"Das Altern ist ein Tanz auf unebener Erde ..."

Gerda Lerner im Gespräch mit Ingrid Bauer und Christa Hämmerle

I’m quite well in myself. Nothing wrong with me. I can’t see very well, I can’t hear very well, and I can’t walk very well, but I’m perfectly well.
(Valentine Vester, “The grande dame of Jerusalem”1 )

Als Herausgeberinnen dieser Ausgabe von “L’Homme. Z. F. G.” war es uns ein Anliegen, neben historischen Analysen, Theorien und Diskursen des Alter(n)s beispielhaft auch die Dimension der persönlichen Erfahrung des Altwerdens und Altseins zu thematisieren. Dafür bot sich als ein mögliches Forum die Rubrik “Im Gespräch” an, und mit der Historikerin Gerda Lerner, die 2005 ihren 85. Geburtstag feierte, fanden wir eine inspirierende Partnerin für unsere Idee. Wir haben die international bekannte, emeritierte Professorin für Geschichte an der Universität Wisconsin, USA, gebeten, aus ihrem eigenen Erfahrungskontext heraus mit uns über Alter(n) zu reflektieren, was sie mit dem ihr eigenen Enthusiasmus aufgriff.

Da es nicht möglich war, ein persönliches Gespräch zu arrangieren, haben wir eine Reihe von Impulsfragen entworfen und das Internet als Kommunikationsbrücke benützt, um den Dialog zu realisieren. Auf diesem Weg ist in zwei Frage- und Antwortrunden ein facettenreiches Dokument entstanden, das neben ganz individuellen Eindrücken und Erfahrungen auch gesellschaftspolitische und philosophische Überlegungen enthält und in manchen Passagen geradezu eine Poesie des Alters ist – etwa wenn Gerda Lerner das Bild vom Alter als Tanz auf unebener Erde entwirft.

“Man altert so, wie man gelebt hat”, formuliert sie an einer anderen Stelle unseres virtuellen Gesprächs. Deshalb möchten wir zur Einstimmung kurz die bisherigen Lebensstationen jener Frau skizzieren, die jüngst von der New York Times als “godmother of women’s history” tituliert wurde.2

Geboren wurde Gerda Lerner 1920 als Tochter des jüdischen Ehepaares Robert und Ilona Kronstein in Wien. Hier wuchs sie in wohlhabenden Verhältnissen mit einer Schwester, Nora, auf und war schon in ihren Jugendjahren politisch tätig. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich wurde sie gemeinsam mit der Mutter – dem Vater war die Ausreise nach Liechtenstein gelungen – für einige Wochen inhaftiert. Danach konnten auch Mutter und Töchter flüchten, doch sollte die Familie nie mehr zusammen leben: Nur Gerda reiste mit einem Visum von Liechtenstein in die USA weiter, wo sie zunächst in verschiedenen schlecht bezahlten Jobs arbeitete. Im Jahr 1940 heiratete sie in zweiter Ehe den Filmemacher Carl Lerner, mit dem sie eine Tochter und einen Sohn hat. Mit ihm engagierte sie sich in der Nachkriegszeit ungeachtet aller Repressionen der damaligen McCarthy-Regierung als “American radical” in der linksgerichteten Bürgerrechtsbewegung der USA und zeitweise in der kommunistischen Partei; sie begann verschiedenste Texte zu schreiben und zu veröffentlichen. Als Carl Lerner aufgrund seiner politischen Aktivitäten auf die “Hollywood Blacklist” kam und dort keine Arbeit mehr fand, musste die Familie nach New York umziehen.3

Ab 1958, nach der Aufnahme eines Studiums, begann rasch die bemerkenswerte Karriere Gerda Lerners als Historikerin. In kurzer Zeit absolvierte sie ihr BA-Studium an der New School for Social Research(1962), dann den MA und das Doktorat an der Colombia University(1966); schon seit 1963 unterrichtete sie überdies Kurse in Frauengeschichte. Im Jahr 1972 begründete Gerda Lerner den ersten akademischen Studiengang für Frauengeschichte am Sarah Lawrence College in Bronxville, New York, dem 1981 ein Doktoratstudium in Frauengeschichte an der University of Wisconsin-Madisonfolgte. Im selben Jahr wurde sie als erste Frau seit fünfzig Jahren zur Präsidentin der Organization of American Historiansgewählt. Ihre akademischen Aktivitäten – von der Unterstützung der Gründung der African American Women’s Historybis hin zur Etablierung einer Women’s History Week– waren ebenso vielfältig und umfangreich wie es ihr Werk als Historikerin und als Schriftstellerin ist.4 Gerda Lerner erhielt zahlreiche Preise und Ehrendoktorate in den USA, in Europa und in Israel.5

