Abstracts Osteuropa 8/2006

Dorothea Redepenning
Chronist seiner Zeit. Dmitrij Schostakovitsch zwischen Ethik und Ästhetik

Kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts wurde so politisch gedeutet wie Dmitrij
Schostakovitsch. Nur allzu häufig wird er jedoch ausschließlich an außermusikalischen Kriterien
gemessen. Dieser Zugang ist problematisch. Schostakovitsch machte sich zwar die Rolle des Chronisten zu eigen, der Wahrheit und Moral bewahrt. Doch wie die Analyse der mittleren Symphonien zeigt, sind es vor allem in klingenden Traditionen verwurzelte Konnotationen, die auf
das Spannungsfeld zwischen Ethik und Ästhetik verweisen, in dem sich Schostakovitsch bewegte.

David Fanning
Widerspenstiger Revolutionär? Dmitrij Schostakovitsch zum 100. Geburtstag

Das Interesse an Dmitrij Schostakovitsch ist im Jahr seines hundertsten Geburtstags explosionsartig
gewachsen. Gleichwohl ist es weiter schwierig, einige zentrale Fragen zu seinem Leben und
seinem Werk zu beantworten. Was macht Schostakovitschs Musik für Konzertbesucher so populär?
Warum ruft seine Musik so unterschiedliche Reaktionen hervor? Wie stark war sein Stil vom
kommunistischen Regime beeinflußt? Sind die “Memoiren” echt? Die Antworten sollten
Schostakovitschs breite Begabung und die Bedeutung der musikalischen Interpretation berücksichtigen und unbedingt vermeiden, konkrete politische Positionen in sein Werk hineinzulesen.

Kerstin Holm
Das Schreckliche ist des Schönen Anfang. Was Schostakovitsch Rußland heute bedeutet

Die Statur von Dmitrij Schostakovitsch als Jahrhundertkomponist macht ihn für seine Heimat auch
zur Last: Die neue Komponistengeneration muß einen kulturellen Vatermord begehen, um zu
sich zu finden, glaubt der Petersburger Boris Filanovskij. Schostakovitschs Musik der Stalinzeit,
gezeichnet von musiksprachlichen Defekten, wird ausgerechnet dadurch zum vollwertigen
Kulturdenkmal ihrer Epoche – für freiheitsliebende Vergangenheitsbewältiger nicht der erfreulichste Befund.

Leonid Gakkel’
Das Komplementärgesetz. Schostakovitsch und Prokof’ev

Sergej Prokof’ev und Schostakovitsch hatten sich nichts zu sagen, und sie konnten einander nicht
hören. Das ganze Wesen Prokof’evs läuft Schostakovitsch ästhetisch und strukturell zuwider. Gleichwohl gibt es auch Berührungspunkte. Prokof’ev und Schostakovitsch gehören zusammen wie die materielle und die geistige Welt. Mit den beiden sollte man es daher halten wie mit Goethe und
Schiller: Statt darüber zu diskutieren, wer besser und bedeutender sei, sollte man sich daran erfreuen, daß Deutschland zwei so große Dichter besitzt und die Welt zwei derartige Komponisten.

Bernd Feuchtner
Lieder der Nacht, Nächte der Angst. Angst in der Musik von Dmitrij Schostakovitsch

In der Stalinzeit fiel der Musik das Privileg zu, Dinge zu sagen, die nicht ausgesprochen werden konnten. Dmitrij Schostakovitsch entwickelte geradezu ein System verborgener Bedeutungen,
die in seine Musik einen doppelten Boden einzogen, den nur durchschauen konnte, wer ähnlich
empfand und diese Sprache verstand. Er gab den Ängsten Ausdruck, unter denen eine ganze
Epoche litt und die besonders nachts auftraten.

Andreas Wehrmeyer
“Mir scheint, ich bin ein Jude”. Zum “Jüdischen” im Werk von Schostakovitsch

In dem Maße, in dem heute die Bereitschaft besteht, der Musik von Dmitrij Schostakovitsch
pauschal regimekritische Potentiale zu unterstellen, erschließt sich vermeintlich umstandslos
die Verwendung jüdischer musikalischer Idiome: als Ausdruck der Identifikation mit dem
Schicksal der Juden, als Chiffre des Unterdrücktseins. Tatsächlich aber liegen die Verhältnisse
komplizierter: Derlei konkrete Bedeutungen sind kaum offensichtlich und können nur durch die
Hörer imaginiert werden.

Jascha Nemtsov
“Um mich kreist der Tod”. Schostakovitschs Sonate für Violine und Klavier

Kaum ein anderes bedeutendes Werk Dmitrij Schostakovitschs führte in den letzten Jahrzehnten ein
derartiges Schattendasein wie seine Sonate für Violine und Klavier op. 134 von 1968. Kritikern
erscheint sie als “wenig gelungen”, Interpreten brandmarken sie als “undankbar” und “sperrig”.
Damit wird diese Komposition gründlich verkannt. Die musikalische Welt der Sonate spiegelt
Schostakovitschs Auseinandersetzung mit dem Thema Tod wider. Dabei fanden unter anderem
Zwölftonreihen Eingang in die Komposition – sie sind jedoch nur ein Element des Klangporträts des Todes, das Schostakovitsch in seinem Spätwerk entwickelte.

