Abstracts Osteuropa 7/2006

Micha Brumlik
Fernstenliebe. Tschetschenien, Tolstoj und die Weltgesellschaft

Die Einsätze der rußländischen Armee gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung haben an Systematik, Grausamkeit, Umfang und Intensität übertroffen, was Milosevic in Den Haag nachgewiesen werden konnte. Doch die internationale Gemeinschaft schweigt zu diesem genozidartigen Krieg. Ein realpolitisch-zynisch aufgeklärtes Denken wird dies nicht erstaunen. Wollen die Menschen jedoch in einer globalisierten Welt überleben und einander beistehen, so benötigen sie eine Reihe von Kompetenzen. Die wichtigste ist eine “Fernstenliebe”, wie sie Nietzsche entworfen und Lev Tolstoj im Chadzi-Murat am Beispiel Tschetscheniens konkretisiert hat.

Uwe Halbach
Prekäre Staatlichkeit. Strukturprobleme im Nordkaukasus

Wenn es um Herausforderungen an die innere und äußere Sicherheit des nachsowjetischen Rußland geht, tritt unter seinen Landesteilen keiner so hervor wie der Nordkaukasus. Auch in der zweiten Amtszeit des Präsidenten Putin, in der ein Prozeß der Rezentralisierung abgeschlossen wurde, bleibt der Gürtel kaukasischer Teilrepubliken das instabile “innere Ausland” Rußlands. Gewalt und prekäre Verhältnisse an der Südperipherie Rußlands beschränken sich längst nicht nur auf Tschetschenien.

Jeronim Perovic
Am Abgrund. Fehlentwicklung im Nordkaukasus

In Tschetschenien finden keine massiven Kriegshandlungen mehr statt. Moskau hat seine Truppen deutlich reduziert. Trotzdem bleibt die Situation gespannt. Während Moskau in Tschetschenien die Verantwortung zunehmend lokalen Strukturen überträgt, setzt es im übrigen Nordkaukasus auf mehr zentralstaatliche Kontrolle und stärkere Militärpräsenz. Beides ist problematisch: Rußlands Rückzug aus Tschetschenien könnte die Gefahr eines innertschetschenischen Konflikts nach sich ziehen. Moskaus ostentatives Auftreten als Polizeimacht in den anderen Republiken des Nordkaukasus könnte das heikle Gleichgewicht in der Region aus dem Lot bringen und eine Stärkung islamistischer Rebellengruppen fördern.

Aleksandr Proskurjakov
Tschetschenische Diffusion. Konflikte, Kämpfe, Krieger im Nordkaukasus

Tschetschenien ist eine Schnittstelle zwischen den Konfliktzonen im Nordkaukasus und im Südkaukasus. Obwohl Rußlands Präsident Putin den Krieg in Tschetschenien für beendet erklärt hat, dehnen sich die Kampfhandlungen schleichend aus. Die Nähe und Vernetzung der Konfliktzonen und Gewalteruptionen erleichtern diese Ausdehnung. Besonders betroffen ist Dagestan. Die jüngere Entwicklung gibt jedoch Anlaß zu der Sorge, daß auch die anderen nationalen Republiken des Nordkaukasus immer öfter zum Schauplatz einer Eskalationsspirale von Terroranschlägen radikaler Separatisten und rußländischer Spezialeinheiten werden.

Margarete Wiest
Beschränkter Pluralismus. Postkommunistische autoritäre Systeme

In der Transformationsforschung wurde das Konzept des Autoritarismus vernachlässigt. Autoritäre Systeme von demokratischen und totalitären abzugrenzen, galt lange als Desiderat. Beschränkter Pluralismus läßt sich als zentrales Kennzeichen autoritärer Systeme begreifen. Seit einiger Zeit wächst das Interesse an der Thematik; das schlägt sich in einer Vielzahl von “Autoritarismen mit Adjektiven” nieder, die gebildet wurden, um die Besonderheiten der postkommunistischen autoritären Systeme einzufangen. Zu den Spezifika der Autoritarismen im exkommunistischen Raum gehören eine mangelnde Rechtsstaatlichkeit, ineffiziente Staatlichkeit und eine enge Verwebung von Politik und Wirtschaft.

Gerhard Simon
Der Wandel autoritärer Systeme. Postkommunistische Volksbewegungen für Demokratie

In einigen autoritär verfaßten postkommunistischen Staaten entstanden Volksbewegungen, welche die Machthaber herausgefordert und die Umwandlung der autoritären Regime in demokratische Ordnungen verlangt haben. Eine komparative Analyse der Entwicklungen in Serbien, der Ukraine, Georgien und Kyrgyzstan, wo die Volksbewegungen einen Regimewechsel erzwangen 0oder partiell erfolgreich waren, sowie ein kontrastiver Blick auf die gescheiterten Initiativen in Azerbajdzan und Belarus läßt die Voraussetzungen deutlich werden, unter denen ein demokratischer Wandel möglich ist. Erforderlich sind oppositionelle Organisationserfahrung, Spaltung der Eliten, ein klar definiertes und beschränktes Ziel, Massenmobilisierung und Gewaltfreiheit.

Tomas Lebeda
Tschechisches Patt. Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2006

Die Wahlen in der Tschechischen Republik Anfang Juni 2006 haben zu einem Patt geführt. Die alte Mitte-Links-Koalition ist zerfallen und nicht mehr regierungsfähig. Eine rot-rote Koalition aus Kommunisten und Sozialdemokraten hat keine Mehrheit. Auch dem Mitte-Rechts-Bündnis aus Liberal-Konservativen, Christsozialen und Grünen, das nach den Wahlen eine Regierungsbildung anstrebte, fehlt im Abgeordnetenhaus eine Stimme zur Mehrheit. Die beiden großen Parteien können sich bislang nicht auf eine Machtteilung verständigen. So ist die tschechische Politik über zwei Monate nach den Wahlen noch immer blockiert.

Freddy Litten
Der Kalte Krieg auf Mikroform. Osteuropa-Archivalien der Bayerischen Staatsbibliothek

Die Bayerische Staatsbibliothek in München verfügt über eine umfangreiche Sammlung mikroverfilmter Archivalien aus und über Osteuropa. Einen Schwerpunkt bilden Materialien zum Kalten Krieg aus rußländischen, amerikanischen und britischen Archiven. Dokumentiert werden nicht nur die politischen Spannungen zwischen den Großmächten USA und Sowjetunion, sondern auch der politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Hintergrund in Ost- und Mittelosteuropa sowie globale Aspekte der Konfrontation zwischen den beiden Machtblöcken.

Published 30 July 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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