"Sie sind so anders als wir"

Wer ist der Fremde, wer der Andere in der postsozialistischen, nationalistischen ungarischen (Kunst-)Szene?

Anlässlich der Ausstellung zur Feier des tausendjährigen Bestehens der ungarischen Nation 1896 wollte es der Budapester Zoo den “zivilisierteren” Ländern und “fortschrittlicheren” Institutionen bei der Ausstellung “primitiver Menschen” gleichtun und den BesucherInnen mit der Ausstellung von 250 “Negern” aus Afrika eine Freude bereiten.1 Der Sonntagszeitung zufolge, in der die Sensation verkündet wurde, konnte man die fast nackten Körper dieser “anmutigen Neger” für nur 50 Krajcar (der damaligen Währung) begutachten. Wie es hieß, war das Spektakel sein Geld wert, denn “sie sind so anders als wir” und, mehr noch, es “herrscht keinerlei übler Geruch unter all diesen Wilden”. Weiter heißt es in der Werbung: “Die Szenerie wird durch ein gewisses ästhetisches Vergnügen aufgewertet. Schönere Körperformen lassen sich kaum finden. Vor allem beim Baden kommt die schlanke Gestalt des Negers, vom abperlenden Wasser glänzend, wahrlich einer Bronzestatue gleich.”2

Anna Kárpáti, eine ungarische Bildhauerin, fertigte 1967 eine echte Bronzestatue nach dem Abbild eines afrikanischen Jungen an, die den Titel Negerjunge trug. Diese Statue steht noch immer in Óbuda, einem Budapester Bezirk. Der Junge wurde von einem jungen Journalisten als Angehöriger der Nuba aus der Region Kordofon des Sudan identifiziert.3 Diese hatten durch die Fotografien von George Rodger im National Geographic 1952 große Bekanntheit erlangt, die “überall vervielfältigt wurden, von Postkarten über Plakaten bis zu Schulbüchern. Über Jahre waren sie ein maßgebliches Porträt Afrikas.”4 Tatsächlich waren sie bereits 1896 in Budapest als solch ein “Stück Afrika” gezeigt worden.

2012 schuf Szabolcs KissPál eine Doku-Fiction mit dem Titel Amorous Geography für das Projekt Zoo-topia, worin es um Zooarchitektur als Taxonomie der nationalen Repräsentation ging.5 In dem Video wird die koloniale Vorstellungswelt Ende des 19. Jahrhunderts auf Transsylvanien übertragen, das Traumland Ungarns, ein “verlorenes Paradies”, das nach dem Friedensvertrag von Trianon 1920 von Ungarn abgetrennt wurde. Das Thema wird von zeitgenössischen KünstlerInnen im Allgemeinen vermieden, da sich Politik und extreme Rechte seiner bemächtigt haben. Der Revisionismus der Zwischenkriegsjahre, der damals alle Bereiche der Kultur durchdrungen hatte, wurde zur Zeit des Sozialismus unterdrückt, um nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems wieder umso stärker hervorzutreten. Das Verlangen, die Vergangenheit vor der Sowjetära zu rekonstruieren, wird offensichtlich in der Neuetablierung und Unterstützung konservativer, religiöser und nationalistischer Kultur, wie sie durch die Ungarische Kunstakademie (MMA) repräsentiert wird, eine Art kulturelles Schattenministerium, das in der Verfassung verankert ist und gegen dessen zunehmende Macht zeitgenössische KünstlerInnen bereits mehrfach Kundgebungen veranstaltet haben.6 Dieses Zurückspringen in der Zeit äußert sich auch in der Umgestaltung des symbolträchtigsten Orts der ungarischen Hauptstadt, dem Kossuth-Platz rings um das Parlament, entsprechend dem Erscheinungsbild vor 1944. Der revanchistische Trianon-Diskurs lieferte eine Projektionsfläche für Gefühle und Wünsche der Nachkriegszeit, wie das Bedauern angesichts des Verlusts vermeintlicher Größe, der Schmerz von Niederlage und Demütigung sowie das Verdrängen jeglichen Verantwortungsgefühls. Mit der Ausweitung des Opferstatus auf alle Leidtragenden des Naziregimes durch das Nazi-Besatzungsdenkmal auf dem Freiheitsplatz, einem weiteren symbolisch aufgeladenen Ort in Budapest, wird jegliche Verantwortung für den Holocaust geleugnet. Das Denkmal sorgte bereits zu Baubeginn für steten Widerstand und führte sofort zur Entstehung einer Gegenbewegung namens Living Memorial.7 Der Kontrast zwischen dem vertikalen, gesicherten und aus beständigem Material bestehenden Nazi-Besatzungsdenkmal und dem horizontalen Living Memorial aus zerbrechlichen, vergänglichen Materialien fällt ins Auge und versinnbildlicht das Machtungleichgewicht zwischen der offiziell propagierten Kultur und ihrer Opposition.

