Auch die unaussprechlichen Schrecken zur Sprache bringen

Es ist höchste Zeit, den ästhetischen Ausnahmezustand aufzuheben, der Zeitzeugenliteratur seit langem umgibt. Das Wichtige ist nicht, wer da schreibt, und nicht einmal aus welchen Motiven er es tut. Das Wichtige ist, welchen literarischen Wirkungsgrad der Text hat, schreibt der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg, dessen Roman Die Elenden von Lodz vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienen ist.

I.

Am 20. September 2009, kurz nach Erscheinen von Herta Müllers Roman “Atemschaukel” in Deutschland und nur wenige Monate vor der Bekanntgabe, dass sie den Literaturnobelpreis erhalten hatte, publizierte die deutsche Wochenzeitung Die Zeit zwei Artikel zu ihrem Buch. Der eine war ein Plädoyer für das Buch, der andere eine scharfe Kritik daran.

Letzterer entstammt der Feder von Iris Radisch, der Literaturkritikerin der Zeit. Literatur “aus zweiter Hand” nennt Iris Radisch Herta Müllers Versuch, ausgehend von den Erlebnissen eines anderen Menschen eine der schlimmsten Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts in Worte zu fassen.

Der biographische Stoff in Atemschaukel geht hauptsächlich auf Herta Müllers Landsmann zurück, den Dichter Oskar Pastior, der Ende der 1940er Jahre vier Jahre in einem ukrainischen Arbeitslager zubrachte. Im kommunistischen Rumänien wurden mit dieser Art kollektiver Deportationen die deutschstämmigen Einwohner des Landes bestraft, auch jene, die nicht das Geringste mit dem nationalsozialistischen Schreckensregime zu tun gehabt hatten. Müller und Pastior hatten zusammen die in der Ukraine gelegenen Lager besucht, in denen Pastior gefangen gehalten wurde, und ursprünglich hatten sie ein gemeinsames Buch geplant. Nachdem Pastior 2006 überraschend verstarb, beschloss Herta Müller, das Buch alleine zu schreiben.

Hier schreibt also eine Autorin, die persönlich keine direkte Erfahrung mit der Zwangsarbeit hat, und das Ergebnis dieses Aufpfropfens von Müllers Sprache auf Pastiors Erfahrungen fällt, so schreibt Iris Radisch, nicht zum Vorteil von Herta Müller aus. Als Gegenstück zu Müllers Prosa, die, so Radisch, “in manchen Passagen von peinigender Parfümiertheit ist”, nennt sie den russischen Autor Warlam Schalamow, dessen karge und vor allem metaphernarme Stilkunst Müllers lyrische Verdichtungen als “abgeschmackte und formelhafte” Übungen der Selbstbespiegelung dastehen lasse.

Sieht man einmal von der mitunter schwer begreiflichen Animosität gegenüber Herta Müller ab, ist Radischs Kritik nicht neu oder etwa ungewöhnlich. Schon oft wurde behauptet, jeder Versuch, die Lagerwirklichkeit des 20. Jahrhunderts zu beschreiben, von jemandem, der sie nicht am eigenen Leib erlebt hat, sei zum Scheitern verurteilt. Nicht unbedingt, weil dem entsprechenden Autor die Sprache fehle, um diese Erfahrungen in Worte zu kleiden. Sondern weil jede Sprache in der Begegnung mit einer Realität dieser Art zu etwas Kostümiertem werden müsse. Die Erfahrung eines Lagerhäftlings kann, so schreibt Warlam Schalamow, im Grunde genommen nur negativ erfasst werden. Als Fehlen von Erfahrung. Als Fehlen überhaupt von allem, was mit Verstand und Erfassbarkeit zu tun hat. Wenn im Lager vom Menschen also nichts übrigbleibt, dann, so die Schlussfolgerung, gebe es auch nichts, über das Literatur geschrieben werden könne.

