie verwenden den Begriff der “Form” so, als handle es sich um ein Gerechtigkeitsproblem. Wem wollen Sie gerecht werden und was verlangt nach Gerechtigkeit?

TL: Ich habe versucht, der Sache selbst gerecht zu werden. Das hat eine normative und eine empirische Seite. Dabei meine ich nicht Wertfreiheit im Sinn einer Abstinenz von Werturteilen. Es gibt eine empirische Realität, die man dokumentieren kann. Man stößt auf diese Realität zum Beispiel in Archiven oder in Gesprächen mit Zeitzeugen. Man sammelt 20, 40 verschiedene Beschreibungen von Karl Loewensteins Tätigkeit als Leiter der jüdischen Ghetto-Polizei in Theresienstadt. Zum Teil widersprechen sie sich und zum Teil nicht, einmal wird er als Held, sogar als Widerstandskämpfer dargestellt, dann aber auch als Kollaborateur. Als ich darüber schrieb, versuchte ich dieser Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit gerecht zu werden. Und dies nicht nur auf eine empirische, sondern auch auf eine ethische Weise. Für mich war es sehr wichtig, die Kleinkriege, die immer wieder innerhalb der jüdischen Selbstverwaltung in Theresienstadt entstanden, ausführlich darzustellen. Man spricht zwar ungern darüber, aber das ist auch ein Teil der Geschichte. Man darf dabei nicht vergessen, daß es sich um keine wirklich freiwillige Selbstverwaltung, sondern um Deportierte handelte, die anderen deportierten Juden durch ihre Tätigkeit helfen wollten.

HB: Sie wollen also nicht wie ein Historiker hypothetisch-deduktiv eine These beweisen, sondern den Dingen in ihrer Widersprüchlichkeit gerecht werden. Auf welchen Fluchtpunkt bezieht sich Ihr Vorhaben?

TL: Mein Buch ist oft falsch rezipiert worden. Man nahm an, ich hätte einfach Dinge gesammelt und zusammengeschrieben. Aber das ist nicht der Fall gewesen. Ich bin kein Positivist, mit dieser Tradition habe ich wenig zu tun. Ich verstehe mein Buch als ein theoretisches Unterfangen, eine andere Weise, Theorie zu schreiben, nicht in der Form eines Essays, wie etwa der junge Lukács oder Adorno, sondern in Gestalt einer Erzählung. Beim Forschen und Schreiben habe ich bestimmte theoretische Fragen ständig umkreist, beispielsweise: “Was heißt Gerechtigkeit innerhalb eines Konzentrationslagers?” oder: “Rettet man tatsächlich die ganze Welt, wenn man ein einziges Leben rettet?” An diese Fragen bin ich auf eine eher intuitive Weise herangegangen. Man liest einen Bericht über Kube oder Loewenstein und denkt, das ist ja seltsam, was passiert denn da? Das Aufregende an der Arbeit im Archiv war für mich – und ich glaube, das ist sehr stark mit der Idee der offenen Form verbunden – die ständige Unsicherheit: Ich wußte wirklich nicht, was geschehen würde. Und ich habe versucht, für diese Ungewißheit eine angemessene Form zu finden, so daß auch der Leser nicht weiß, was als nächstes passiert. Es ist schwierig, sich an einer These festzuhalten, wenn unklar bleibt, in welche Richtung die Materialrecherche laufen wird. Oder der Sache gerecht zu werden, wenn man von vornherein beweisen will, daß Wilhelm Kube eine Politik in Weißrußland betrieben hat, die mit derjenigen der SS übereinstimmte.

TM: Verteidigen Sie eine bestimmte Form der Erinnerung?

TL: Eine Form nicht, es gibt – wie gesagt – nicht die korrekte Form. Man sollte vielleicht besser sagen: Bedenke die Form! In dieser Hinsicht bin ich epistemologischer Pluralist. Das muß man in einer Welt sein, in der es keinen direkten Zugriff auf die Wahrheit gibt.