Während der Arbeit an unserem “Gespräch” über Alter(n) im Herbst 2005 entdeckte Gerda Lerner in der “New York Times” jenes Zitat der 93jährigen Valentine Vester, das nunmehr am Beginn des gesamten Beitrags steht. Es sei, ließ sie uns wissen, ein treffliches Motto auch für ihre eigene gegenwärtige Lebensrealität.

Ingrid Bauer, Christa Hämmerle: Gerda Lerner, wir freuen uns, dass wir Sie für diesen Dialog gewinnen konnten und möchten ihn mit einigen persönlichen Fragen beginnen: Wie erleben Sie Ihr eigenes LebensAlter und wie gehen Sie damit um?

Gerda Lerner:Ich finde, das Altern ist eine Serie von neuen Ansprüchen und Anforderungen, die das Leben einem vorlegt. Es ist nicht ein Schritt, sondern ein langsamer Prozess, der in vielerlei Hinsicht schwieriger ist als alles, was vorher kam. Wenn man jünger ist, muss man ständig auf neue Anregungen und wechselnde Bedingungen reagieren, aber man hofft doch immer auf ein gutes Resultat, auf plötzliches Glück und bessere Umstände. Aber wenn man alt ist, da gibt es nur ein Endresultat, das ist der Tod, auf dem Weg dorthin muss man mehr und mehr von dem, was man sich erworben hat, was man geleistet hat und was einem wertvoll ist, aufgeben. Das Altwerden zwingt einen auf jeder Etappe vorwärts, etwas für immer aufzugeben. Man muss also lernen, mit Würde und ohne Verzweiflung das aufzugeben, was aufgegeben werden muss.

Im Alter hat man nicht mehr den Luxus, gut zu wählen, sondern man muss oft zwischen zwei schlechten Möglichkeiten das kleinere Übel wählen. Im Alter entwickelt man neue Beziehungen zu seinem Körper, der nicht mehr der Alte ist, und an dessen Schwäche und Beschränkungen man sich gewöhnen muss. Schmerzen und körperliche Behinderungen werden unsere treuesten Begleiter. Wir gewöhnen uns an sie, respektieren sie und passen uns, so gut wie möglich, an sie an. Ohne Schmerzen und Behinderungen würde wohl niemand zum Sterben bereit sein.

Ich betrachte das Altern als einen natürlichen Prozess, unsere letzte große Lebensanforderung, das Vorspiel zum Sterben. Es ist eine Art von Reinigungsprozess: Man gibt unnötige Erwartungen auf und plagt sich nicht mehr mit alten Streitigkeiten und Anschuldigungen; man macht Frieden mit seinem Leben und der Art und Weise, wie man es gelebt hat; man lernt jeden Tag und das, was er mit sich bringt, zu schätzen. Man genießt alte Freundschaften und bekannte, geliebte Plätze, und doch versucht man noch immer neue Beziehungen anzuknüpfen, um im Leben verankert zu bleiben. Wenn man diesen Prozess bewusst mitmacht, dann findet man eine neue Art von Befriedigung, eine unerwartet ruhevolle Zufriedenheit.

Was mich selbst anbelangt, so gebe ich mir jetzt viel mehr Zeit für stille Betrachtungen, für einfache häusliche Beschäftigungen und fürs Nachdenken. Ich habe gelernt, mit großer Befriedigung allein zu leben, und ich erfreue mich eines lebhaften intellektuellen und gesellschaftlichen Austausches. Wohl war ich mein Leben lang stark, athletisch und geschwind, und jetzt bin ich peinlich langsam, unbeholfen und mehr ans Haus gebunden als ich es wünsche, aber ich erwarte nicht mehr so viel von mir, wie ich es früher tat, und kann mich deshalb an dem freuen, was ich immer noch tun kann.