Häufiger ist diese Art Kritik jedoch aus moralischen Gründen erfolgt. Dabei geht es weniger darum, dass man über eine Sache nicht schreiben könne, sondern mehr darum, dass man es nicht tun solle oder dürfe. Das betraf in erster Linie verschiedene literarische Versuche der Schilderung nationalsozialistischer Vernichtungslager, die ja von anderer Art waren und einen anderen Zweck verfolgten als die sowjetischen Arbeitslager. Ein Roman über Treblinka oder Majdanek handelt nicht nur von Blasphemie, er ist Blasphemie, sagt der Autor Elie Wiesel, der den Holocaust selbst überlebt hat. Was er meint ist, dass jeder Versuch, die absolute Inferno-Erfahrung, die die Vernichtungslager darstellten, literarisch zu gestalten, dieser Erfahrung etwas Grundlegendes raube.

Dergleichen kann Warlam Schalamow nicht gut behaupten, da er seine Erlebnisse selbst literarisch bearbeitet hat. Vielmehr ist sein eigenes Werk einer der wenigen optimalen Versuche, aus dem Dasein im Gulag eben durch und durch Literatur zu machen.

Die Frage ist, wie er dabei vorgeht.

Warlam Schalamow nahm seinen Zyklus Erzählungen aus Kolyma 1954 in Angriff, nachdem er siebzehn Jahre als politischer Lagerhäftling überlebt hatte, und er brauchte fast zwanzig Jahre, um dieses Werk zu vollenden. Erste Erzählungen aus diesem Zyklus erschienen 1978 in einem russischen Exilverlag in London. Aus verschiedensten Gründen dauerte es jedoch geraume Zeit, bevor ein größerer nicht-russischer Leserkreis auf dieses Riesenwerk aufmerksam wurde. Erst 2003 gab der französische Verlag Verdier als erster nicht-russischer Verlag alle sechs Teile (1.700 Seiten) in einem Band heraus, und seit 2007 ist der in Berlin ansässige Verlag Matthes & Seitz im Begriff, eine vollständige deutsche Ausgabe der Werke Schalamows zu publizieren, die neben dem sechsbändigen Kolyma-Zyklus auch die beiden autobiographischen Bücher Schalamows aus den späten 1960er und den frühen siebziger Jahren enthalten wird.

In Ergänzung zur Werkausgabe hat Matthes & Seitz auch einen kleinen Band mit Artikeln, Briefen und Auszügen aus Schalamows Notizbüchern zusammengestellt, der kurz und gut Über Prosa betitelt ist. Es ist einer der wenigen Versuche, die meines Wissens gemacht wurden, um das zu formulieren, was man in Ermangelung einer besseren Bezeichnung als Poetik der Lagerschilderung bezeichnen könnte.

In allen Texten des Buches ringt Schalamow mit demselben grundlegenden Problem: Wie macht man Literatur aus etwas, das von Natur aus jede literarische Abbildung scheut?

Die wichtigste Forderung ist – Schalamow nennt sie einen “Auftrag” –, das Leben in den sibirischen Lagern absolut wirklichkeitsgetreu zu schildern: “Keine Abbildung des Lebens, sondern das Leben selbst.” Damit das möglich ist, muss jedoch alles abgeworfen werden, was zu jeder normalen realistischen Schilderung gehört. Ein Lagerinsasse denkt nicht. Denken tut weh. Ein Lagerinsasse erinnert sich nicht. Das raubt ihm zuviel Kraft. Ein Text, der ein solches Leben beschreibt, muss buchstäblich aussichtslos sein. Die Schilderung darf weder rückwärts noch vorwärts eine Perspektive enthalten. Was bleibt dann vom Erzählen übrig, wenn es nichts gibt, wonach man die Charaktere formen, nichts, was die Motive ihres Handelns gestalten, auch nichts, was dem alptraumhaften Zustand Tiefe oder Raum verleihen könnte, in den einen der tagtägliche Aufenthalt in einer derart seelenlosen Hölle versetzt?