HB: In der Geschichtswissenschaft gibt es ja die Diskussion darüber, kontingente Prozesse mit kontrafaktischen Reflexionen zu durchsetzen, um sie dann in narrativer Form darzustellen. Aber was heißt hier “narrative Form”?

TL: Literatur ist für mich kein Gegengift: Das, was in der Wissenschaft fehlt, kann nicht einfach durch die Literatur ergänzt werden. Eine Erzählung ist nicht besser als ein diskursives Argument. Manchmal nenne ich meine Arbeit eine Art Wissenschaft, manchmal eine Art Literatur. Ich stehe auf einer Grenze, aber die Bestimmung des Unterschieds ist für mich nicht besonders wichtig.

TM: Also geht es Ihnen um Offenheit. Welche Bedeutung hat in diesem Kontext die Archivarbeit?

TL: Mir geht es in der Tat um Offenheit, aber auch um Wahrheit. Jeder, der im Archiv gesessen hat, weiß, wie schwierig es ist, an eine Wahrheit heranzukommen. Und manchmal wird er sich sogar fragen, ob es diese Wahrheit überhaupt gibt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Karl Loewenstein fängt circa 1925 an, sich Dr. Karl Loewenstein zu nennen. In Theresienstadt wird von seinem Anwalt einmal behauptet, er habe an der Universität Breslau promoviert. In Breslau finden sich keine Unterlagen dazu, sie sind zum Teil aber auch im Krieg zerstört worden. Loewenstein behauptet zudem, daß er bei der Marine gewesen sei – auch dazu gibt es keine Unterlagen. Mir lag sehr viel daran, herauszufinden, ob er tatsächlich promoviert hat, ob er wirklich bei der Marine gewesen ist, aber ich habe keine endgültigen Beweise erhalten. Vielleicht war dies für die Geschichte letztendlich egal, aber für mich war es damals wichtig. Vieles weiß man einfach nicht, man muß die Geschichten mit den Unterlagen schreiben, die man hat. Ich bin davon überzeugt, daß es eine bestimmte Wahrheit gibt, der man durch Belege und Beweise mehr oder weniger nahe kommt. Dennoch ist diese Wahrheit immer konstruiert, was nicht heißt, es handle sich bloß um eine Fiktion. Vielleicht ist es angemessener, hier von Wahrscheinlichkeit als von Wahrheit zu sprechen.

HB: Bei Ihnen geht es also um das Pathos des Archivs?

TL: In einem Archiv kann man Tausende von Seiten durchblättern, ohne etwas Wichtigem oder Interessantem zu begegnen. Und wenn man dann plötzlich doch etwas findet, ist es oft nicht das, was man erwartet. Die allererste Akte, die ich im Archiv las, hatte eigentlich nichts mit meinem Projekt zu tun. Es waren Stasi-Unterlagen. 1949 beschwerte sich eine Frau in Leipzig, daß Unterlagen aus der Nazizeit auf einer Hoteltoilette in Ost-Berlin als Klosettpapier verwendet würden. Die Papiere waren Akten vom Ende des Zweiten Weltkriegs, in denen ausdrücklich verboten wurde, das Wort “Absetzbewegung” in Bezug auf die sich zurückziehenden deutschen Streitkräfte zu benutzen. Die ostdeutschen Behörden machten sich Sorgen um die Bedeutung dieser Papierverwendung. Ermittlungen wurden eingeleitet: Hat das eine politische Bedeutung, ist es ein Akt von Sabotage? Als ich ein paar Monate später zu Kube recherchierte, stellte ich fest, daß ein SS-Obergruppenführer (Erich von dem Bach-Zelewski) wiederholt nach von ihm befohlenen Massenvernichtungen unter extremen Darmproblemen in Form einer Verstopfung gelitten hat: buchstäblich eine Unfähigkeit zu verdauen. Wenn ich mir so eine Geschichte ausgedacht hätte, würde sie niemand für glaubwürdig halten.

