Abstracts Osteuropa 3/2006

Lilia Shevtsova
Garantiert ohne Garantie. Rußland unter Putin

Die politische Entwicklung Rußlands folgt einer ebenso paradoxen wie
furchteinflößenden Logik. Die herrschende Klasse ist an der Stabilisierung
der bestehenden Ordnung interessiert. Diese spezifische Ordnung kann
jedoch nur gefestigt werden, wenn sie im Fluß ist. Die Unbestimmtheit ist
ihr Wesen. Die herrschende Clique arbeitet mit Nachdruck an einem Staat,
der nicht nur eine riesige Gefahr für die rußländische Gesellschaft darstellt,
sondern ihr selbst außer Kontrolle geraten könnte. Doch gegenwärtig gibt
es keine politische Kraft, die verhindern könnte, daß Rußland in einen Gesellschaftszerfall oder eine Diktatur abgleitet.

Boris Dubin
Simulierte Macht und zeremonielle Politik. Elemente der politischen Kultur in Rußland

Seit Beginn der Putin-Ära inszenieren die staatlichen Medien in Rußland
eine zeremonielle Politik, simulieren Machtfiguren und entwerfen Bedrohungsszenarien. Eine solche symbolische Politik soll Solidarität mobilisieren und die Nation zusammenschmieden. Doch kann sie nicht verdecken, daß die Männer an Rußlands Staatsspitze schwach und verantwortungslos sind, die Elite entweder dienstfertig oder gelähmt ist und die
Bevölkerung in Angst verharrt.

Azär Babayev
Demokratie-Test nicht bestanden. Parlamentswahlen in Azerbajdzan 2005

Nach dem demokratischen Aufbruch in Georgien und der Ukraine knüpfte die azerbajdzanische Opposition an die Parlamentswahlen im November 2005 die Hoffnung, Ähnliches wie in Kiev und Tbilissi könne sich auch in Baku ereignen. Die Wahlen wurden von Beobachtern als die größte, aber für lange Jahre letzte Chance für die Demokratie in Azerbajdzan betrachtet. Doch sind alle Beteiligten durch den Demokratie-Test gefallen: die Wähler, die politische Elite und auch der Westen, der der Stabilität Vorrang vor der Demokratie gegeben hat.

Norbert Baas
Vertrauen bilden, Stabilität schaffen. Die Vereinten Nationen und der georgisch-abchasische Konflikt

Der georgisch-abchasische Konflikt hinterließ tiefe Wunden in Georgien
und in der Autonomen Republik Abchasien. Die internationale Gemeinschaft erkannte die Sezessionsbestrebungen Abchasiens nie an. Sie bekennt sich zur territorialen Integrität und Souveränität Georgiens in seinen anerkannten Grenzen. Unter der Ägide der Vereinten Nationen wird
an einer Lösung des Konfliktes gearbeitet. Im Vordergrund stehen Vertrauensbildung und eine Rückkehr der georgischen Flüchtlinge und Vertriebenen nach Abchasien, vor allem in den Gali-Distrikt. Erst wenn es
hier zu Fortschritten kommt, wird sich die Frage nach einer politischen
Lösung einschließlich des Status Abchasiens stellen.

Karin Bachmann
“Reform-Tiger” Slowakei. Ein Vorbild für andere Staaten?

Das Bild der Slowakei hat sich in den vergangenen Jahren rasant gewandelt. War der junge ostmitteleuropäische Staat bis zur Ablösung des Meciar-Regimes im Jahre 1998 international nicht “hoffähig”, gilt er heute
als Musterbeispiel für Reformfreude. Vor allem die Einführung eines einheitlichen Steuersatzes von 19 Prozent Anfang 2004 löst Bewunderung
aus. Das Reformwerk beruht jedoch auf sehr spezifischen strukturellen
Voraussetzungen und wird von politischer Instabilität bedroht.

Ulrich Hofmeister
Kolonialmacht Sowjetunion. Ein Rückblick auf den Fall Uzbekistan

War die UdSSR eine Kolonialmacht? Das Beispiel Uzbekistan zeigt, daß
alle Charakteristika des Kolonialismus auf die sowjetische Herrschaft in
Zentralasien zutreffen. Substantielle Unterschiede zur Herrschaftspraxis
der westeuropäischen Kolonialmächte erklären sich dadurch, daß die
Sowjetmacht mit größerer Konsequenz versuchte, Uzbekistan in den
Gesamtstaat zu integrieren. Langfristig reichten diese Bemühungen nicht
aus, so daß auch die zentralasiatischen Republiken den Weg der Dekolonisation einschlugen.

José M. Faraldo
Ad marginem. Osteuropaforschung in Spanien

Osteuropaforschung in Spanien haftet der Hauch des Exotischen an. Eine Beschäftigung mit Osteuropa war immer randständig. Unter Franco
wurde sie aus politischen Gründen behindert. Dadurch fehlt, anders als
in Deutschland, eine solide akademische und interdisziplinäre Tradition.
Doch unterdessen haben die spanische Nationalismus-, Diktatur- und
Transformationsforschung substantielle Beiträge vorgelegt, und das
komparative Erkenntnisinteresse am Osten Europas wächst.

Petra Huber
Verrat oder Vermittlung? Iosif Brodskij / Joseph Brodsky als Doppelspion der Kultur

Der Lyriker und Übersetzer Iosif Brodskij verließ 1972 die Sowjetunion
und wurde in den USA als Joseph Brodsky, Dichter, Essayist und Universitätsdozent “wiedergeboren”. Er verfaßte dort seine Gedichte weiterhin zumeist auf russisch, bei der Essayistik jedoch vollzog Brodskij einen
Wechsel zur neuen, englischen Sprache. Zwei Texte aus unterschiedlichen Gattungen, zwischen denen nahezu die gesamte Zeitspanne von
Brodskijs Exil liegt, zeigen Brodskij als ausgeprägten Grenzgänger zwischen den Kulturen, Sprachen und Gattungen. Gemein ist den beiden
Texten die Thematik: Der Schriftsteller als Spion und potentieller Verräter der eigenen Kultur.

Karlheinz Kasper
“Mit den Modellen des Weltalls wedelnd…” Russische Literatur in deutschen Übersetzungen 2005

Die deutschen Übersetzer haben auch in diesem Jahr bei der Übertragung älterer und aktueller Werke russischer Autoren Außerordentliches
geleistet. Neben Peter Urban sollen Ganna-Maria Braungardt, Annelore
Nitschke, Alexander Nitzberg, Andreas Tretner, Dorothea Trottenberg
und Birgit Veit genannt werden. Wieder boten kleine Verlage wie Dörlemann, Engeler, Kein & Aber, Pano, Persona und die Zeitschrift Schreibheft Preziosen an. Auffallend hoch blieb auch 2005 die Zahl der übersetzten Krimis.

Published 30 March 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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