Die Lösung sieht Schalamow nicht in der einzelnen Geschichte, sondern in der Anhäufung von Geschichten. Gewiss mag es verwundern, dass er William Faulkner zum bedeutendsten Autor des zwanzigsten Jahrhunderts erklärt. Faulkners geradezu barocke Prosa ist natürlich Lichtjahre von Schalamows karger, rauer Prosa entfernt. Was Schalamow anspricht, ist jedoch kaum dessen ausgefeilter Satzbau, sondern mehr Faulkners Fähigkeit, Buch für Buch eine vollkommen eigene Welt zu erschaffen, die durch eine gänzlich eigene Idiomatik (eine Sprache, die man nur in diesen Büchern spricht) zusammengehalten wird und in der jeder einzelne Text weiter an dem ihnen allen eigenen Symbol- und Motivkreis baut und ihn verstärkt.

Liest man die Erzählungen aus Kolyma in ihrer Gesamtheit, ist gerade dieser Faulknersche Zug das Auffälligste. Die Lagerwelt mit ihrem gigantischen administrativen Überbau und die das Lager umgebende karge Landschaft sind nicht nur simple Kulisse, sondern entwickeln sich nach und nach zu einem eigenen Höllenraum mit deutlich abgegrenzten Kreisen, gelenkt von eigenen Gesetzen. Hier gibt es die Gruben, wohin ständig neue Arbeitsbrigaden geführt und zu Schlacke verschlissen werden, aber auch die Lagerspitäler, eine klinische Welt innerhalb der Lagerwelt, in denen es jenen, die die richtigen Kontakte haben, zuweilen glückt, sich eine vorübergehende oder dauerhafte Unterbringung zu verschaffen. Und schließlich und endlich: jene Welt der Berufsverbrecher, die den äußersten Kreis des Lagers bilden, dessen wahre Machthaber, dessen Aristokratie. Wenn Schalamow diesen Verbrecherkreis beschreibt, wird seine Sprache nahezu biblisch. Die Verbrecher sind keine Menschen, sagt Schalamow, und bereits diese einfache Aussage umfasst ein ganzes Universum.

In seinen Arbeitsnotizen kommt Schalamow mehrfach auf den Gedanken zurück, dass die Kolyma-Welt zu groß sei, zu weit reiche und zu tief dringe, um in der Literatur Platz zu finden. Doch Schalamow verzichtet nicht auf literarische Methoden, um diese Welt zu beschreiben. Das Gegenteil ist der Fall: Bei Schalamow wird Kolyma gänzlich literarisiert. Indem er ein ums andere Mal dieselben Bilder derselben seelenlosen Landschaft heraufbeschwört, erreicht Schalamow, dass der Leser die Landschaft als gegenwärtig empfindet, obwohl keiner der geschilderten Charaktere ihr auch nur den geringsten Gedanken widmet. Auf dieselbe Weise können Episoden und Charaktere, sogar ganze Gedankengänge, die sich in einer Geschichte finden, in neuer Gestaltung in einer anderen auftauchen, obgleich in ganz anderer Ausführung und mit anderer Funktion.

Liest man die Erzählungen in schneller Folge, werden die Wiederholungen am Ende monoton leiernd, doch diese Methode ist literarisch effektiv. Schalamow verfügt nicht über Solschenizyns epische Geduld, ihm fehlt es an Tschechows stilistischem Fingerspitzengefühl, das psychologische Raster, das er über seine Gestalten legt, ist mitunter grob, und wenn die Worte ihn nicht dorthin tragen, wohin er will, greift er wiederholt auf einfaches Moralisieren zurück. Der Hass auf die Verbrecheraristokratie der Kolyma-Welt verlässt ihn beispielsweise nie. Doch was ihn ebenfalls nie verlässt, ist sein Bestreben, die Kolyma-Welt in ihrer Gesamtheit wiederzugeben, vom geringsten Detail – zum Beispiel, wie man es anstellt, die Glut in einem Holzscheit zehn Stunden lang bei vierzig Grad Kälte am Glühen zu halten – bis zu Schikane, Skorbut, Erfrierungen, Selbstverstümmelungen, dem willkürlichen Morden, dem moralischen Verfall, der jeden kleinsten Ansatz zu Anstand und mitmenschlicher Fürsorge unmittelbar korrumpiert.