KissPál – übrigens einer der InitiatorInnen des Living Memorial – überspitzt die Vorstellung von Transsylvanien als Hort des Urungarischen mit seinem Video, in dem eine Szene Admiral Horthy dabei zeigt, wie er die besten zur Verfügung stehenden Prototypen einer Spezies für die Zooausstellung inspiziert, und zerstört so die Illusion eines heiligen Bandes zwischen dem fürsorglichen “Vaterland” und der hilflosen Verwandtschaft jenseits der Grenze des geschrumpften Vaterlands. Damit offenbart er die verborgene koloniale Seite der überhitzten Zuneigung, die sich in Zeiten der Krise oder des Konflikts erfolgreich mobilisieren lässt, um die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problemen abzulenken. Durch eine Art psychoanalytische Begutachtung der unbewussten Motivationen und Wünsche, die dieser Liebesgeschichte zugrunde liegen, kehrt der Künstler das Narrativ der passiven, leidenden Opfer eines ungerechten Friedensvertrags in das Narrativ einer aktiven, aggressiven Kolonialmacht um, die nicht in der Lage ist, sich ihrer eigenen historischen Verantwortung zu stellen. Das Werk lüftet den Schleier der dunklen Seite der Moderne – die Erfindung des “Wilden”, des Anderen im Konzept der “Zivilisation” – und fordert so zur gedanklichen Neubewertung und Neuverhandlung dieses (auserwählten und innig geliebten) traumatischen Ereignisses auf.

Balázs Antal / László Hatházi / Zoltán Fodor, Fixed Corner, 2012, Sgraffito. Photo: Gábor Buda.

“Edle Wilde” aus dem Sudan waren in Ungarn auch 1967 zu sehen, diesmal jedoch nicht im Zoo. In den 1960er-Jahren studierten afrikanische StudentInnen in sozialistischen Ländern, da die Beziehungen und der Austausch mit den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern Afrikas zu den wichtigsten internationalen Beziehungen des offen anerkannten “weltpolitischen Systems” gehörten.8 “Die schlanke Gestalt des Negers” trat nach langer Vergessenheit 2013 wieder in den Vordergrund, als Balázs Antal, László Hatházi und Zoltán Fodor die Wand hinter der vergessenen öffentlichen Skulptur mit einem großformatigen Graffiti versahen. Dies geschah zu einer Zeit, als nicht nur der sozialistische Realismus, sondern sogar die sozialistische Periode der ungarischen Geschichte als illegitim und ihre Auslöschung in der Verfassung festgeschrieben wurde – und als “Fremde” aus Afrika und Asien, von MigrantInnen ganz abgesehen, im postsozialistischen Ungarn alles andere als willkommen waren.