Man sitzt im Archiv, versucht, ein Leben zu rekonstruieren, und stößt dabei auf Lücken, die nicht gefüllt werden können. Ich habe überlegt, ob ich solche Lücken durch fiktive Ergänzungen überbrücken sollte, entschied dann aber, sie zu belassen. Das, was in den Akten stand, schien mir besser als alles, was ich hätte erfinden können. Diese Erfahrung des Archivs wollte ich durch die Form des Buches widerspiegeln, die Widersprüche des Materials beibehalten, um die Deutungsmöglichkeiten offenzuhalten.

TM: Ist die Archivrecherche für Sie demnach interessanter als das Gespräch mit Zeitzeugen?

TL: Ich muß gestehen, daß ich lieber mit geschriebenen Dokumenten arbeite. Es würde mir schwerfallen, lebendige Menschen, die ich persönlich kennengelernt habe, zu verletzten, selbst wenn meine Darstellung vollkommen richtig wäre. Karl Loewensteins zwei Söhne leben noch, sie sind jetzt über 80. Einer von ihnen wollte das Buch nach der Veröffentlichung lesen. Er hatte mir die Benutzung der Entschädigungsakten gestattet, ohne daß er mein Manuskript einsehen wollte. Wäre dies nicht der Fall gewesen und hätte er meine Darstellung vor der Veröffentlichung zensieren wollen, hätte mich das in große Verlegenheit gebracht. Ich habe kein verzerrtes Bild seines Vaters entworfen, aber eben doch ein sehr kritisches.

Interviews mit Zeitzeugen scheinen vielleicht unvermittelter, authentischer zu sein. Allerdings wissen die Historiker, daß Zeitzeugen Aussagen viel Wahres enthalten, aber auch sehr verzerrend sein können.

HB: Vieles von dem, was Sie sagen, erinnert an Adornos Idee einer Rettung des Nicht-Identischen. Spielt dies Konzept eine Rolle für Sie?

TL: Ja. Die Wirklichkeit stimmt mit den Begriffen nie vollkommen überein. Vielleicht ist es diese Unzulänglichkeit des rein Begrifflichen gewesen, die mich immer weiter vorangetrieben hat. Irgendwann kam mir herkömmliche Theorie – auch im Sinne von Adorno – etwas leer vor, es fehlte der Widerstand der Dinge, des empirischen Lebens. Ich habe über Weber promoviert und dessen Begriff der Objektivität untersucht. Nach Weber kann die Objektivität der Sozialwissenschaften weder in den Dingen selbst noch in den Werten der Wissenschaft oder Wissenschaftler begründet werden. Weber löst diese Aporie nicht, deutet aber manchmal darauf hin, daß Objektivität eigentlich ein subjektives Ethos sei, eine theoretische Haltung der Offenheit. Schon in meiner Doktorarbeit habe ich versucht, die praktischen Konsequenzen dieser theoretischen Aporie durch dokumentarische Erzählungen zu entfalten: Die Arbeit beginnt und endet mit Rekonstruktionen von Webers Begegnungen mit Studenten, insbesondere mit linken und dann rechten Studenten in München kurz vor seinem Tod. Mein Buch über die NS Zeit kann als eine Weiterführung dieser Problematisierung der Form verstanden werden. In dieser Hinsicht spielt Alexander Kluge eine wichtige Rolle. Für mich ist er, und nicht etwa Jürgen Habermas, der Nachfolger Adornos. Ich meine nicht Kluges theoretische Arbeiten, sondern seine Erzählungen, insbesondere “Lernprozesse” und “Neue Geschichten”, die ich (gegen Kluges eigenes Verständnis) nicht als belletristische Literatur, sondern als eine Art erzählerischer Theorie verstehe.

TM: Der eine Gegenbegriff scheint für Sie der der “Allgemeinheit” zu sein. Ist ein zweiter der des “Erlebnisses”?