Ich habe einen großen Vorteil, nämlich dass ich Historikerin bin und dadurch meine intellektuelle Verbindung mit der Vergangenheit aufrechterhalten kann, was es einem ja leichter macht die Gegenwart zu ertragen. Ich habe auch noch den großen Vorteil, eine aktive Schriftstellerin zu sein. Schöpferisches Werken und die Praxis der sprachlichen Formgebung sind wertvolle Gaben im Erleben des Alterns.

IB, CH:Ihre Biographie ist eine “ungewöhnliche”, eine mit vielen Brüchen und immer wieder der Notwendigkeit, aber auch der Entscheidung zum Neuanfang: von der Vertreibung aus Österreich in die USA bis hin zu Ihrem späten Start einer wissenschaftlichen Karriere, in einem Alter, in dem auf dem akademischen Arbeitsmarkt Europas ein erster Einstieg nicht mehr denkbar ist. Verändert so ein wechselvoller Lebensweg auch die eigene Einstellung zum Altwerden/Altsein?

GL:Mein unkonventioneller Lebensweg, mit den vielen Unterbrechungen und den erzwungenen Neuanfängen, war anscheinend eine gute Vorbereitung auf den Prozess des Altwerdens. Im Alter muss man sich ständig neuen Umständen anpassen: wenn der Körper nicht mehr richtig funktioniert; wenn alte Freundinnen und Freunde wegziehen oder sterben; wenn man in eine kleinere Wohnung umziehen muss; wenn man Beschäftigungen oder Interessen, die man geliebt und geschätzt hat, aufgeben muss. Dann braucht man mehr Anpassungsvermögen als je zuvor im Leben.

IB, CH: Besonders stark ist Ihr Lebensweg auch von Ihrer Identität als Feministin und Aktivistin der (akademischen) Frauenbewegung geprägt. Wie hat das Ihre Bilder vom “Alter”, von “alten Frauen” und “alten Männern” beziehungsweise Ihr eigenes Altwerden beeinflusst?

GL: Mein Lebenswerk als Feministin und als ein organisatorisch aktiver, radikal eingestellter Mensch hat meine Lebensjahre unendlich bereichert und hat mich in vielen Netzwerken von Kolleginnen und Kollegen und Gleichgesinnten verankert. Ich kann mit Zufriedenheit auf meine vielen Jahre der politischen Aktivität zurückschauen, obwohl es da ja auch neben Erfolgen viele Enttäuschungen gab. Dass ich auf zwei Kontinenten tätig sein konnte, war auch ein großer Vorteil für mich.

Mein Wissen als Historikerin hat mich umso deutlicher erkennen lassen, dass “Alter” vielfach auch eine Markierung gesellschaftlicher Differenz bedeutet, indem man alten Menschen negative Attribute zuschreibt und sie als Mitglieder einer minderwertigen Gruppe charakterisiert. Man verallgemeinert und verliert das Individuum aus dem Blick. In dieser Hinsicht gibt es auch scharfe Geschlechtsunterschiede: Alte Männer sind sozial akzeptiert; man lädt sie gerne zu Gesellschaften ein und findet sie interessant. Alte Frauen sind oft unerwünscht; sie gelten als “langweilig”, deprimierend und hilfsbedürftig. Alte Männer finden es leichter, persönliche Beziehungen anzuknüpfen als alte Frauen. Witwer finden ziemlich schnell neue Ehepartnerinnen, oftmals viel jüngere Frauen. Für Witwen sind die statistischen Chancen für eine Wiederheirat ganz schlecht; gleichaltrige Männer interessieren sich für jüngere Frauen, und jüngere Männer schauen bei alten Frauen weg. Es gibt da natürlich Ausnahmen, aber in der Regel ist es so. Neuerdings haben einige Witwen in lesbischen Beziehungen Liebe und Freundschaft gefunden.

Für mich persönlich als heterosexuelle Witwe ist die Tatsache, dass ich als Feministin viele gute Freundinnen habe und Frauenbeziehungen hoch schätze, eine große Unterstützung jetzt im Alter.

IB, CH: Wir haben bis jetzt vor allem Ihren persönlichen Erfahrungskontext im Zusammenhang mit Alter ausgelotet. Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fördern oder behindern Ihrer Einschätzung nach ein “gutes Altwerden”? Welche Tabus gibt es im Zusammenhang mit Alter?