Für Schalamow ist das Lagerthema, “die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates”, das größte und wichtigste literarische Thema unserer Epoche. Doch dieses Thema verschwindet nicht aus der Geschichte, nur weil die wenigen, die die Deportationen durchlitten und überlebt haben, ihr Zeugnis bereits abgelegt haben. So lange dieses Thema vorhanden ist, wird es auch ständig neue Arten der Gestaltung erfordern.

Schalamow mag fanatisch gewesen sein in seiner Forderung nach buchstabengetreuer Darstellung der zugänglichen Fakten über die Lager. So zum Beispiel als er sich mit dem Rotstift in der Hand Alexander Solschenizyns damals (1962) taufrisches Buch Einen Tag im Leben des Iwan Denisowitsch vornimmt und sich auf alles stürzt, was die Lagerwirklichkeit anscheinend in allzu mildem Licht beschreibt. Dennoch ist der Kolyma-Zyklus bei Weitem nicht die formstrenge Übung in sprachlichem Purismus, als die mancher sie darstellen möchte. Vielmehr gibt es kaum eine literarische Methode, wie artifiziell sie auch sein mag, auf die Schalamow zur Erzielung eines realistischen Effekts verzichtet. Hier finden sich ausgefeilte Versuche mit in eine größere Rahmenhandlung eingebetteten Geschichten, mit avancierten inneren Monologen, Texten dokumentarischen Charakters oder einfach nur langen heruntergerasselten Tiraden. Hier findet sich auch eine ausgeprägte Metaphorik, hier und da als kleine blutende Punkte gesetzt, wie in der schönen Passage über die robusten Nadelbäume, die Lärchen und Zirbelkiefern der Taiga, die “gleich dem Menschen liegend sterben”: ein Bild, das ebenso gut von Herta Müller stammen könnte.

Es ist mit anderen Worten nicht wichtig, mit welchen Mitteln die Wirklichkeit beschrieben wird, sondern lediglich, dass sie beschrieben wird und zwar unablässig; damit die Geschichte über all die Deportierten und jene Welt, in die sie geraten sind, der Beschreibung weiter offen steht. Deshalb kann keine Methode zur Erlangung dieses Ziels falsch sein, solange der Autor es versteht, die ihm begegnende Wirklichkeit Kraft dessen zu schildern, was diese erst wirklich macht: die Mechanismen, die sie funktionieren lassen, ebenso wie das Grauen, das in dem Wissen liegt, dass man von dort nicht lebend entkommen wird.

Das lässt sich auf einfache oder komplizierte Weise tun. Scheinbar einfach ist es, und ich denke, das hätte auch vor Schalamows gestrengem Blick Gnade gefunden, wenn man wieder und wieder beschreibt, wie es ist, eine Schaufel in Händen zu halten. Das tut Herta Müller in einem der Kapitel von Atemschaukel. Für jemanden, der Stunde um Stunde nichts anderes tut, als Kohle zu schaufeln, kann deren furchtbare Last für die müden Arme auf unterschiedlichste Weise beschrieben werden, und wie einförmig und mörderisch anstrengend die Arbeit auch sein mag, so wird doch die Menge der Kohle durch keine Beschreibung je ein Ende nehmen. Darin besteht eines der großen Paradoxe der Literatur. Wenn man so will, kann man dergleichen gewiss als abgeschmackte Selbstbespiegelung bezeichnen. Die Metapher – das imaginierte Bild, das lediglich gestaltete Geschehen – hat keinen Wert über sich hinaus und kann deshalb schwerlich von demjenigen moralisch verteidigt werden, der möchte, dass die Literatur mehr tun soll, als “nur” Literatur zu sein.

Hingegen kann sie die Schaufel Wirklichkeit werden lassen.

Und somit auch die Arbeit im Lager.

Und somit auch das Lager.

II.

Aber wo verläuft dann die Grenze zur erlaubten Ästhetisierung von Massenmord und Vernichtung? Geht es denn darum, was ästhetisiert wird oder wer es tut? Und wenn die eine Art Ästhetisierung legitim ist, auf welche Weise und aus welchen Gründen muss dann eine andere zurückgewiesen werden?