TL: Das Problem ist nicht der Begriff der Allgemeinheit oder allgemeine Begriffe, ohne die wir schließlich nicht denken könnten. Es ist auf der einen Seite der Begriffsimperialismus und vielleicht das unvermittelte oder nicht reflektierte Erlebnis auf der anderen. Wenn ich schreibe, tendiere ich immer zur dritten Person, ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, etwas als Ich-Erzähler zu verfassen. Trotzdem ist das Erlebte, das Empirische ungemein wichtig für mich, sonst wäre ich nicht getrieben, Geschichten zu sammeln, zu entdecken, zu rekonstruieren.

HB: Und wie stellt sich die Distanz ein, von der Sie sprechen?

TL: Diese Haltung gehört sicherlich zu den Grundzügen meines Charakters, wahrscheinlich angeboren und 43 Jahre lang trainiert. Aber die Tatsache, daß ich kein Deutscher bin, sondern Amerikaner, spielt auch eine Rolle – wenigstens bei diesem Thema. Ein Grund, warum ich das Buch geschrieben habe, war die späte Entdeckung, daß mein Großvater Jude gewesen war. Allerdings identifiziere ich mich weder mit den Tätern noch mit den Opfern in irgendeinem stärkeren Sinn. Es wäre für mich verlogen, zu behaupten, ich hätte das Recht, mich mit den Opfern in eine direkte Verbindung zu bringen, weil ich einen jüdischen Großvater habe. Das wäre die Ausbeutung einer wiederentdeckten Vergangenheit.

Diese Distanziertheit ist auch durch meine Ausbildung, die langjährige Beschäftigung mit theoretischen Fragen, gestärkt worden. Daraus ist für mich so etwas wie ein hermeneutischer Imperativ entstanden.

HB: Man könnte sich aber doch auch fragen, ob Sie wirklich pluralistische Toleranz üben oder ob Sie den Deutschen vielmehr sagen wollen, wenn ihr mein Buch lest, werdet ihr bemerken, daß sich viele von euch in die Tasche lügen?

TL: Ich glaube nicht, daß es intolerant ist, kritisch zu sein. Andererseits bin ich nicht unbedingt der beste Kommentator meines Buches. Es ist eben der Versuch, Geschichte in einer bestimmten Weise durch Geschichten darzustellen. Und ich behaupte nicht, daß meine Herangehensweise die einzig richtige oder daß die Thematik damit erledigt sei.

TM: Erinnerung als emotionales Erlebnis und Geschichte als Gelegenheit für solch ein Erlebnis – dagegen steht Ihr Distanzbegriff doch auch?

TL: Ich stehe rührenden Erinnerungen sehr skeptisch gegenüber. Häufig haben sie etwas manipulatives an sich: Die Katharsis ist eher künstlich, instrumental. Es erinnert ein bißchen an die Szene aus der “Blechtrommel”, wo Zwiebeln geschnitten werden, damit man weinen kann. Als der amerikanische Schriftsteller Richard Wright seine ersten Kurzgeschichten veröffentlichte, waren viele weiße Leser zu Tränen gerührt, haben ihr normales Leben dann aber weitergeführt. In Native Sonwollte Wright damit Schluß machen und ein wirklich hartes Buch schreiben. Das Ergebnis gefällt mir eigentlich nicht, aber ich verstehe den Impuls. Einmal habe ich Lea Rosh in der Berliner Philharmonie erlebt. Sie sprach über die Ermordung der Roma und Sinti während der NS-Zeit. Wir waren alle zutiefst getroffen, aber am nächsten Morgen konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, worum genau es ging. Für mich war das ein emotionales Erlebnis ohne Wirkung.

TM: Gottesdienst?

