Abstracts Osteuropa 10/2006

Kai-Olaf Lang
Anatomie einer Zurückhaltung. Deutschland und die Visegrád-Gruppe

Obwohl Deutschland sich für den Beitritt Polens, Tschechiens, Ungarns und der Slowakei zur NATO und EU stark gemacht hatte, gibt es bis heute keine spezifische deutsche Visegrád-Politik. Verantwortlich dafür ist, daß die Erweiterung Vorrang vor einer genuinen “Mitteleuropapolitik” hatte. Eine solche wäre in Ost und West auf historisch begründetes Mißtrauen gestoßen. Bilaterale Beziehungen genießen Priorität. Die schwachen Beziehungen zur Visegrád-Gruppe resultieren nicht zuletzt aus den strukturellen, historischen und politischen Unterschieden zwischen Polen und den “kleineren Ländern”, die verhindern, daß die Visegrád-Gruppe ein attraktives Kooperationsforum bilden würde. Doch um die Handlungsfähigkeit in der EU zu steigern, wäre es ratsam, Visegrád mehr Substanz zu verleihen und die Kooperation mit der Gruppe zu verstärken.

Jiri Vykoukal
Kernschmelze oder Kernspaltung? Mitteleuropakonzepte und regionale Integration

Mitteleuropa klingt nach Verheißung. Der Begriff verspricht kulturelle Vielfalt und politische Einheit. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Die politischen Mitteleuropakonzepte, die seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurden, sollten alle nationalen Zielen dienen. Selbst in Krisenzeiten wurden sie nie verwirklicht. Die Idee, daß Mitteleuropa eine kulturelle Einheit bilde, die sich deutlich von Osteuropa unterscheide, entwickelte hingegen in den 1980er Jahren eine große Sprengkraft für das sowjetische Herrschaftssystem. Seit dessen Zerfall leidet die Visegrád-Gruppe allerdings unter mangelnder Kohäsionskraft, da die regionale Kooperation in keinem der vier Staaten überzeugend in eine Traditionslinie gerückt werden kann und es ihr so an historischer Legitimation mangelt.

Jan Ruzicka, Michal Koran
Totgesagte leben länger. Die Visegrád-Gruppe nach dem EU-Beitritt

Das Visegrád-Projekt lebt. Oft wurde die regionale Kooperation in Ostmitteleuropa in den vergangenen fünfzehn Jahren abgeschrieben und zuletzt nach dem EU-Beitritt der vier Staaten 2004 für tot erklärt. Zwar ist die Kooperation kaum institutionalisiert. Doch Ministerien und Behörden versuchen in vielen Politikfeldern gemeinsame Positionen abzustimmen. Vor allem arbeiten sie gemeinsam an einer Einbindung der Ukraine und des Westbalkans in die EU. Seit 2000 verfügt die Gruppe mit dem Internationalen Visegrád-Fonds sogar über einen eigenen kleinen Etat.

Jacques Rupnik, Anne Bazin
Vorwärts zurück. Deutschland, Polen, Tschechien

Mit Polens und Tschechiens EU-Beitritt 2004 schien der Weg frei für eine endgültige Aussöhnung mit den Deutschen und für eine fruchtbare Zusammenarbeit in Europa. Doch Reformmüdigkeit und die Regierungsbeteiligung populistischer, nationalistischer und euroskeptischer Gruppierungen in Ostmitteleuropa haben dazu geführt, daß nach einer Phase der Annäherung die Beziehungen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn stagnieren oder sich, wie im Falle Polens, abkühlen. Historische Streitfragen sowie Differenzen über das Verhältnis zu den USA und zu Rußland und über die Zukunft Europas belasten die bilateralen Beziehungen und gefährden die Fortführung der europäischen Integration.

Vladimir Handl
Entspannte Übungen. Tschechien und Deutschland in der EU

Statt eines Neben- oder Gegeneinanders läßt sich erstmals in der neueren Geschichte von einem Miteinander von Tschechen und Deutschen sprechen. Die Machtasymmetrie zwischen den beiden Staaten und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg beeinflussen zwar weiter das tschechische politische Denken. Die gemeinsame Einbindung in NATO und EU hat die Bedeutung dieser Faktoren jedoch deutlich gesenkt. In europapolitischen Grundsatzfragen, die für die tschechische Politik ein zentrales Feld der programmatischen Profilierung sind, gibt es zwar weiterhin grundlegende Meinungsverschiedenheiten. In den Politikfeldern hat aber auf beiden Seiten ein Pragmatismus Einzug gehalten, der sich von den politischen Stürmen rund um die Vergangenheitspolitik und um europapolitische Grundsatzfragen unbeeindruckt zeigt.