Balázs Antal / László Hatházi,, 2015, Photo: Dorottya Vékony

Anlässlich der Budapester OFF-Biennale, einem sozialen Megagemeinschaftsprojekt ohne jegliche staatliche Finanzierung oder Unterstützung,9 schufen ebendiese Künstler in einer leerstehenden Privatwohnung, deren BewohnerInnen verstorben waren, neue Graffiti. Die in die Wand gekratzte Zeichnung lässt sich als Hilfeschrei der gequälten, kurz vor dem Ersticken stehenden zeitgenössischen Kunstszene interpretieren; es handelt sich um ein vergrößertes Bild aus einer medizinischen Broschüre zur Veranschaulichung der Mund-zu-Mund-Beatmung. Eine andere verlassene Wohnung, in der Little Warsaw, ein ungarisches Künstlerduo (András Gálik und Bálint Havas)10, ihre neuesten Arbeiten zeigte, befindet sich, zufällig oder auch nicht, genau auf der Achse zwischen Freiheitsplatz und Kossuth-Platz. Ihre Fenster weisen auf das Sowjetische Denkmal auf dem Freiheitsplatz, dem das umstrittene Nazi-Besatzungsdenkmal entgegengestellt wurde. Die Arbeiten wurden zusammen mit einem großen, farbigen Papiermodell des staatlichen “Irrenhauses” mit dem Spitznamen Lipót gezeigt, gebaut von den ÄrztInnen und PatientInnen der Institution. Das in einen neuen Kontext versetzte Artefakt lässt sich als subtile Anspielung auf die gesellschaftlichen und geistigen Verhältnisse im Land verstehen. Ähnliche Assoziationen weckt die Installation aus ausgemusterten Rollstühlen von Rudolf Pacsika im Innenhof eines Gebäudes im Stadtzentrum, die mittels einer unsichtbaren, künstlichen “eisernen Lunge”, einem pneumatischen System, funktioniert. Der Titel Riot vermittelt das genaue Gegenteil dessen, was passiert, und versinnbildlicht durch die Tatsache, dass die Rollstühle festgebunden und selbst in ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit kontrolliert sind, eine geistig und körperlich behinderte, gelähmte Gesellschaft, die sich von ihrer schweren Last nicht befreien kann. Gleichzeitig erinnern die Objekte an die Schmerzen und das Leid sowie an den miserablen Gesundheitszustand der Menschen und das Gesundheitssystem der Gesellschaft.

Der lauernde kollektive Wahnsinn

Johannes Fabian, ein Vertreter des kritischen Denkens in der Anthropologie, plädiert für “Negativität” in der Kultur. Er begreift sie als Methode des Widerstands, die für ihn einen politischen Akt darstellt. “Dort, wo Negativität nicht grundlegender Bestandteil des Denkens und der Erfahrung von Kultur ist, wo Reflexivität, Selbstironie und andere Methoden der Unterminierung von Positivität verkümmert sind, lauert der kollektive Wahnsinn … Dieser Wahnsinn äußert sich in ethnischen Säuberungen und Massakern sowie rechtlich unantastbaren Maßnahmen, um Klassen- und Staatsgrenzen im Namen der kulturellen Identität geschlossen zu halten.”11 Der lauernde kollektive Wahnsinn ist in Ungarn aktuell spürbar, wenn auch nicht in derart extremen Ausprägungen. Er lässt sich anhand der arroganten Nichtbeachtung demokratischer Prinzipien diagnostizieren, außerdem in schizophrenen Symptomen wie der Beantragung von Mitteln der Europäischen Union bei gleichzeitiger Ankündigung des Widerstands gegen ihren “Kolonialismus”12 sowie im Verstoß gegen die Grundprinzipen der EU mit Initiativen wie jüngst dem Plädoyer für die Todesstrafe. Die Paranoia wird in allen Gesellschaftsschichten von einem autoritären Regime gefördert, das Loyalität belohnt und Kritik bestraft. Was die Kultur betrifft, so erfolgt die Bestrafung nicht auf direktem Wege, sondern äußert sich vielmehr in der massiven Tendenz, diejenigen aus der Szene auszusondern, die mit den Lehren des Regimes nicht einverstanden sind. Größenwahnsinnige und narzisstische Vorkommnisse – etwa im Heimatdorf des Ministerpräsidenten ein Fußballstadion zu bauen, obwohl dessen Einwohnerzahl nicht einmal hoch genug ist, um es annähernd zu füllen, und der Kunstgemeinschaft den Bau eines Megamuseums im Stadtpark aufzuzwingen, während viele alternative, fortschrittliche Kulturinstitutionen um ihr Überleben kämpfen müssen –, all dies zeugt von einem konstanten Missbrauch des Gesellschaftsvertrags und bringt die Menschen an die Grenzen ihrer Geduld.