TL: Eine distanziertere Schreibweise eröffnet dem Leser mehr Möglichkeiten, über das Geschehene, das Erzählte nachzudenken. In meinem Buch wollte ich, daß sich der Leser in die Rollen und Personen der Erzählungen hineinversetzt, nicht auf einer emotionalen, sondern auf einer intellektuellen Ebene. In dieser Hinsicht war mir der Begriff des Humors oder des Komischen wichtig. Dies scheint eher von amerikanischen Lesern wahrgenommen zu werden, wenigstens sprechen sie offener darüber. Abschrecken und sich schuldig fühlen, mag für gewisse Momente richtig sein, aber auf Dauer sind solche Gefühle und Affekte eher kontraproduktiv. Es geht meiner Ansicht nach vielmehr darum, dem Leser Raum zu schaffen, darüber nachzudenken, was in den Geschichten, was in der Geschichte passiert. Vieles Schreckliche ist geschehen, das einfach festzustellen bringt einen aber nicht weiter.

HB: Humor nicht als eine Art der Selbstbewahrung, sondern als Voraussetzung dafür, sich der Wirklichkeit auszusetzen?

TL: Es gibt verschiedene Arten von Humor: Humor kann, wenn nicht befreiend wirken, so doch zum Überlegen führen, kann umgekehrt aber auch alle Reflexionen abtöten; es kommt immer darauf an, wie er verwendet und eingesetzt wird. Aber ich wollte etwas anderes ansprechen: Im Buch ging es mir auch darum, theoretisch die Perspektive eines Mörders einzunehmen. Das ist keine normative Bewertung, sondern eine theoretische Haltung, im Sinne von Kants Maxime, derzufolge wir an der Stelle des anderen denken sollen. Wenn ich über einen SS-Obergruppenführer schreibe, ist das für mich auch ein Versuch, dessen Perspektive einzunehmen. Das ist, glaube ich, moralisch notwendig, weil keiner von uns behaupten kann, daß wir, wenn wir 1899 geboren worden wären, nicht das gleiche getan hätten wie er. Ich denke, man sollte sich dessen bewußt sein, wenn man solch eine Geschichte liest.

TM: Das Böse ist also nicht das ganz andere?

TL: Absolut nicht. Das ist meines Erachtens Theologie. Jeder von uns hätte so handeln können. Deswegen ist es für mich so wichtig, auf einer theoretischen Ebene nicht nur die Perspektive der Opfer, sondern auch die der Täter einzunehmen. Wir machen es uns viel zu bequem, wenn wir uns nur mit den Opfern identifizieren. Nebenbei gesagt, liegt etwas irreführendes im Begriff “Täter”, denn die Opfer waren nicht einfach tatenlos, sie waren ja auch handelnde Subjekte.

TM: Stichwort “Eigenschaften” – irgendwo sagt Roland Barthes sinngemäß, die Adjektive seien die Einfallstore des Imaginären. Welche Berechtigung haben solche Eigenschaftswörter?

TL: Adjektive funktionieren oft wie Weichen. Sie bestimmen, ob man in diese oder eine andere Richtung fährt. Als ich das Buch schrieb, habe ich versucht, strengen Regeln zu folgen. Ich wollte dokumentarisch bleiben, fühlte mich allerdings immer wieder versucht, ein ironisches oder kritisches Adjektiv hineinzunehmen. Häufig habe ich Überschriften, die meist aus den Unterlagen entnommen waren, als Kommentar verwendet. Im allgemeinen würde ich sagen, ich habe ein sehr adjektivarmes Buch geschrieben.

HB: Glauben Sie, daß in Deutschland in Bezug auf den Holocaust eher ein Übermaß an Adjektiven verwendet wird?

TL: Mit Adjektiven werden häufig Markierungen gesetzt, die besagen sollen, hier ist meine Position. Das sind Pfeile, die darauf hinweisen, daß dieses und jenes schrecklich oder nicht schrecklich, der und jener ein böser oder kein böser Mensch war. In diesem Sinn sind Adjektive eine Form von Kommentar, die meistens überflüssig ist und einfach weggelassen werden sollte. Zum Beispiel verwendet Christian Gerlach in seinem Buch “Kalkulierte Morde” das Adjektiv “stolz” in Bezug auf Wilhelm Kube zweimal innerhalb von 20 Seiten. Er schreibt: “Kube berichtete am 23. November [1942] stolz, es seien nur noch 30000 Juden am Leben…” (S.690) und Kube habe “in Minsk … 1943 einer Delegation italienischer Faschisten stolz einen Gaswagen und die Habe der toten Juden” vorgeführt (S.708). In den Unterlagen habe ich das Wort nicht gefunden.

