Blick zurück (2009/2010)

I.

Zum ersten Mal war ich 1958 – mit neun Jahren – im Ausland. Wir lebten damals in Zadar, von wo es eine direkte Schiffsverbindung nach Ancona gab. Dort holten Tante und Onkel mich und die Großmutter mit ihrem kleinen Fiat ab.

Zu der Zeit war eine Reise ins Ausland keine kleine Sache, nicht für uns Jugoslawen und erst recht nicht für die Menschen in den Ländern des Ostblocks. Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich die Treppe zum Schiff hinauflief, mir war vollkommen bewusst, dass diese Reise etwas Außergewöhnliches war und uns zu einem verzauberten Ort bringen würde, an dem Schönheit und Überfluss herrschten. Das wusste ich genau, denn von Zeit zu Zeit bekamen wir Pakete voll feiner Kleidung, Spielsachen und Schokolade, wie um die Existenz dieses Zauberorts zu beweisen. Besonders genau erinnere ich mich an den ersten Besuch der Standa-Filiale in Neapel. Für ein Kind, das an Gemischtwarenhandlungen und das bescheidene Angebot von NAMA gewöhnt war, glich dieses Kaufhaus einem Traum. Und vielleicht waren nicht einmal meine Träume so rappelvoll mit bunten Dingen angefüllt wie La Standa. Ich war von ihrem Anblick geblendet.

Kurz vor unserem Besuch hatte die italienische Kette eine neue Form des Verkaufs eingeführt: die Selbstbedienung. Nicht nur das kleine Mädchen aus Jugoslawien, alle Besucher wunderten sich, dass sie selbst auswählen durften, was sie zu kaufen wünschten. Anfangs glaubte ich bei unserem Rundgang durch das Haus nicht, dass ich wirklich alles nach Lust und Laune berühren und in die Hand nehmen durfte. Aber in der Spielwarenabteilung widerstand ich nicht länger und griff nach den Puppen. Es gab viele verschiedene; mich interessierten am meisten die damals populären Riesenbabys. Die glückliche Eigentümerin setzte sie zur Zierde auf Couch oder Bett. Alle Mädchen beneideten sie, obwohl man mit einer solchen Puppe nicht spielte. In ihrer kitschigen Schönheit personifizierte sie die neue Welt, die sich vor meinen Augen ausbreitete. Und als mir die Tante sagte, ich solle mir eine aussuchen, konnte ich mich nicht entscheiden. Ich quälte mich eine Weile und brach dann in Tränen aus. Die Auswahl war schlicht zu groß für ein Kind aus einer Gegend, in der es fast gar keine Puppen zu kaufen gab.

Rund vierzig Jahre später erlebte ich beinahe die gleiche Szene bei Bloomingdale’s in New York. Ich beobachtete zwei Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, offensichtlich Mutter und Tochter, wie sie Unterwäsche kauften. Die Abteilung erstreckte sich über das gesamte Stockwerk, und die beiden irrten herum, jede einen Berg Unterwäsche über dem Arm. Sie wirkten müde und verloren. Die Mutter kapitulierte als Erste, ließ die Unmassen von Seidenteilen einfach fallen und brach in Tränen aus. “Ich kann mich nicht entscheiden”, sagte sie und sank auf einen Stuhl.

Weder in jenen lang zurückliegenden Jahren im Standa noch bei den vielen anderen Gelegenheiten habe ich den Verlockungen gänzlich widerstanden. Bei späteren Ausflügen in den Westen hatte ich gelernt, Dinge auszuwählen – aber ich brauchte dafür Devisen. Devisen tauschte man auf dem Schwarzmarkt und brachte sie illegal über die Grenze, zum Beispiel im Büstenhalter. Das hinderte uns – die Nachkriegsgeneration – indessen nicht daran, durch die Welt zu reisen, nachdem sich Mitte der Sechzigerjahre der staatliche Zwangsgriff gelockert hatte. Ganz im Gegenteil, gewöhnlich fuhr ich mindestens einmal jährlich nach London oder in eine andere europäische Metropole, um Bücher, Schallplatten oder Kleidung zu kaufen. Und Schuhe, wenn wir schon dabei sind. Obwohl man sich für Schuhe (und Jeans!) nur ins Auto setzen und nach Triest fahren musste, dem nächst gelegenen Ort zum Einkaufen.