Die Frage ist kompliziert. Wer sie zu beantworten sucht, kann sich leicht in einem zu nichts verpflichtenden Wohlwollen verlieren, von der Art “das muss einfach beschrieben werden”, ohne die Komplexität zu berühren, die jede Literatur mit Wirklichkeitshintergrund mit sich bringt. Ebenso wenig wie es eine reine Literatur gibt, eine Literatur, die nur die Wahrheit berichtet und nichts anderes als die Wahrheit, gibt es eine Literatur, die ohne Schuld ist. Alles, was über historische Ereignisse geschrieben wird, hat auch Konsequenzen dafür, wie diese Ereignisse gedeutet werden. Es wäre naiv, etwas anderes zu glauben.

Viele aus meiner Generation, die in den frühen Sechzigern oder noch früher Geborenen, erinnern sich an die ungemeine Wirkung, die die in den Achtzigerjahren ausgestrahlte Fernsehserie “Holocaust” hatte. Damit begann nicht nur die gründliche Arbeit am Wissen über die Massenvernichtung, deren Ergebnisse wir heute sehen können, sondern es setzte auch eine maßlose Sentimentalisierung ein. Die Empfänglichkeit für das, was wir heute Zeitzeugenliteratur nennen, ist die Folge einer gesteigerten gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Art von Schilderungen, doch gesellschaftlich akzeptabel ist letztlich nur das, was auf die eine oder andere Weise bereits einen medialen Durchbruch erzielt hat. Heutzutage umgibt uns Vernichtungskitsch von kaum vorstellbarem Ausmaß. Und dieser Kitsch durchdringt unser Verständnis des Geschehenen auf allen Ebenen. Der Holocaust ist nunmehr etwas, dessen wir lieber ehrend gedenken, als dass wir uns seiner aktiv erinnern, Auschwitz wird zum Wallfahrtsort, zum Ort der Beschwörung des Bösen statt der Erforschung des Bösen, während das konkrete Leiden an diesem und anderen Orten mit Hilfe der Populärkultur auf handhabbare Bilder von Pyjama-Jungen und kleinen bezopften Mädchen reduziert wird.

Möglicherweise lässt sich ein gewisses Maß dieser Sentimentalisierung und Trivialisierung aus pädagogischer Sicht verteidigen. Man muss das Böse handhabbar machen, damit es nicht zu abstrakt und damit für viele nicht greifbar wird. Schlimmer aber ist die Tatsache, dass die Ritualisierung des Erinnerungsaktes auch unser eigenes Verhältnis zum Geschehenen und unsere Verantwortung dafür einschränkt. Ausgehend von dem, was wir als moralische Verpflichtung verstehen, nämlich dem Ungeheuren so viel Raum zu gewähren, wie ihm zukommt, nehmen wir eine Position der Ergebenheit ein, die wir mit Vorliebe als Demut deuten. Statt über den Krieg und dessen konkrete Opfer zu sprechen, beschäftigen wir uns schamlos mit unserem eigenen Verhältnis zu dem, was geschehen ist, oft mit flagellantischen Formulierungen wie: “Wer bin ich denn schon…”, “Mit welchem Recht kann ich…” etc., als sei die gesamte Diskussion darüber, was den Holocaust ermöglicht hat, erst dann real greifbar, wenn sie sich auf ein uns selbst betreffendes psychologisches Problem zurückführen lässt.

Darin steckt Feigheit. Wir fordern Authentizität von jeder Zeugnisnahme. Doch indem wir darauf bestehen, dass nur diejenigen, die es am eigenen Leib erlebt haben, zum Erzählen berechtigt sind, geben wir zu erkennen, dass wir im Innersten nicht berührt sind, dass eine Grenze zwischen uns und ihnen verläuft. Da jene Opfer sind, und sich somit notgedrungen außerhalb unseres eigenen Verständnishorizonts befinden, wird uns keine andere Haltung abverlangt als die des zu nichts verpflichtenden Kniefalls.

Das große Problem besteht nicht darin, dass wir nicht genügend wissen. Die Frage sollte vielmehr lauten, warum wir denken, dass es notwendig ist, uns einzureden, dass wir nichts wissen. Was sehen wir in dem, was wir trotz allem wissen, das uns glauben lässt, wir könnten es nicht verstehen?