GL: Meine Generation erlebt eine Bahn brechende Umwälzung in Bezug auf das Alter. Als ich ein Kind war und eine der alten Damen aus dem Kreis meiner Großmutter im Alter von 73 Jahren starb, da hieß es allgemein, die hätte doch ein schönes, volles Alter erlebt. Die Erwartung war also, dass man in etwa im siebten Jahrzehnt sterben würde. Nun hat sich aber die Demographie so verändert, dass eine Frau in den USA eine durchschnittliche Lebenserwartung von 86 Jahren hat. Da das, wie gesagt, ein Durchschnittswert ist, bedeutet es, dass sich für viele Frauen die Lebensphase des Alters um 15 bis 20 Jahre verlängert hat. Für Männer beträgt die Lebensdauer im Durchschnitt 80 Jahre. Verheiratete Frauen können daher damit rechnen, dass sie sechs oder mehr Jahre als Witwe leben werden.

Die Gesellschaft hat auf diese demographische Veränderung bisher fast gar nicht und wenn, meistens negativ reagiert. Es gibt keine gesellschaftlichen Modelle für das “gute Altern” in der heutigen modernen Form. Es hat sich nicht nur die Lebensdauer verändert, sondern auch die Gesundheit der älteren Menschen. Meine Generation ist die erste in der Weltgeschichte, die darauf zählen kann und muss, dass sie nicht nur 20 Jahre länger lebt, sondern das auch in besserem Gesundheitszustand, so dass sie noch Jahrzehnte lang arbeitsfähig bleibt – obwohl man erwartet, dass diese Menschen sich im Alter von 65 Jahren pensionieren lassen. Es gibt aber für sie keine gesellschaftlich nützliche Rolle. Die Familien leben geographisch weit voneinander entfernt und es ist in der Praxis schwer, die alten Familienmitglieder in die Familie einzubeziehen. Man sieht sich also an großen Feiertagen und zu besonderen Anlässen, aber für den Alltag erwartet man, dass die ältere Generation sich unabhängig macht. Sollte das wegen schlechtem Gesundheitszustand nicht mehr möglich sein, dann braucht man bezahlte Hilfe (wenn man sich das leisten kann). Die bevorzugte Lösung des Problems der älteren Menschen ist, dass sie sich freiwillig in eine Pensionisten-Gemeinde (retirement community) zurückziehen. Sie sollen also vorzugsweise mit anderen alten Menschen zusammenleben.

Gerade zu einer Zeit, in der ältere Menschen die Hilfe von Jüngeren am meisten brauchen und durch nahen Kontakt mit jüngeren Menschen und mit Kindern neuen Schwung zum Weiterleben bekommen könnten, werden sie demnach gesellschaftlich abgesondert. Die “Jugendkultur” meint es ja ganz gut mit den Alten und ist ihnen freundlich gesonnen, aber nur so lange diese nicht zu viele Ansprüche an sie stellen. Also: Auf ins Altersheim, und wir kommen alle paar Monate zu Besuch.

Die Markierung der Alten als deviant und wertlos ist nicht lebensbejahend; sie ist ein Exzess der patriarchalen Gesellschaft, eine Absonderung der Menschen von der Natur und natürlichen Prozessen. In den USA haben die am schlechtesten bezahlten Jobs diejenigen, die sich um Kinder und alte Menschen kümmern. Diese Jobs sind als Frauenarbeit kategorisiert und es sind – ganz typisch für eine durch Rassismus deformierte Gesellschaft – Jobs für Frauen aus Minoritätsgruppen oder für neue Immigrantinnen.

Alles was ich hier aussage, gilt für die USA, und innerhalb dieses Staates gilt vieles davon auch nur für wohlhabende Menschen und Angehörige der Mittelschicht. Und außerdem nur für Weiße. Die Armen haben ja da weniger Wahlmöglichkeiten und können sich retirement communities gar nicht leisten. In den verschiedenen ethnischen Gruppen gibt es auch eine andere Einstellung zum Altwerden. Da wohnen oft zwei oder drei Generationen in einem Haus oder in einer Wohnung, was für sie sowohl finanziell als auch emotionell vorteilhaft ist.

IB, CH: Sie leben in den USA und haben natürlich zunächst einmal vor allem über Kulturen des Alter/n/s berichtet, die hier entwickelt worden sind. (Worin) Sehen und erleben Sie in dieser Frage Unterschiede – positive wie negative – zwischen den USA und Europa?