Die Auslandsreisen waren entscheidend für das, was später geschah: Sie gaben uns das Gefühl der Freiheit und Gleichwertigkeit mit den Westlern. Von diesen Reisen kehrten wir befriedet zurück, im Grunde korrumpiert von dem listigen Regime. Und nicht nur das, wir fühlten uns den weniger glücklichen Nachbarn aus dem Ostblock überlegen. Wenn wir in die Tschechoslowakei, nach Polen, Ungarn oder Bulgarien fuhren, verkauften wir denen normalerweise gegen gutes Geld Jeans.

Aber so wie es aussieht, haben wir uns weit unter Wert verkauft. Als der Sozialismus zerfiel, hatte Polen die Solidarnosc und Lech Walesa, Ungarn den Bürgerbund Fidesz, Bulgarien seinen Schelju Schelew, und in Jugoslawien gab es keine breite Demokratiebewegung. Im Rückblick scheint mir, dass die Tatsache, dass wir weniger unter der Repression eines Sozialismus “mit menschlichem Antlitz” zu leiden hatten, und die Tatsache, dass sich im Gegensatz zu den Staaten des Ostblocks keine liberale Opposition formierte, zusammenhängen. Der große Fehler meiner Generation war die fehlende Einsicht in die Unentbehrlichkeit dieser Opposition. Wir haben versagt, weil wir als Letzte noch geglaubt hatten, man könne sich mit dem Sozialismus arrangieren.

Ein paar Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens füllten die Kommunisten, die (wie Slobodan Milosevic und Franjo Tudman) Nationalisten geworden waren, die Leerstelle. Der Nationalismus war die einzige organisierte politische “Alternative”, und das hat uns direkt in die Kriege in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo geführt.

Ja, meine Generation hat zu gut gelebt und deswegen offensichtlich die Freiheit einer Demokratie mit der Freiheit verwechselt, im Westen einkaufen zu können. Und in einer geradezu mittelalterlichen Gerechtigkeit haben wir das mit den folgenden Kriegen bezahlt – denn unsere Kinder führten diese Kriege, wurden getötet und verkrüppelt.

Wann immer ich an jenen Tag im Standa denke, fühle ich mich irgendwie dafür verantwortlich.

II.

Wenn ich mir das Paradies auf Erden vorstelle, ist es eine kleine, einsame Insel mit Pinien und Kiesstränden mitten in einem türkisblauen Meer. Dieses Paradies zeigte sich mir, als ich eines Tages mit dem Schiff von Fazana nach Veliki Brijun fuhr.

Offenbar empfand Josip Broz Tito genauso, der im fernen Jahr 1947 die Inselgruppe Brijuni (die unmittelbar danach Brioni hieß) zum ersten Mal besuchte. Nur dass für ihn im Gegensatz zu mir das Leben im Paradies auf Erden rasch Realität wurde. Nicht lange und der Präsident Jugoslawiens verfügte über eine Residenz auf dem Inselchen Vanga, und in den dreißig Jahren, die er dieses Privileg genoss, verbrachte er pro Jahr bis zu vier Monate dort. Aber er hat sich auf Vanga natürlich nicht nur erholt, keineswegs! Seine Urlaube waren selbstverständlich Arbeitsurlaube, während derer er das Land, die Partei sowie das Militär führte und nebenbei unzählige Staatsmänner, Film- und sonstige Stars aus der ganzen Welt empfing, die den Ruhm Brionis allüberall verbreiteten. Darüber unter anderem informiert die Fotoausstellung “Tito na Brijunima” (Tito und die Brijuni-Inseln), die bereits 1984 in einem Museum in der Nähe des Hafens eröffnet wurde. Im ersten Stock sind die Aufenthalte Titos im Brioni-Archipel dokumentiert, von seinem ersten, schicksalhaften Besuch bis zum letzten im Mai 1979. Auf Hunderten sepiafarbener Fotografien reihen sich offizielle wie private Begebenheiten aus dem Leben des Präsidenten aneinander, etwa die berühmte Mandarinenernte, gesellige Abende mit Schauspielern, Entspannung beim Drechseln an der Drehbank, mit dem Jagdgewehr und so weiter. Damit werden Leben und Werk des “größten Sohns unserer Nationen und Nationalitäten” – der “naroda i narodnosti”, wie es damals hieß – dokumentiert oder besser gesagt verherrlicht.

Diese fünfundzwanzig Jahre alte Ausstellung ist nur ein winziges Mosaiksteinchen des Personenkults, den die Nationen und Nationalitäten aus dem jugoslawischen Raum systematisch aufbauten und pflegten.