Unser Verständnis und Wissen über den Holocaust ist in letzter Zeit bedeutend erweitert worden, und in interessante Richtungen. Beispielsweise erklärt der Yale-Historiker Timothy Snyder in Bloodlands, was Auschwitz aus streng historischer Perspektive einzigartig mache, sei nicht die Tatsache, dass hier Massenmord in industriellem Umfang betrieben wurde, sondern dass (relativ gesehen) derart viele dieses Morden dennoch überlebten; Menschen, denen es im Nachhinein gelungen ist, Zeugnis über das Geschehene in die Welt hinauszutragen. Erst jetzt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wird es möglich zu verstehen, wie einzigartig, in des Wortes allumfassender Bedeutung, diese Zeugnisse sind. Wenn Forscher die Holocaust-Landschaft bis weit hinein in die Ukraine und nach Weißrussland erkunden, treffen sie nur auf ein endloses Land der Massengräber, der toten und verbrannten Dörfer und Städte. Aus diesem verbrannten Land kommen keinerlei Zeugnisse.

Daraus ergibt sich eine Paradoxie: Wo sich Historiker immer mehr mit dem, was die Regel ist, beschäftigen, also der Tatsache, dass niemand überlebt hat, widmen sich künstlerische und andere Bearbeitungen des Holocausts mehr und mehr den Ausnahmen. Nicht den Zeugnissen der Überlebenden über jene, die nicht überlebt haben, was letztlich logisch wäre, sondern dem, was die Überlebenden über ihr eigenes Überleben zu berichten haben. Die Geschichte der Massenvernichtung ist aber nicht die Geschichte einer wunderbaren Rettungsaktion wie jener, die Schindler in Stephen Spielbergs Film gelingt. Der Holocaust ist auch nicht die Geschichte eines Pianisten, der derart wundervoll spielt, dass selbst einem hartgesottenen Nazi eine Träne über die Wange läuft. Der Holocaust ist ebenfalls nicht, um die Perspektive einmal umzukehren, die Geschichte einer Frau, die, weil sie nie lesen gelernt hat, zur KZ-Aufseherin wird. All diese Geschichten sind Geschichten über Ausnahmefälle, moderne Wundergeschichten. Sie sind das Resultat einer Verknüpfung der äußeren narrativen Struktur der Berichte Überlebender mit den dramaturgischen Anforderungen der Populärkultur, wo jede Schilderung mit Rettung und Versöhnung enden muss. Heikel und geradezu gefährlich werden diese Schilderungen in dem Moment, in dem sie sich dem höheren Anliegen verschreiben, uns verstehen zu lassen, was geschehen ist, und damit gesellschaftliche Akzeptanz für etwas gewinnen, das im Grunde nur eine raffinierte Lüge ist.

Wir leben in einer Zeit, die von Heilung besessen ist. Wir suchen mit allen Mitteln nach Versöhnung, und beim bloßen Verdacht, dass es diese Versöhnung vielleicht nicht gibt, sind wir zu Tode erschrocken. Ich glaube, das ist eine der Erklärungen dafür, warum der Holocaust in jüngster Zeit eine immer größere Rolle als Thema und Metapher für das fiktive Selbstverständnis spielt, das die Populärkultur artikuliert oder sogar verkündet.

Vermutlich wird unsere emotionale Resonanz auf die Interpretationen des Holocaust stets von dem Zwiespalt geprägt sein, auf den ich hinzuweisen versuche. Die Ereignisse, die beispielsweise in der Zeitzeugenliteratur beschrieben werden, sind derart ungeheuerlich, dass ein moralischer Zwang besteht, sie zum Exempel zu erheben. Paradoxerweise aber kann die Macht des Exempels zuweilen so groß sein, dass es dort Distanz schafft, wo es keine geben sollte. Und diese Distanz ihrerseits kann uns daran hindern, das Allerwesentlichste zu verstehen: nämlich, dass die großen Katastrophen nie ausschließlich an die historischen Epochen, in denen sie sich abspielen, gebunden oder überhaupt durch sie bedingt sind. Es ist auch nicht möglich, diese Katastrophen auf den Sonderfall eines allgemeinen Gesetzes zu reduzieren, ob dieses Gesetz nun Rassismus oder anders heißt, und dann zu glauben, dass diese Definition alles sagt, was zu sagen ist, und das Einzige, was wir darüber hinaus tun müssen ist, uns von diesen Äußerungen moralisch zu distanzieren.