HB: Hat Sie die Verwendung des Adjektivs “stolz” geärgert?

TL: Es hat mich gewundert. Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber es sieht so aus, als ob man das Adjektiv einfach wegstreichen könnte. Es ist an sich ein sehr gründliches Buch. Wahrscheinlich ist etwas anderes im Spiel. Ich glaube nicht, daß man so verfahren würde, schriebe man etwa über die Geschichte des 30jährigen Kriegs.

TM: Was ist denn im Spiel?

TL: Ich vermute, daß man als Deutscher immer klar sagen will, ich gehöre nicht zu denen. Ich stehe auf der anderen Seite, ich bin jemand, der dagegen ist. Indem der Text Kube als “stolz” identifiziert, verschiebt er das Böse ins moralische Jenseits und entlastet dabei Autor und Leser zugleich: “Wir” sind es nicht. Die Unterlagen selbst sprechen eine nüchternere Sprache. Ich glaube nicht, daß die Hinzufügung solcher Wörter zu einem Verständnis der Geschichte beiträgt. Das sind nicht Pflugscharen, das sind Schwerter. An sich sind Haß und Empörung nichts Verwerfliches. Ich bin nur skeptisch, weil gerechte Empörung letztendlich eine Waffe ist, die in jede Richtung zielen kann.

HB: Ist Christian Gerlach mit der Verwendung des Adjektivs eher leichtfertig oder hilflos?

TL: Er polemisiert gegen Leute, die behaupten, Kube habe versucht, Juden zu retten und eine ganz andere Politik als die der SS betrieben. Er will diese Position sozusagen demolieren. Meines Erachtens ist das eine sinnlose Polemik, sogar wenn er recht hat. Es kommt immer darauf an, wie man argumentiert.

TM: Darf ich für einen Moment das hypothetische Wir eines Deutschen annehmen und sagen, vielleicht verlangen Sie da zuviel von uns? Vielleicht haben wir das noch nötig?

TL: Dann würde ich aber noch weitergehen. Ein Grund, warum die viel beschworene Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland zum Teil fehlgeschlagen ist, ist eine Voreingenommenheit, die zu Ressentiments führt. Wird Geschichte instrumentalisiert, dürfte man eigentlich nicht überrascht sein, wenn so etwas als Reaktion entsteht. Zu den vorbeugenden Maßnahmen gehört zum Beispiel, daß Hitlers Mein Kampf hier nicht gekauft werden kann. Solch eine Maßnahme halte ich in einer Demokratie, die auf mündige Bürger Wert legt, für völlig falsch. Ich erwarte nicht zuviel, ich würde eher sagen, Sie erwarten zu wenig.

HB: Es gibt ja viele, die sagen, daß die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland letztlich ganz gut gelaufen ist. Was würden Sie sagen?

TL: Ich möchte nicht behaupten, alles sei falsch gelaufen. Ich will auch nicht kausal argumentieren und sagen, instrumentalisierte Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit führen zu Rechtsradikalismus. Das wäre zu einfach. Trotzdem glaube ich, es gibt angemessenere Weisen, mit der Vergangenheit umzugehen. Das Moralisieren mit dem Hammer ist meines Erachtens ein Holzweg.

TM: Sie sagen, daß Lücken, die ein Historiker nicht auffüllen sollte, Diskontinuität und Fragmentarisches zu dem Formbewußtsein gehören, mit dem Sie Ihr Buch verfaßt haben. Nun ist es doch interessant, festzustellen, daß Sensibilitäten für diese Fragen im offiziellen Erinnerungsdiskurs so gut wie keine Rolle spielen.