Als Gegenpol zu dieser Glorifizierung und Mythologisierung einer historisch bedeutsamen Persönlichkeit erschien kürzlich ein Buch, demzufolge diese Persönlichkeit, egal, wie historisch bedeutsam sie gewesen sein mag, durchaus nicht unstrittig ist. Gemeint ist der im Verlag der Vechernji List veröffentlichte Band Tito – fenomen stoljeca (“Tito, das Jahrhundertphänomen”), vorgelegt von Pero Simic, einem Journalisten aus Belgrad (mit einem Vorwort von Zvonimir Despot und einer Einleitung von Antun Vrdoljak) – und es liest sich wie ein Krimi! Denn es erzählt eine außerordentlich interessante, verwickelte Geschichte nach dem Motto: “Was Sie schon immer über Tito wissen wollten, aber sich nie zu fragen getrauten!” Simics Buch will mit Geheimnissen und Halbwahrheiten über Titos Leben aufräumen, es bedient sich dabei einer Reihe verschiedener Quellen und zitiert sie ausführlich. Es enthält Fotografien und Fotokopien verschiedener Dokumente, von denen manche noch nie öffentlich gezeigt wurden. Ziel ist die Demontage von Tito als Person und politischer Stratege. Für Simic war Tito von dem Moment an, in dem er sich für die Politik entschied, ein geschickter Manipulator, Lügner und Falschspieler, ein ehrgeiziger Mann, der keine Skrupel kannte, reihenweise Mitarbeiter und sogar Freunde ermorden ließ, Massenexekutionen wie in Bleiburg befahl oder die Gefangeneninsel Goli Otok einrichten ließ. Da diese Anschuldigungen auf Zitaten gründen, können im Grunde nur Fachleute den Wert dieses Buches beurteilen. Seine Glaubwürdigkeit hängt von der Glaubwürdigkeit der Quellen ab, zu der sich die Historiker vermutlich äußern werden. Solange sie das nicht getan haben, kann der gewöhnliche Leser Simics Buch nicht anders als eben einen Kriminalroman lesen.

Brijuni habe ich mit einem Freund besichtigt, einem Auslandskorrespondenten, der für die Berichterstattung aus unserem Land zuständig war. Nach dem Besuch der Ausstellung fragte er mich, warum es über Tito keine Referenzbiografie gäbe, eine, auf die man sich verlassen könne. Obwohl über Tito mehr als tausend Bücher geschrieben wurden, ist das eine gute Frage, auf die es viele Antworten gibt, aber keine wirklich befriedigende: Die Spanne reicht von zu wenig Zeit – im ehemaligen Jugoslawien herrschte schließlich lange Krieg – bis zu der ganz allgemein in diesem Raum ziemlich komplizierten Beziehung zur Vergangenheit … Aber dreißig Jahre nach seinem Tod sei es doch wohl trotzdem höchste Zeit für eine ernstzunehmende Biografie, insistierte er. Ja, und höchste Zeit, dass endlich Tatsachen und Fakten an die Stelle von Mythen und Ideologie treten, dachte ich. Wir haben Hunderte Male gehört, auf dem Balkan gebe es “zu viel Geschichte”. Stimmt, aber nur mit Blick auf die historischen Ereignisse, nicht, wenn es um Geschichte als Wissenschaft geht. Sowohl die Ausstellung auf Veliki Brijun als auch das Buch sind gute Beispiele dafür.

Am Kai in Fazana ging, während wir auf die Fähre zur Insel warteten, Präsident Stipe Mesic mit einigen Leibwächtern an Land. Er erregte nicht die geringste Aufmerksamkeit unter den rund dreißig Touristen und Einheimischen und war bald aus unserem Blickfeld verschwunden. Der Auslandskorrespondent war begeistert von seiner Lockerheit. Die Zeiten haben sich offenbar geändert, aber die Tatsache, dass das Verhältnis zur Vergangenheit sich auf dem Niveau von Mythen und Krimis bewegt, bleibt. Historische Persönlichkeiten verdienen, dass wir uns ernsthaft mit ihnen befassen, das sind wir ihnen, aber auch uns selbst schuldig.

III.

