Abstracts Osteuropa 12/2005

Karl Schlögel
Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens. Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde

Der Wissenschaftler und Politiker Otto Hoetzsch brachte im Berlin der
1920er Jahre alle jene zusammen, die an Rußland Interesse zeigten. Er
gründete die Deutsche Gesellschaft zum Studium Rußlands (später:
Osteuropas) und hob 1925 die Zeitschrift Osteuropa aus der Taufe.
Hoetzsch organisierte und inspirierte russische Emigranten,
Deutschbalten und Sowjetrussen. Berlin war das weltweit anerkannte
Zentrum der Rußland- und Osteuropastudien. Die Nationalsozialisten
diffamierten Hoetzsch als “Salonbolschewisten”, zwangen ihn zum Rückzug,
zerstörten die akademische Osteuropaforschung und stürzten Europa in den
Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg bescherte die Teilung Europas Otto
Hoetzsch mit seinem Anspruch, Rußland und Osteuropa in den europäischen
Geschichtshorizont einzugliedern, eine letzte Niederlage.

Michael Kohlstruck
“Salonbolschewist” und Pionier der Sozialforschung. Klaus Mehnert und die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas 1931-1934

Zwischen 1931 und 1933 amtierte Klaus Mehnert als Generalsekretär der
DGSO und Schriftleiter der Zeitschrift Osteuropa. Der in Moskau geborene
Mehnert (1906-1984) war bereits in den 1920er Jahren von dem Tempo und
dem Elan der Veränderungen in der Sowjetunion fasziniert. Nicht dem
Inhalt, aber dem Stil nach plädierte er für eine ebensolche
tiefgreifende Entwicklung in Deutschland. Dieser Begeisterung entsprach
sein Eintreten für die Rapallo-Linie einer außenpolitischen Kooperation
zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Politisch gehörte
Mehnert ins Umfeld der Schwarzen Front von Otto Strasser. Mit dem
Machtantritt der NSDAP zeichneten sich deshalb Schwierigkeiten ab.

Intermezzo
“Mein Rätebuch kursierte als Raubdruck”. Mit Oskar Anweiler auf einer tour d’horizon

Den Erziehungswissenschaftler und Osteuropahistoriker Oskar Anweiler
verbindet etwas Besonderes mit der Zeitschrift Osteuropa: Beide wurden
1925 aus der Taufe gehoben. Dies ist Anlaß, Anweiler auf einer
biographischen tour d’horizon zu begleiten. Sie beginnt im
multiethnischen Galizien, führt über den Hitler-Stalin-Pakt und den
folgenden Krieg zur intellektuellen Auseinandersetzung mit Osteuropa in
der Nachkriegszeit. Anweiler ist Zeuge des Neuaufbaus der
Osteuropaforschung, diskutiert mit der Studentenbewegung über
Staatskommunismus und Rätesystem, reflektiert die Bedeutung der
Entspannung, den politischen Standort der Osteuropaforschung und denkt
darüber nach, welche Folgen das Ende des Ost-West-Konflikts für das
eigene Weltbild und sein akademisches Selbstverständnis haben.
Interdisziplinarität und Komparatistik bleiben im Zentrum. Oskar
Anweilers Leben und 80 Jahre Osteuropa haben etwas gemeinsam: Beide sind
ein Spiegel der Zeit.

Dietrich Beyrau
Ein unauffälliges Drama. Die Zeitschrift Osteuropa im Nationalsozialismus