TL: Eine Bekannte sagte mir, sie habe nach eineinhalb Geschichten aufgehört, mein Buch zu lesen, weil sie die ständigen Unterbrechungen im Text genervt hätten. Das ist ihr gutes Recht. Es gibt andere Bücher, andere Formen. Andererseits werden unsere ästhetischen Erwartungen von Kindheit an durch die verschiedenen Medien trainiert, man könnte auch sagen, eingeengt. Oft läßt sich der Unterschied zwischen einer schlechten und einer weniger schlechten Fernsehproduktion gerade an der Tatsache ablesen, daß in der schlechteren die Handlung nicht nur gezeigt oder angedeutet, sondern ständig von den Darstellern selbst erklärt wird, als ob die Sorge bestünde, die Zuschauer kämen nicht nach. Darin wird deutlich, wie wenig man dem Publikum zutraut. Solches Mißtrauen mag berechtigt sein, soweit das Fernsehen als Nebentätigkeit beim Essen, Bügeln oder Telefonieren betrachtet wird.

Doch läßt sich Ähnliches in der Erinnerungskultur beobachten, besonders bei einem so heiklen Thema. Offenbar traut man dem Publikum wenig zu. Alles muß gezeigt und erklärt werden, präventive Maßnahmen werden ergriffen, das Material wird vorgeformt und vorbeurteilt.

HB: Wie sehen methodische Vorkehrungen aus, die getroffen werden müssen, um ein Buch wie das Ihrige zu schreiben? Man könnte ja sagen, Sie haben das Glück der Person, sind Amerikaner und zufälligerweise der Enkel eines jüdischen Großvaters. Wenn mir ein solches Glück nicht widerfährt, was dann?

TL: Ihre Frage ist schwer zu beantworten. Als Doktorand fühlte ich mich immer durch die etablierten Spielregeln der Universität eingeschränkt. Das Buch war für mich ein Versuch, die Regeln so zu bestimmen, daß sich verschiedene Fähigkeiten und Talente, die ich zufälligerweise besitze, entfalten konnten. Ob sich dieses Vorgehen verallgemeinern läßt, weiß ich nicht.

HB: Könnten Sie aus Ihrer Erfahrung eine paar To-do-Sätze für den “jungen Menschen” formulieren, der sich in Deutschland mit dem Nationalsozialismus beschäftigt? Gibt es eine Methode Lampert?

TL: Methodologisch betrachtet stellen die Shoah und der Nationalsozialismus nichts Besonderes dar. In empirischer Hinsicht schon, aber in methodologischer nicht, darauf möchte ich bestehen. Man sollte an diese Vergangenheit mit der gleichen Offenheit und der gleichen Vielfalt von Ansätzen herangehen, wie an jedes andere historische Ereignis. Dabei geht es mir nicht um Provokation oder Tabubruch, sondern schlicht um die Tatsache, daß wir als endliche Wesen nicht in der Lage sind, im voraus festzulegen, was unsere Untersuchungen hervorbringen werden. Das Spannende an der Zukunft ist, daß wir nicht wissen können, wie unsere Gegenwart beurteilt wird, wenn sie einmal Geschichte geworden ist. Es ist durchaus möglich, daß unsere Nachkommen mit selbstverständlicher Entrüstung darüber schreiben werden, nicht nur wie irrsinnig und verbrecherisch wir Menschen unsere Naturressourcen verschwendet, sondern auch wie gräßlich wir die anderen Lebewesen auf unserem Planeten behandelt haben. Aus diesem Grund sind sogar Vergleiche zwischen Vernichtungslagern und unseren heutigen Schlachthäusern – häufig von Tierrechtlern gezogen – legitime Ansätze, auch wenn der Eifer, historische Katastrophen aneinander zu messen, mehr als fragwürdig erscheint.

Das Gespräch wurde am 24. März 2006 in Berlin geführt.

Published 12 July 2006
Original in German
First published by Mittelweg 36 3/2006

Contributed by Mittelweg © Tom Lampert / Heinz Bude / Thomas Medicus / Mittelweg 36 / Eurozine

PDF/PRINT

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion