Abstracts Osteuropa 9/2006

Dmitrij Furman
Ursprünge und Elemente imitierter Demokratien. Zur politischen Entwicklung im postsowjetischen Raum

Das politische System in Rußland ist nicht einzigartig. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion haben sich diverse Regime etabliert, in denen hinter einer demokratischen Fassade die Macht in den Händen des jeweiligen Präsidenten konzentriert ist. Ein Vergleich der ostslawischen Staaten mit denen in Mittelasien und im Kaukasus ergibt nicht nur, daß diese imitierten Demokratien denselben Ursprung haben, sondern daß sich diese Ein-Mann-Regime auch derselben Elemente und Praktiken politischer Herrschaft bedienen. Der vermeintlichen Macht und Stabilität zum Trotz sind sie in ihrem Kontrollanspruch, ihrer Legitimationsschöpfung und ihrer sozioökonomischen Leistungsfähigkeit dysfunktional und tragen den Keim des eigenen Untergangs in sich.

Petra Stykow
Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Unternehmerverbände und Staat in Rußland

Rußländische Unternehmerverbände werden selten als relevante politische Akteure wahrgenommen, jedoch ist diese Annahme aufgrund empirischer Befunde zu differenzieren: Zum einen hängt das Potential von Verbänden weithin von den staatlich bereitgestellten Gelegenheitsstrukturen ab und ist insofern veränderlich, wie die vergangenen zwei Jahrzehnte zeigen. Zum anderen sind Verbände spezifische Einflußressourcen jener komplexen Netzwerke aus Personen, “Cliquen” und Organisationen, die den politischen Prozeß in Rußland bestimmen. Putins Strategie der autoritären Modernisierung birgt die Gefahr einer dysfunktionalen Verstaatlichung der gesellschaftlichen Interessenrepräsentation.

Jens Siegert
Die Pipeline, der Protest und der Präsident. Ein sibirisches Lehrstück über das System Putin

Rußland plant eine Ölpipeline aus Ostsibirien an die Pazifikküste, die in unmittelbarer Nähe des Baikalsees verlaufen soll. Gegen dieses Projekt erhebt sich seit einigen Jahren Widerstand. Nun hat Präsident Putin in einer telegen inszenierten Entscheidung die Trasse verlegt. Dies zeugt allerdings nicht von einer demokratischen Trendwende in Rußland. Vielmehr ist das Eingreifen Putins ein Lehrstück über ein politisches System, in dem sich Staat und Gesellschaft unversöhnlich gegenüberstehen und der Präsident als “guter Zar” seine Legitimität daraus zieht, daß er fernsehöffentlich hohe Staatsfunktionäre oder Wirtschaftsführer abkanzelt.

Hans-Georg Wieck
Demokratieförderung in der Sackgasse. Europa versagt in Belarus

Mit der Charta von Paris legte die KSZE 1990 die Grundlagen für eine demokratische Wertegemeinschaft in Europa. Doch die Transformation in Osteuropa zu Demokratien ist ins Stocken geraten. Die Doktrinen eines “starken Staates” und “gelenkter Demokratie” haben Konjunktur. In Belarus erteilt das autoritäre Regime Lukaschenka jeglichen Reformbestrebungen eine Absage. Die deklamatorische Solidarität der Europäischen Union mit der unterdrückten demokratischen Bewegung im Lande reicht nicht aus. Gefordert ist eine proaktive Unterstützung der demokratischen Alternative zum autoritären Unrechtsstaat.

Olaf Leiße
Politik jenseits des Baikal. Multiethnizität in Burjatien

Die Republik Burjatien ist eine jener polyethnischen Regionen Rußlands, in denen beim Zusammenbruch der Sowjetunion keine nationalen Konflikte aufloderten. Trotz der Existenz einer zahlenmäßig bedeutenden Minderheit gibt es bis heute kaum nennenswerte ethnisch aufgeladene soziale und politische Spannungen in Burjatien. Ethnische Orientierungen spielen vor allem im privaten Bereich eine wichtige Rolle. Dies hat mit einem regionalen politischen System zu tun, das starke Konkordanzelemente enthält. Insgesamt ist es weitgehend gelungen, die Bedeutung von Ethnizität auf den privaten, nicht-öffentlichen Bereich zu beschränken.

Werner Hennings
Nachhaltig gestört. Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft im nordböhmischen Braunkohlerevier

Im nordböhmischen Braunkohlerevier ist die Lebensqualität der Bevölkerung seit 1989 deutlich besser geworden. Luft und Wasser sind sauberer, die Lebenserwartung ist gestiegen. Andererseits ist die Arbeitslosigkeit insbesondere bei Jugendlichen und über Fünfzigjährigen in den vergangenen anderthalb Dekaden stark gestiegen, die Einkommensunterschiede sind gewachsen. Auch ökologisch sind nicht nur die schwerindustriellen Altlasten nicht überwunden. Der Braunkohletagebau geht weiter, und auch die Suburbanisierung raubt immer mehr Flächen. Die Zersiedelung erzwingt umweltschädigende Mobilität.

Andrea Zink
Spiel mit der Geschichte. Die Krimis von Boris Akunin

Warum verkaufen sich Boris Akunins Krimis so gut? Akunin kennt die Bedürfnisse der russischen Leserinnen und Leser: ihre Leidenschaft für die Gattung des Kriminalromans, ihr Interesse an der einheimischen Geschichte. Dieser doppelten Nachfrage kommt Akunin mit seiner Kreation entgegen. Er schreibt historische Krimis und nutzt die Techniken der Postmoderne. Im Effekt entsteht ein neues Bild von alten Zeiten – ein Rußland, das aller Schwermut und aller nationalen Sinnsuche entkleidet ist.

Winfried Schneider-Deters
“Ein Paradiesvogel unter Aasgeiern”. Die Metamorphose der Julija Tymoschenko

Julija Tymoschenko ist ein Mythos, Dichtung und Wahrheit sind voneinander kaum noch unterscheidbar. Als einzige Frau unter zahlreichen grobschlächtigen und teils zwielichtigen Männern an den Hebeln der Macht blickt sie auf eine doppelte Karriere in der Wirtschaft und der Politik der Ukraine zurück. Die nun vorliegende Biographie erhellt Facetten ihrer schillernden Persönlichkeit, ihrer einzigartigen Entwicklung von der Oligarchin zur Revolutionärin und Verfechterin von “Gerechtigkeit”, der das ukrainische Volk immer mehr Glaubwürdigkeit attestiert.

Published 9 October 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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