Im Moskauer “Sonderarchiv” liegen bis heute Akten aus dem Auswärtigen
Amt. Sie geben Aufschluß über die Arbeit der Deutschen Gesellschaft zum
Studium Osteuropas und der Zeitschrift Osteuropa von 1933 bis 1939 –
beide wurden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mißtrauisch
beäugt. Den NS-Ostexperten galten sie als Institutionen der Weimarer
Republik. Die Verantwortlichen der Gesellschaft und der Redaktion wie
Otto Hoetzsch, Klaus Mehnert und Werner Markert ließen sich auf einen
Balanceakt zwischen Ausspielen ihrer fachlichen Kompetenz und Anpassung
an die neuen Machthaber ein. Die Annahme, als ehemalige “Verlängerung
des Auswärtigen Amtes” vor politischen Angriffen oder der eigenen
Kompromittierung immun zu sein, erwies sich als Illusion. Die Lage der
Osteuropa-Gesellschaft wurde immer prekärer. Prominente Repräsentanten
wurden in die innere Emigration oder ins Exil getrieben, andere zahlten
ihre Anpassung mit einer fatalen Nähe zu den Überzeugungen der
NS-Ostexperten. Die Hintergründe der Auflösung der Gesellschaft und des
Endes der Zeitschrift 1939 bleiben im dunkeln.

Ray Brandon
“Politische Einstellung: Jude”. Wolfgang Johannes Leppmann (1902-1943)

In der Weimarer Republik war Berlin Zentrum der Osteuropaforschung. Zum
wissenschaftlichen Nachwuchs zählte Wolfgang Leppmann. Der Slawist und
Historiker, Doktorand von Otto Hoetzsch, arbeitete bei der Deutschen
Gesellschaft zum Studium Osteuropas und publizierte mehrfach in
Osteuropa. Von 1931 bis 1934 unterstützte er Hoetzsch als
wissenschaftlicher Assistent bei der Herausgabe der Quellenedition Die
internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus. Nach der
nationalsozialistischen Machtübernahme geriet Leppmann, der sich selbst
nicht als Jude betrachtete, dem Regime aber als solcher galt, ins Visier
der NS-Rassenpolitik. Dem größten Teil von Leppmanns Familie und seinen
Kollegen gelang die Flucht. Er selbst konnte sich nicht dazu
entschließen. Als er deportiert werden sollte, tauchte er unter, wurde
aber bald darauf entdeckt. Wolfgang Leppmann starb 1943 in Auschwitz.

Intermezzo
Wo die Geschichte auf die Haut kriecht… Katharina Raabe über Literatur aus dem Osten Europas

Die Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe analysiert den Stoffwechsel
zwischen Lesen und Welterfahrung. Sie enthüllt das Besondere an der
osteuropäischen Literatur und benennt die Hürden, die zu überwinden
sind, ehe sich Autoren wie Andruchovyc, Cosic, Darvasi oder Stasiuk auf
dem deutschen Buchmarkt etablieren können. Sachbücher über Osteuropa
sind besonders schwierig durchzusetzen. Für die mentale Erschließung
dieses Raums werden Bücher aus der Feder inspirierter Flaneurs immer
wichtiger. In dem ihnen eigenen Genre verschränken sich geographische,
politische und historische Ebenen. Zeitschriften wie Osteuropa werden
ihre Bedeutung behalten, wenn es ihnen gelingt, Forum zu sein, auf dem
Autoren Aktuelles stärker reflektierend und analytisch weiter
ausgreifend erklären können, als dies Zeitungen gemeinhin gestatten, und
wenn sie die anachronistische Dichotomie aus Wissenschaftszeitschrift
oder Publikumszeitschrift überwinden.

Corinna R. Unger
“Objektiv, aber nicht neutral”. Zur Entwicklung der Ostforschung nach 1945

Ihrer nationalsozialistischen Belastung zum Trotz gelang es der
Ostforschung nach 1945, sich in der Bundesrepublik wieder als
wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Dies verdankte sie der
Flexibilität ihrer Vertreter, die sich und ihre Forschung den neuen
politischen Bedingungen anzupassen verstanden: Zum einen betonten sie
den politischen Nutzen ihrer Arbeit für die Auseinandersetzung um die
Oder-Neiße-Grenze und die Vertriebenenproblematik; zum anderen kam ihnen
der Kalte Krieg gelegen, um die individuelle Belastung sowie die
deutsche Verantwortung für die Verbrechen in Ost- und Ostmitteleuropa
zugunsten der Beschäftigung mit der drohenden sowjetischen Expansion zu
verdrängen. Erst im Laufe der 1960er Jahre legte das Fach seine bis
dahin dominante deutschtumszentrierte, vielfach antikommunistische
Ausrichtung ab.