Vladimir Bilcik, Juraj Buzalka
Die nicht-existente Gemeinschaft. Die Slowakei und Deutschland in der EU

Die deutsch-slowakischen Beziehungen sind nicht durch historische Konflikte belastet. Sie leiden aber unter der Asymmetrie zwischen den beiden Staaten. Die Slowakei hat für Deutschland nicht annähernd die Bedeutung, die Deutschland für die Slowakei hat. Die Bundesrepublik ist aufgrund ihrer Wirtschaftskraft und ihres politischen Einflusses sowie als Mitglied des Schengenraums und der Eurozone für die Slowakei ein wichtiger Partner in der EU. Interessendivergenzen herrschen hingegen bei den Themen Öffnung des EU-Binnenmarkts für ostmitteleuropäische Arbeitnehmer und EU-weite Angleichung der Steuersätze. An der inneren Spaltung der EU in vollberechtigte und – noch – nicht vollberechtigte Mitglieder sowie an europapolitischen Grundsatzfragen wie dem Verfassungsvertrag entzünden sich auch innerslowakische Konflikte.

Josefine Wallat
Alte Lasten, neue Chancen. Deutschlands Blick auf Visegrád

Deutschland und die vier ostmitteleuropäischen Staaten haben seit dem Ende des Ost-West-Konflikts intensive Beziehungen aufgebaut. Diese sind jedoch nicht spannungsfrei. Nach wie vor drückt die Last des historischen Erbes. Unterschiedliche Vorstellungen von den Aufgaben und Zielen der EU und vom transatlantischen Verhältnis führen immer wieder zu Irritationen. Vielfach beziehen die Visegrád-Staaten nicht gemeinsam Position, sondern setzen auf einzelstaatliches Handeln. Auch die deutsche Politik ist eher bilateral als auf die Visegrád-Gruppe als ganze ausgerichtet.

Thomas von Ahn
Demokratie oder Straße? Fragile Stabilität in Ungarn

Mitte September 2006 wurde Ungarn von einer teilweise gewaltsamen Demonstrationswelle erschüttert. Anlaß war eine Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Gyurcsány, in der er zugab, vor den Wahlen die Staatsverschuldung bewußt verharmlost zu haben. Die Proteste gegen Gyurcsány und seine im Sommer 2006 eingeleitete Sparpolitik sind vorläufiger Höhepunkt einer seit Jahren immer heftiger geführten Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern. Das rechtskonservative Lager, das seit 2002 in der Opposition ist, scheint zunehmend das politische System in Frage zu stellen. Die Gräben zwischen den Lagern werden durch vergangenheitspolitische Konflikte vertieft, hinter denen sich grundlegende nationalpolitische Differenzen verbergen.

Michael W. Bauer, Jutta Kuppinger
Regionale Autonomie und Regionalförderung. EU-Programme in Polen und Tschechien

Das Credo der europäischen Regionalpolitik war bislang, daß sich regionale Förderprogramme am besten in dezentralen Staatsstrukturen umsetzen ließen. Ein Vergleich der Implementierung der Gemeinschaftsinitiative Interreg III A in Polen und in der Tschechischen Republik führt jedoch zu einem gegenteiligen Schluß: Je zentralisierter die Staatsstruktur, desto erfolgreicher die Umsetzung der europäischen Regionalhilfen in Ostmitteleuropa. Während im dezentralisierten Polen Kompetenzstreitigkeiten zwischen regionalen Verwaltungseinheiten und der nationalen Ebene eine zügige und effektive Regionalförderung behindern, trägt Tschechiens klare zentralstaatliche Struktur zum erfolgreichen Einsatz von EU-Mitteln bei.

Walter Kaufmann
Bärendienste. Georgien und Rußland in der Eskalationsspirale

Die Konflikte zwischen Rußland und Georgien sind zu einer Krise eskaliert. Anlaß war die öffentliche Abschiebung von mutmaßlichen rußländischen Agenten aus Georgien. Rußland reagierte mit Sanktionen und Deportationen. Im Kern geht es um konkurrierende Interessen. Georgien kämpft um seine territoriale Integrität. Rußland unterstützt die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien. Georgien zieht es in die NATO, was in Rußland auf Mißfallen stößt. Das Handeln der Konfliktparteien ist kontraproduktiv. Die Moskauer Manipulationen und Deportationen stärken die Regierung Saakaschwili. Doch dessen aggressive Rhetorik und riskante Politik lassen die Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens unwahrscheinlicher werden. Mit der Politik der Eskalation erweisen sich beide Regime somit einen Bärendienst.

Published 20 November 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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