Unlängst strahlte das kroatische Fernsehen HTV im zweiten Programm zur Hauptsendezeit Veljko Bulajics 1969 gedrehte Schlacht an der Neretva aus. Es hätte eine interessante, sentimentale Reise in die Vergangenheit sein können, eine Erinnerung an unseren Geschichtsunterricht, für den wir die Stationen von Titos siegreicher Offensive auswendig lernten, an Schulvorführungen dieses und anderer Kriegsfilme, etwa Kozara, Sutjeska und Desant na Drvar, wäre da nicht jener andere, nähere Krieg, wären Boris Dvornik und Bata Zivojinovic nicht inzwischen Feinde und wäre die Neretva heutzutage nicht ein Fluss im Nachbarland.

Ja, das waren wirklich andere Zeiten, als Bulajic Stars wie Orson Welles, Yul Brynner, Franco Nero, Sylva Koscina oder Curd Jürgens, den ewigen Deutschen, verpflichten konnte. Das waren Zeiten, in denen die Welt einfacher war, vielleicht weil sie schwarz-weiß war. Damals waren – wie im Film, so im Leben – die Deutschen und Italiener die Feinde, Führer untadelig (Der Durchbruch muss heute Nacht erfolgen!, befahl Tito, und Massen durchgefrorener Kämpfer opferten freiwillig ihr Leben, sicher, dass dieser Befehl einen höheren Sinn haben musste, auch wenn er sich ihnen vielleicht nicht erschloss), das Volk einfach und Helden eben Helden, denn ob sie Helden oder Kriegsverbrecher waren, darüber entschied nicht so ein Gericht in Den Haag, sondern allein das Volk. Im Film reihen sich absehbare Klischees aneinander: Die Deutschen sind ruhige, rationale Strategen, die Italiener schreckhafte Feiglinge, die Tschetniks Schönlinge zu Pferd und ewige Verlierer, und die Partisanen schlicht und ergreifend – Helden.

Aus dem Abstand von vierzig Jahren betrachtet erscheint mir das ideologisch aufgeladene Superspektakel von Veljko Bulajic wie eine Metapher für Jugoslawien. Die Schlacht an der Neretva beruht wie Jugoslawien auf dem Mythos der Brüderlichkeit und Einheit. Serben, Montenegriner, Slowenen, Makedonen und Kroaten kämpfen gemeinsam gegen einen “zahlenmäßig überlegenen Feind”, wie man das einst lernte. Doch an der Neretva kämpfen “Unsere” nicht nur für Freiheit, sondern auch für Menschlichkeit, denn das Ziel der Schlacht war, die feindliche Einkesselung zu durchbrechen und viertausend Verletzte zu retten. Und das Beste: Es gelang! Mission impossible – nicht für Tito und ein Vierteljahrhundert später auch nicht für Bulajic.

Der Schlüssel zur Schlacht an der Neretva als Metapher der Wirklichkeit sind die Massenszenen. Bulajic ist der große Regisseur der Massen – wie übrigens auch Tito: Im Film wie in der Wirklichkeit sind riesige Menschenmengen auf der Bühne unterwegs, die auf Befehl vorrücken oder sich zurückziehen. Das so genannte Volk trotzt dem Schneesturm, steigt durchs Gebirge, Kinder, Alte, Frauen, Tiere schleppen sich in langen Kolonnen dahin, überwinden den eisigen Fluss auf einer hastig zusammengezimmerten Holzbrücke, nachdem Yul Brynner (zum Entsetzen des Feindes) die Eisenbrücke zerstört hat. Und das ganze menschliche Leid inspiriert nebenbei Vladimir Nazor zu seinen heroischen Propaganda-Gedichten. Da gibt es keine langen Diskussionen über Sinn, Ziele und Methoden, oder wenn, werden sie mit einem Hinweis beendet: Befehl des obersten Stabs. In solchen Momenten singt das Volk, was bliebe ihm auch anderes übrig. Und so bis zum nächsten Krieg.