Das eigentliche Lipót wurde mittlerweile aufgegeben und dem Verfall überlassen, während Kunstwerke die Symptome einer geschwächten Gesellschaft zum Vorschein bringen, zugleich aber auch ein Gegenmittel anbieten, indem sie die Krankheit beim Namen nennen oder offen zur Schau stellen.

Agnes Eperjesi,, 2015. Photo: Ádám Urbán.
Source:Agnes Eperjesi

Angesichts der aggressiven Geschichtsverzerrung, die sich im Nazi-Besatzungsdenkmal ebenso manifestiert wie in der Parole, dass “nationale Kultur innerhalb der Kultur der Nation unterstützt werden muss”, wurde auf Einladung der Aktivistengruppe Living Memorial vom Künstlerduo Societé Realiste (Ferenc Gróf und Jean-Baptiste Nandy) eine “kollektive” und “inklusive” Nationalhymne erdacht. Die Live-Performance der Universalhymne, einem experimentellen Musikstück, in dem die Hymnen aller 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen mittels mathematischer Mittelwertberechnung vereint sind, widersetzte dich offen der ethnonationalistische Agenda der offiziellen Kulturpolitik. Ágnes Eperjesi wiederum offerierte in ihrer Intervention mit dem Titel National kippah ausgerechnet am Nationalfeiertag der Revolution und des Unabhängigkeitskriegs von 1848/49 heute, wo wieder starke antisemitische Ressentiments vorherrschen, handgemachte Kippot in den Nationalfarben. Desgleichen bot sie angesichts der stark ausgeprägten Schwulenfeindlichkeit Bänder in Regenbogenfarben an.

Csaba Nemes macht mit seinem Puppenanimationsvideo Stand here! spürbar, wie der Prozess der Ausgrenzung “Anderer” funktioniert, und veranschaulicht zugleich den psychologischen Prozess der Verinnerlichung von Stereotypen und Vorurteilen. Gallery8 hat sich die Befreiung des Körpers der Roma und damit die Befreiung der Roma durch Ausstellungen wie Roma Body politics13 zur Aufgabe gemacht, in einer Zeit, in der die Roma als Sündenböcke herhalten müssen und Hassverbrechen gegen sie weithin toleriert werden. In einer weiteren Gruppenausstellung wurden die eingeladenen KünstlerInnen zur Auseinandersetzung mit Archivfotos vom Anfang des 20. Jahrhunderts eingeladen. Sie zeigen halbnackte “Zigeunermädchen”, deren “natürliche” Körper dem voyeuristischen Blick als Projektionsfläche für erotische und exotische Fantasien dienten, ähnlich wie die zum Konsum aufgetischten “schlanken Neger”. Hieran zeigt sich, dass “eine ungeheuerliche Anzahl von Roma-Bildern die bösartigen Begehrlichkeiten der Sammler bedienen oder aber schlicht missbräuchlich und anstößig sind … In der Ausstellung sind diese verkleinerten Fotos nur unter einem Vergrößerungsglas zu sehen. Bei dieser provokanten kuratorischen Entscheidung handelt es sich nicht einfach um ein Spiel … vielmehr um eine Geste, die den Akt der Überwachung betont, der uns – die BetrachterInnen – zu VoyeurInnen werden lässt.”14 In ihren Collagen zeigt Tamara Moyzes die Gruppe der auf den inszenierten Archivfotos gezeigten Roma-Mädchen als leichte Beute für Paparazzi und Soldaten; beide Männerhorden schießen (auf) sie, physisch oder symbolisch. Wenn Moyzes der Gruppe halbnackter farbiger Mädchen eine Gruppe weißer Mädchen hinzufügt, treten die Klischees und Vorurteile gegenüber den “ethnografisch Interessanten” unmittelbar zutage.