Levon Hakobian
“Ich hab euch niemals geliebt, ihr Götter!” Schostakovitsch und die proletarische Musik

Schostakovitschs Kontakte zur “proletarischen” Musik der 1920er Jahre finden in der Zweiten Symphonie zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution ihren Ausdruck. Auch seine abschätzige
Äußerung zur “leichten” Musik steht im Einklang mit der Ideologie des Proletkult. Gleichzeitig
verachtete er die Musik “proletarischer” Komponisten und war erleichtert, als 1932 ihr Verband
(RAMP) aufgelöst wurde. 25 Jahre später wendet er sich in der Elften Symphonie erneut der
Ästhetik der “proletarischen” Musik zu. Zudem bearbeitet er zwei Chöre des führenden “proletarischen” Komponisten Aleksandr Davidenko. Vermutlich ist das Interesse des reifen
Schostakovitsch an der Musik, von der er sich früher distanziert hatte, eine Umwertung ideologischer Werte, die für viele Intellektuelle der “Tauwetterperiode” typisch sind.

Wolfgang Mende
“Lebendige Waffe im Kampf”. Schostakovitsch und die Kulturrevolution

Dmitrij Schostakovitsch gilt heute vielen als getarnter Dissident. Für die Jahre 1928-1931/32 ist dies
nicht überzeugend. In diesem Lebensabschnitt unterstützte er durch seine Kompositionen für
Ballett, Musichall, Theater und Film wie auch durch seine öffentlichen Äußerungen in weitem
Maße die politisch-gesellschaftlichen Ziele der Kulturrevolution. Eine Analyse des Balletts Der
Bolzen (1930/31) vor dem zeitgenössischen Rezeptionshintergrund zeigt, daß die in der Handlung angelegte Legitimation politischer Gewalt durch den unterhaltsamen und satirischen
Charakter der Musik nicht desavouiert, sondern eher gefördert wird.

Stefan Weiss
1948 und kein Ende. Schostakovitsch als Bühnenheld

Schostakovitschs konfliktreiches Verhältnis zu Stalin hat Autoren
unterschiedlicher Zeiten und Regionen zu Bühnenwerken über dieses Thema
inspiriert. Die Schauspiele Il’ja Golovin von Sergej Michalkov (1949)
und Master Class von David Pownall (1981) sowie die Oper Dmitri oder Der
Künstler und die Macht
von Hans-Klaus Jungheinrich und Luca Lombardi
(2000) verarbeiten in ganz unterschiedlicher Weise Personen- und
Zeitgeschichte und vermitteln dabei Aufschlüsse über die
Schostakovitsch-Rezeption ihrer jeweiligen Entstehungskontexte.

Svetlana Savenko
Fruchtbare Spannung. Schostakovitsch und Igor’ Stravinskij

Schostakovitsch und Stravinskij gelten gemeinhin als Vertreter einer völlig konträren Musikauffassung. Das Verhältnis zwischen den beiden Komponisten ist jedoch komplexer, als es auf den
ersten Blick scheint. Schostakovitsch verfolgte das Wirken seines älteren Kollegen zeit seines Lebens aufmerksam und brachte ihm als Musiker, nicht jedoch als Denker gleichbleibende Bewunderung entgegen. Umgekehrt wich Stravinskijs ambivalente Haltung dem anderen
gegenüber im Laufe der Zeit einer zunehmend scharfen Kritik an Schostakovitsch als sowjetischem “Staatskomponisten” und an dessen “rückständiger”, “primitiver” Ästhetik.

Dorothea Redepenning
Ärgernisse, Abgründe, Absurditäten. Fragwürdige Bücher zu Schostakovitsch

Dmitrij Schostakovitschs Werk regt nicht nur zu musikalischen
Interpretationen an. Auch auf dem Buchmarkt gibt es neue
Veröffentlichungen. Nicht jede dieser Publikationen garantiert
Erkenntnisgewinn. Fast zwei Jahrzehnte währende Debatten über die
Authentizität der von Solomon Volkov herausgegebenen “Memoiren” haben in
der deutschen Neuausgabe des Buches keinen Niederschlag gefunden.
Volkovs neue Monographie über Stalin und Schostakovitsch ist ein
methodisches und musikwissenschaftliches Ärgernis. Doch auch der
akademische Betrieb produziert Arbeiten, die sich etwa der Groteske in
Schostakovitschs Werk zu widmen vorgeben, in denen aber alleine das
handwerkliche und wissenschaftliche Selbstverständnis grotesk ist.

Published 30 August 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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