Die Schwachstelle des Films (wie der Wirklichkeit) sind die individuellen Schicksale – sie sind nicht mehr als eine beiläufige Illustration der Hauptthese: Der Einzelne muss für das Wohl des Kollektivs, für höhere Ziele Opfer bringen. Der Tod des Bruders ist eine Tragödie, aber es muss weitergehen, der Kampf fortgeführt werden. Da bleibt nur der Trost, dass der Bruder für die Verwirklichung einer edlen Idee gefallen ist. Die Ärztin verliert ihr Augenlicht beim Angriff auf einen deutschen Panzer, die Krankenschwester infiziert sich mit Typhus, Kämpfer sterben bei dem Versuch, Kameraden zu retten, eine Liebesgeschichte endet natürlich mit dem Tod der Protagonistin … alles Nichtigkeiten im Vergleich zum strategischen Ziel. Klar, die Schlacht an der Neretva ist vor allem ein Heldenepos über den nationalen Befreiungskampf und in diesem Sinn ein Propagandafilm. In solchen Streifen bekommt der Einzelne wahrscheinlich nicht viel Raum. Aber dieser Film hinterlässt den quälenden Eindruck, dass der Einzelne unwichtig ist, dass in historischen Zeiten (und bei Gott auch später!) die kleinen Leute mit ihren realen Problemen nicht nur Spielball historischer Ereignisse sind, sondern auch den Launen von Regisseur beziehungsweise Führer zum Opfer fallen.

Genossen, ist das eine schöne Leiche!, sagt ein Verwundeter am Ende des Films über die tote Krankenschwester. Klingt wie die Inschrift auf dem Grab Jugoslawiens.

IV.

Erinnern Sie sich an Stevo Karapandza, Jugoslawiens beliebtesten Koch? Er hatte schon seine eigene Fernsehsendung (und machte Reklame für Vegeta), als Jamie Oliver noch in den Windeln lag, von Ana Ugarkovic ganz zu schweigen. Unlängst kam ein Kochbuch von ihm heraus, Moji najdrazi recepti (“Meine Lieblingsrezepte”), angekündigt als “Rückkehr des großen Küchenmeisters”. Natürlich erinnern sich die Älteren an ihn, während die Jüngeren keinen Schimmer von seiner einstigen Popularität haben. Ebenso wenig von Vegeta, dem Zaubergewürz, mit dem “jedes Essen schmackhafter” wird.

Alle erinnern sich an Tito, und auch sein Kochbuch – besser gesagt sein Speiseplan – wurde vor kurzem veröffentlicht, neben einem Buch über seine Frauen und einer neuen Biografie. Die Tageszeitungen bringen Berichte über einen Schauspieler, der sich als Tito verkleidet und unters Volk mischt, ziemlich ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Tito gestern noch stets als “großer Diktator” bezeichnet wurde. Und dann erschien ein Interview mit Veljko Bulajic, der als den damaligen Herrschern nahe stehender Regisseur selten die Aufmerksamkeit der Medien genießt. Den ersten Teil von Antun Vrdoljaks Dokumentarreihe über Tito haben eine Million Menschen gesehen, praktisch alle bis auf jene, die die Serie ganz bewusst nicht sehen wollten. Und das kroatische Fernsehen wiederholt die Anfang der Achtziger gedrehte Serie Nepokoreni grad (“Die unbesiegte Stadt”) über den Kampf der Zagreber gegen den Faschismus. Der Retrotrend begann im Herbst mit der erwähnten Serie von Partisanenfilmen, die Einschaltquoten von 17 Prozent erreichten – davon kann der Sender HTV sonst nur träumen.

Selbst in Ausstellungen lässt sich die Kontamination mit vergangenen Zeiten beobachten. Beispielsweise wurde eine Schau mit Fabrikdesign von Jugokeramik eröffnet: Unglaublich, selbst in diesen finsteren Zeiten gab es Design!, und eine Ausstellung mit Werken von Aleksandar Srnec: Unglaublich, selbst damals gab es moderne Bildhauerei!

Menschen meines Alters fühlen sich wie in einer Zeitmaschine. Oder wie im Zoo, je nachdem.

Wirklich, es ist ein Phänomen. Zwei Jahrzehnte nach dem Fall des einstigen politischen Systems ist es offensichtlich cool, sich auf dieser Ebene mit dem Sozialismus zu befassen. Aber ist der Begriff wirklich frei von jeder ideologischen Färbung? Denn bis vor kurzem wurde Tito nur in negativen, politischen Zusammenhängen erwähnt. In der Tudman-Ära mit ihren neu proklamierten Gewohnheiten wurden die politische Vergangenheit und deren sämtlichen kulturellen Errungenschaften von Malerei über Literatur und Design bis zum Film weitmöglichst unterdrückt und mit einer Sehnsucht nach dem alten politischen System gleichgesetzt. In dieser Atmosphäre genügte es selbst im privaten Umfeld, sich an die gute alte Zeit zu erinnern, in der man besser gelebt hatte und der Arbeitsplatz, die Löhne, die Renten sicher gewesen waren, und man war als Jugonostalgiker verschrien. Also als Staatsfeind. Da schwieg man lieber. Unbehagen, Verdrängung und auch Angst waren die Folge.