GL: Ich habe auf meinen Reisen beobachtet, dass ältere Menschen in Europa viel besser leben als in den USA. Der Wohlfahrtsstaat und ausreichende Pensionen machen das Leben leichter, und viele Familien haben die Großeltern am selben Wohnort. Dadurch, dass es fast überall in Europa gute und billige öffentliche Verkehrsmittel, wie Autobusse, Straßenbahnen und U-Bahnen gibt, können alte Menschen in Restaurants, Kaffeehäuser und Kinos gehen und sind normalerweise auf öffentlichen Plätzen sichtbar und integriert. In den USA ist das nicht möglich. Solange man selbst Auto fahren kann, geht es im Alter noch ganz gut und man kann bei Vielem mitmachen. Aber wenn das Chauffieren nicht mehr geht, sind alte Menschen wirklich isoliert.

IB, CH: Sie haben vorhin davon gesprochen, dass sich die Phase des Alters um viele Jahre verlängert hat. Nicht selten macht der so genannte “Herbst des Lebens” heute oft eine längere Zeitspanne aus, als früher ein ganzes Leben umfasste. Haben Sie Ideen, wie man dieses verlängerte Alter besser und sinnvoller für Menschen und Gesellschaft gestalten könnte?

GL: Man müsste mehr in die Lebensphase “Alter” investieren: gute öffentliche Verkehrsmittel, damit alte Menschen mehr Zutritt in die Gemeinde haben; größere Wohnungen für jüngere Familien, damit sie alte Familienmitglieder bei sich unterbringen können; ausreichende Pensionen und Krankenversicherungen, so dass alten Menschen ein bescheidener Unterhalt gesichert ist; keine Zentren für Seniorinnen und Senioren, Altersheime oder retirement communitiesohne einen gewissen Prozentsatz von jungen Menschen und Kindern.

Alte Menschen können viel zur Gesellschaft beitragen: durch ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung; durch ehrenamtliche Arbeit, durch ihre Geduld und Friedlichkeit. Und auch die Kranken und Behinderten unter ihnen können jüngeren Menschen dadurch helfen, dass sie diese lehren, wie man Hilfe annimmt. In unserer Wettbewerbsgesellschaft trainiert man die Menschen, unabhängig und “self-made” zu sein. Aber man muss auch wissen, wie man anderen helfen kann und wie man Hilfe annehmen kann, ohne sich geringer zu fühlen. Dadurch, dass die moderne Gesellschaft alte Menschen aussondert und das Sterben tabuisiert, sind die Lebenden und Gesunden mit Angst vor dem Alter erfüllt und auf das Altern überhaupt nicht vorbereitet.

IB, CH: Kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt unseres Gesprächs, nämlich die persönliche Erfahrung des Altwerdens, zurück. Simone de Beauvoir hat sich in ihrem Buch “La Vieillesse”, das erstmals 1970 erschienen ist – sie war damals 62 Jahre alt –, auf die ihr eigene philosophisch-essayistische Art mit dem Lebensabschnitt “Alter” auseinander gesetzt und festgehalten:

Wollen wir vermeiden, dass das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung: weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben Sinn verleihen: das hingebungsvolle Tätigsein für einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit. Im Gegensatz zu den Empfehlungen der Moralisten muß man sich wünschen, auch im hohen Alter noch starke Leidenschaften zu haben, die es uns ersparen, daß wir uns nur mit uns selbst beschäftigen. Das Leben behält seinen Wert, solange man durch Liebe, Freundschaft, Empörung oder Mitgefühl am Leben der anderen teilnimmt. Dann bleiben auch Gründe, zu handeln und zu sprechen.6

Können Sie sich dieser Vision anschließen? Und: Worin bestehen die weiterhin verfolgten oder auch neuen leidenschaftlichen Engagements und Ziele der Gerda Lerner?

GL: Ich stimme mit de Beauvoir überein, dass hingebungsvolles Tätigsein für andere oder Sozialarbeit einem das Alter verbessern kann. Aber ich glaube nicht, dass es eine “einzige Lösung” für das Altsein gibt. Wie ich vorher schon gesagt habe, sehe ich das Alter als einen natürlichen Lebensprozess, nicht als eine Katastrophe an. Es gibt so viele Arten des Altwerdens wie es Menschen gibt. Man altert so, wie man gelebt hat. Für manche bedeutet es eine intensive Konzentration auf “gute” Ziele, Engagement für andere Menschen; Flucht in soziale Tätigkeit. Für andere bedeutet es geistige und schöpferische Arbeit. Manche finden Zufriedenheit durch neue Interessen: Gärtnerei, Handarbeit, Basteln, Handwerk und sogar Sport.