Die in meinen Augen einzig sinnvolle Weise, wie man sich zu Primo Levis Büchern, Imre Kertészs großem Roman eines Schicksallosen, Schalamows Kolyma-Epos oder Herta Müllers Schilderungen aus dem totalitären Rumänien verhalten kann ist, sie als Zeugnisse des totalen Zusammenbruchs menschlichen Handelns und Verantwortungsgefühls zu lesen: ein Kollaps, so gewaltig in Art und Umfang, dass er über jeden Versuch hinausgeht, ihn mit ausschließlich historischen, politischen oder psychologischen Begriffen zu erklären: ein Zusammenbruch, der einer Infektion gleicht und wie diese unser Selbstverständnis auf allen Ebenen durchdringt. Deshalb sind jene, die mit der Lupe nach “Echtheit” in diesen Texten suchen, so ungemein auf dem Holzweg. In Wirklichkeit, der einzigen Wirklichkeit, die zählt, gibt es keine makellosen Zeugen, und man kann sehr wohl Opfer sein, ohne selbst gänzlich ohne Schuld zu sein. Letzten Endes gibt es auch keine Sprache, durch die eine reine, makellose Erfahrung zum Ausdruck kommen kann. Wie Herta Müller es mehrfach formuliert hat, zuletzt in dem Essayband Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, ist die Sprache oft das Letzte, das dieser Kontamination entgeht.

Wer dieser Literatur kritisch begegnen will, muss einsehen, dass es nicht ausreicht, Metaphern zu verbieten, um “die Wahrheit” über was auch immer zu erhalten. Sinnvolle Literatur entsteht nicht als Resultat eines Veredelungsprozesses. Sie restauriert nicht, schafft keine Reservate. Sinnvolle Literatur reißt Grenzen ein und bringt unser Selbstverständnis ins Rutschen. Genau darin liegt die moralische Kraft der Literatur und ihre ästhetische Berechtigung. “Ich will die Welt nicht mit Vernunft betrachten, damit sie auf mich zurückblicken kann”, schreibt Imre Kertész im Galeerentagebuch. “Ich will keine Versöhnung. Ich will die Existenz, den Widerstand…”

Ich glaube wie Kertész, dass es an der Zeit ist, den ästhetischen Ausnahmezustand aufzuheben, der so lange, vor allem in Bezug auf die Zeitzeugenliteratur, geherrscht hat. Das Wichtige ist nicht, wer da schreibt, und nicht einmal aus welchen Motiven er es tut. Das Wichtige ist, welchen literarischen Wirkungsgrad die Texte haben. In welchem Umfang es ihnen gelingt, dem Menschen die Konturen seiner eigenen Existenz zurückzugeben, oder, mit Kertész’ Worten: dem Individuum sein Schicksal zu geben. Literatur kann entweder von dem aufrichtigen Willen geleitet sein, neue Türen in die geschilderte Wirklichkeit zu öffnen und den Blick auf sie zu erweitern. Oder sie arbeitet daran, die Wirklichkeit festzusetzen, indem sie musealisiert, das Vergangene unantastbar (und damit ungreifbar) gemacht wird, oder indem für eine Versöhnung plädiert wird, die eigentlich nur der verkappte Wunsch nach Beschönigung ist, und durch diese Beschönigung das Vergessen mit anderen Mitteln in Gang setzt.

Welche Art Literatur wir wollen, entscheiden wir selbst.

Diese Übersetzung wurde von der Schwedischen Botschaft in Wien unterstützt.

Published 23 September 2011
Original in Swedish
Translated by Gisela Kosubek
First published by Eurozine (a Swedish version of this text was published, in parts, in Dagens Nyheter on 27 January and 26 April 2011)

© Steve Sem-Sandberg / Eurozine

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Read in: EN / DE / SV / CS

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