Sind wir inzwischen so weit in der Normalität angekommen, haben wir uns gar von der Ideologie und der angeblich so finsteren Vergangenheit emanzipiert, dass Kulturjugonostalgie jetzt legitim ist und der Begriff die ideologische Färbung abgelegt hat? Und woher kommt die plötzliche Aufmerksamkeit für die Vergangenheit, wenn auch im kulturellen Gewand? Oder fungiert die Kultur nicht eher wie früher als Ersatzpolitik und die Vergangenheit dringt vor, weil sich ihr ein Weg bietet? Ohnehin sehen sozialistische wie nationalistische Politiker Kultur nur als Dienerin der Politik. Andererseits entstanden in den letzten zwanzig Jahren gewiss nicht so viele Kulturgüter, als dass man auf die vor dem Umbruch geschaffenen großen Werken verzichten könnte, die zu zeigen noch nicht die Zeit war. Ist diese Zeit jetzt gekommen?

Natürlich kann man im Phänomen der wieder auferstandenen Kultur und Symbolik der jüngsten Vergangenheit auch ein bloßes Widerkäuen dieser Vergangenheit sehen. Doch offensichtlich genießen einstige Propagandafilme wie die Schlacht an der Neretva kommerziellen Erfolg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Jugendliche die alten Schinken aus historischer Neugier anschauen, denn diese Generation hat überhaupt kein Verhältnis zur sozialistischen Vergangenheit, die ist für sie ein schwarzes Loch. Also wird wohl doch eher die sozialistisch eingefärbte Nostalgie der Älteren für die hohen Einschaltquoten sorgen. Hohe Arbeitslosigkeit, Streiks, Korruption und das Fehlen jedweder Zukunftsvision säen Angst vor dem Kommenden und treiben die Menschen in die Vergangenheit. Besser gesagt, in eine idealisierte Vergangenheit.

Die Nostalgiewelle, die das Land (und die Medien) überschwemmt, ist politisch nicht unwichtig. Tito ist nicht nur politisch, sondern ganz real tot. Aber was ist mit dem lebendigen Stevo Karapandza, der mit seinem Kochbuch buchstäblich aus der finsteren Vergangenheit auftaucht und als “Rückkehrer” angekündigt wird? Ich meine, wo war der Mann in den letzten zwanzig Jahren untergetaucht? Und warum? Ich fürchte, sein Beispiel zeigt, dass wir den Retrotrend hin zur sozialistischen Vergangenheit noch nicht als rein kulturelles oder gesellschaftliches Phänomen werten dürfen. Krieg und Nationalismus haben Stevo Karapandza aus Kroatien getrieben, denn er ist Serbe. Die Neuauflage seines Kochbuchs ist in jedem Fall ein gutes Zeichen, aber keineswegs bar jeder politischen Symbolik. Zumindest nicht, solange man nicht erklären mag, wohin und warum Koch Stevo Karapandza verschwand.

Selbst Tudmans Name dürfte eines Tages ohne Rücksicht auf Verdienste eine Mineralwassermarke, Hüte oder sonst eine Ware schmücken. Denn die Kommerzialisierung politischer Gegenstände, Ideen und sogar von Regierungsformen reduziert alle politischen Symbole – wirklich alle – auf eine Ebene und befreit damit jede politische Ideologie im Namen der höchsten, das heißt, des consumerism. Tatsache ist, dass für die Kinder heute im Gegensatz zu meiner Generation der Name Kras nur noch für Schokolade und nicht mehr für einen Nationalhelden steht. Ich fürchte, wir müssen nicht mehr lange warten, bis die Partisanenmütze in Kroatien nur noch modisches Accessoire ist und Tito ein Slibowitz, gerade wie Napoleon für einen guten Kognak steht. Bevor es so weit ist, wäre es schon ganz gut, wenn diese Generation, vor deren erstaunten und desinteressierten Augen eine Vergangenheit auftaucht, von der sie keine Ahnung hat, wissenschaftliche statt ideologische Kenntnisse über dieses “schwarze Loch” unserer Geschichte bekäme.

Published 17 November 2010
Original in Croatian
Translated by Brigitte Döbert
First published by Wespennest 159 (German version)

© Slavenka Drakulic / Eurozine

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