Für diejenigen, die das Alter mit körperlichen Schmerzen und Behinderungen erleben müssen, ist der ständige Kampf um Unabhängigkeit und Kompetenz eine allumfassende Aufgabe. Sie müssen um Geduld und innere Ruhe ringen und doch noch genug Interesse am Leben aufbringen, um gute Tage und Stunden haben zu können.

Aber es gibt viele Menschen, die das Altwerden dazu benützen, sich mehr und mehr nach innen zu wenden, ihr eigenes Leben oder das ihrer Familie zu überprüfen und besser zu verstehen. Sie wollen nicht nur tätig sein, sondern auch Verstehen und Weisheit erlangen. Sie wollen verstehen, was dieser letzte Lebensabschnitt bedeutet, und sehen das Altern als eine Anforderung an, der man sich stellen muss.

Da gibt es also keine einzig gültige Lösung. Das Altern ist ein Tanz auf unebener Erde, den man mit geschwächten Gliedern unternimmt, in dem man Mal diese, Mal jene Schritte versucht, und in dem man doch ab und zu in Schwung kommt und einfach das Tanzen erlebt – so wie es früher war und, noch besser, so wie es jetzt ist. Denn das Altsein ist ja überhaupt auf das Jetzt-Erleben angewiesen. Wir sind so weit gekommen und was jetzt da ist, ist alles was je da sein wird. Und so tanzt man weiter, so gut es eben geht.

Ich liebe und schätze den ständigen Mut alter Menschen, ihre Geduld, ihren Optimismus und ihre kindliche Bereitschaft, spontane Freude zu empfinden.

Steven Erlanger, "When life in Mideast was simpler", in: New York Times, 29. 10. 2005; unter: www.iht.com/articles/2005/10/28/news/vester.php; Zugriff: 27. 2. 2006. Als die Hoteliere, die mit ihren 93 Jahren eines der schönsten Jerusalemer Hotels, "The American Colony", führt, für den Fotografen ein Abendkleid anziehen sollte, meinte sie: "What do they imagine, that I'm the grande dame of Jerusalem?"

Der Verweis darauf findet sich in einer Würdigung von Gerda Lerner anlässlich der Verleihung des Preises für Wissenschaft und Forschung der Stadt Salzburg: Silvia Kronberger, "Pionierin der Frauengeschichte", in: Salzburger Nachrichten, 19. 7. 2003, IV.

Vor allem von dieser Zeit, konkret von ihrem Leben bis zur Aufnahme ihres Studiums, handelt Gerda Lerners vor wenigen Jahren veröffentlichte Autobiographie: dies., Fireweed – a political Autobiography, Philadelphia 2002. Vgl. auch die Rezension von Helga Embacher in: L'Homme. Z. F. G., 15, 2 (2004), 364-366.

Z. B. Black Women in White America, 1972; The Female Experience. An American Documentary, 1977; A Death of One's Own, 1978 (dt. Ein eigener Tod, 1979); The Majority Finds its Past, 1979 (dt. Frauen finden ihre Vergangenheit, 1995); The Creation of Patriarchy, 1986 (dt. Die Entstehung des Patriarchats, 1991); The Creation of Feminist Consciousness, 1993 (dt. Die Entstehung des feministischen Bewußtseins, 1993); Why History Matters, 1997 (dt. Zukunft braucht Vergangenheit. Warum Geschichte uns angeht, 2002).

Vgl. z. B. Annette Kuhn, "Die Historikerin und Feministin Gerda Lerner", in: Beate Münst u. A. Senganata Münst Hg., Lebenswerke. Porträts der Frauen- und Geschlechterforschung, Opladen 2005, 80-99.

Simone de Beauvoir, Das Alter. Essay. Reinbek bei Hamburg 1977 (Orig. La Vieillesse), 464.

Published 30 August 2006
Original in German
First published by L'Homme 1/2006

Contributed by L'Homme © Gerda Lerner / Ingrid Bauer / Christa Hämmerle / L'Homme / Eurozine

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