Fabian führt die Idee von Negierung und Widerstand weiter aus und behauptet: “Das, was Kultur lebensfähig macht, was als Lebens- und Überlebensweise vorstellbar ist, ist die Fähigkeit, nicht nur das, was einen angreift, zu negieren und dagegen Widerstand zu leisten, sondern auch das abzulehnen, was einen ‘umfängt’ oder einen dazu bringt, es zu begrüßen.”15 Dieser nicht so offensichtliche, sondern eher verzwickte Aspekt des Widerstands ist in Ungarn derzeit aus dem Grund höchst relevant, da Erpressung und Verführung in Zeiten, in denen das Verlangen nach der (Wieder-)Erschaffung eines kapitalistischen (postsozialistischen) bürgerlichen Ungarns der Vergangenheit und Gegenwart zu einer massiven Umverteilung finanzieller und kultureller Ressourcen führt, sich als weitaus effektivere Methode erweisen könnte als die Marginalisierung.

Zwischen offizieller und oppositioneller Kultur

Auffallend ist, dass wir gerade eine Aufwertung der Neoavantgarde der späten 1960er- und 1970er-Jahre erleben, was auf Ähnlichkeiten zwischen dem gesellschaftlichen und künstlerischen Klima der damaligen und der heutigen Zeit schließen lässt. Jedenfalls finden zahlreiche Ausstellungen zu dieser Periode und ihren prägendsten KünstlerInnen statt. Die Ähnlichkeiten liegen im moralischen Dilemma, den künstlerischen Strategien und dem Zwang, sich in einer vollkommen gespaltenen (Kunst-)Szene für eine der beiden Seiten entscheiden zu müssen. Allerdings lässt sich der heroische gegenkulturelle Diskurs während des Kalten Kriegs nur schwer auf heutige Zeiten übertragen. Der Prozess der “Normalisierung” führt dazu, dass immer mehr Menschen, die der systematischen Zentralisierung und rechtsgerichteten Umgestaltung von Gesellschaft und Kulturbereich einst kritisch gegenüberstanden, ihre kritische Haltung vermissen lassen. Nach und nach arrangieren sie sich mit den jüngsten Entwicklungen in Ungarn. Parallel zu diesem Prozess verändert sich auch die Einstellung zum neoavantgardistischen Diskurs. Angesichts der Hinterfragung des Mythos vom starren Gegensatz zwischen offizieller und oppositioneller Kultur in der Zeit des Kalten Kriegs kommen immer mehr Grenzüberschreitungen, Kompromisse und Verhandlungen mit den Behörden ans Tageslicht. Sicherlich sind die Machthabenden von heute zynischer als in sozialistischen Zeiten, und auch die Methoden haben sich geändert und sind ausgefeilter geworden. Zensur ist nicht mehr nötig, wenn finanzielle Unterstützung (oder deren Fehlen) diese Funktion ebenso gut erfüllen kann, je nachdem, ob die jeweiligen AkteurInnen der Szene die richtige Einstellung zeigen. Existenzielle Bedrohung kann ebenfalls als Entschuldigung dafür dienen, um wieder unter den Schirm des staatlich geförderten Kultursystems zu kriechen, das umso weniger kritisiert wird, je weiter der Prozess der Akzeptanz der neuen Gegebenheiten fortschreitet. Die einst so klar gekennzeichneten Grenzen verwischen. Die Angst vor dem Verlust von staatlicher Unterstützung, Aufträgen oder Anzeigen, je nachdem, was für eine Firma, Organisation oder welcher Veranstaltungsort gerade auf dem Spiel steht, fordert ihren Tribut und führt zur Zähmung radikalen, kritischen Denkens oder zum Rückzug aus dem alternativen Veranstaltungsbereich.