Sebastian Lentz & Stella Schmid
Blauer Riese. Das Osteuropa-Raumbild 1951-1955

Von der Wiedergründung der Zeitschrift 1951 bis Ende 1955 erschien
Osteuropa in blauem Gewand. Zu sehen war der Ausschnitt einer Weltkarte,
die auf der Basis der Mercator-Projektion erstellt wurde. Diese hat den
Nachteil, daß sie die Fläche nur am Äquator getreu abbildet, je näher
die Darstellung an den Polen liegt, desto stärker wird die Verzerrung.
Indien wirkt gegenüber dem nördlichen Sibirien lächerlich klein. Gewollt
oder ungewollt vermittelt diese Karte verschiedene Bilder von Osteuropa.
Sie könnte einen politischen Osteuropabegriff visualisieren, der neben
der UdSSR auch China umfaßt. Gleichzeitig könnte sie im Kalten Krieg
dazu gedient haben, die kommunistische Gefahr darzustellen. Nicht
unwahrscheinlicher ist, daß es sich um ein bloßes graphisches
Gestaltungsmittel handelt. Dafür spricht die holzschnittartige, beinahe
expressionistische Anmutung der Darstellung.

Intermezzo
Der englische Einheitsjargon ist ein Holzweg. Bodo von Greiff über Zeitschriften, Wissenschaft und Politik

Der Redakteur des Leviathan, Bodo von Greiff, singt das Loblied der
Interdisziplinarität, spricht über die Überwindung der Weberschen
Trennung von Wissenschaft und Politik, sinniert über den Zusammenhang
von Sprache und Erkenntnis, diagnostiziert kindische Neigungen unter
Autoren, analysiert die Herausforderungen des Zeitschriftenmachens
zwischen Mäzenatentum und Werbung für Rückenstützen mit Lesebrillen und
erinnert daran, daß auch die Vorfahrtsregeln im römischen Wagenrennen
Erkenntnisgewinn haben können.

Thekla Kleindienst
Zerreißprobe. Entspannungspolitik und Osteuropaforschung

Die deutsche Osteuropaforschung hängt wie jede andere Wissenschaft von
politischen Konjunkturen ab. Begünstigt durch den beginnenden Kalten
Krieg wurde die bundesdeutsche Osteuropaforschung in den 1950er Jahren
stark gefördert und konnte an institutionelle Strukturen und
Forschungsmethoden der Zeit vor 1945 anknüpfen. Die Entspannungspolitik
der 1960er und 1970er Jahre beeinflußte die Osteuropaforschung derart
nachhaltig, daß das gesamte institutionelle und inhaltliche Gefüge, wie
es sich in den 1950er Jahren etabliert hatte, ins Wanken geriet. Der
langsame Abschied vom Paradigma der Ostforschung sowie eine thematische
und methodische Ausdifferenzierung waren wichtige Schritte auf dem Wege
der Verwissenschaftlichung der Osteuropaforschung nach 1945.

Heinz Brahm
Drehscheibe der Osteuropaforschung. Das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien

Fünf Jahre sind seit der Schließung des Bundesinstituts für
ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) vergangen. Als
Verbindungsstelle zwischen der Osteuropaforschung und der
Bundesregierung war das interdisziplinär ausgerichtete BIOst ein Novum.
In Gesprächsrunden mußten die Politikwissenschaftler, Ökonomen und
Juristen ständig ihre Erkenntnisse abgleichen. Zwar arbeitete das BIOst
für viele Ministerien, sein eigentlicher Ertrag liegt jedoch in der
Forschung. Das Institut wurde weder von den Ressorts vereinnahmt, noch
folgte es akademischen Konjunkturen. Es war ein offenes Haus, in dem
Studenten arbeiteten und Journalisten Gesprächspartner fanden. Für die
Wissenschaftler ergaben sich Einsichten durch Kontakte, die anderswo
kaum möglich waren.

Published 4 January 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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