Angesichts der allgemeinen Erschöpfung hat auch die Protestbewegung im Vergleich zur Zeit der Aktivitäten von Free Artists16 und United for Contemporary Art17 sowie der regelmäßigen Protestausstellungen vor der Mücsarnok/Kunsthalle18 ihre Vitalität verloren. Das bewegende Werk Fire at the Museum von János Sugár, ein nicht realisiertes Projekt von 2010, das nun aktualisiert und in den öffentlichen Raum verlagert wurde, sollte das Feuer während der 40-tägigen, von Freiwilligen organisierten OFF-Biennale rund um die Uhr am Brennen halten; es war jedoch nicht ganz klar, welche Art von Feuer da geschützt werden sollte, da sich nur wenige Personen, der harte Kern, die radikale und kompromisslos kritische Haltung aus den ersten Tagen der Protestbewegung bewahrt haben.19 Andere wiederum, die einst auf der Treppe des Ludwig-Museums sitzend gegen ein Auswahlverfahren protestierten, das nach politischen und nicht nach professionellen Kriterien ausgerichtet war, und autonome Kunstinstitutionen forderten,20 arbeiten nun zufrieden auf die ein oder andere Weise mit der Institution zusammen. Die Mücsarnok/Kunsthalle versucht ebenfalls angestrengt, Aversionen wegzudiskutieren, die aufkamen, als die MMA mit ihrer Vorliebe für altmodische Kunstpraktiken ohne jeglichen Bezug zur zeitgenössischen Kunst, wie sie bei Ausstellungen im Stil nationaler Salons zum Ausdruck kommt, den Zuschlag als Hauptschauplatz für zeitgenössische Kunst erhielt.

Jetzt, wo die MMA all das hat, was sie sich wünschte, hat sie ihre Strategie allerdings geändert. Was einst als privater Kreis aus FreundInnen mit traditionellen und nationalen Vorstellungen begann, ist mittlerweile zu einer mächtigen öffentlichen Einrichtung mit hohen staatlichen Zuschüssen, Gebäuden, Institutionen und Kontrolle über die Stellenvergabe geworden. Jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein, um sich in der lokalen (Kunst-)Szene professionelle Anerkennung zu verschaffen. Also beginnt man damit, auch KünstlerInnen und Kunstfachleute von außerhalb aufzunehmen, sogar jene, die einst für Kritik und für die Unabhängigkeit der Kunst standen. Geschätzte KünstlerInnen der Neoavantgarde aus sozialistischen Zeiten, deren Ansehen einst auf ihrer Opposition zur offiziellen Kunst beruhte, akzeptieren blind die Mitgliedschaft in der Ungarischen Kunstakademie (und auch das damit einhergehende großzügige Monatssalär). Oder sie tun zum Ausgleich ihrer Vergangenheit als “Abtrünnige” (FeministInnen, Abstrakte, EmigrantInnen) alles – indem sie beispielsweise ihre Arbeiten und Performances beim Nationalen Salon der Mücsarnok/Kunsthalle zeigen –, um akzeptiert und anerkannt zu werden (wie zum Beispiel Orshi Drozdik). Andere hochgeschätzte KünstlerInnen verlassen die Bühne zum Zeichen der Solidarität mit der fortschrittlicheren Kunstszene, nur um diese in Zeiten nachlassender Aufmerksamkeit wieder zu betreten (wie Imre Bukta). Auch die moralische Unzurechnungsfähigkeit lauert im heutigen Ungarn, und es ist nicht länger klar, wer in dieser janusköpfigen Kunstszene der Fremde und wer der Andere ist, während jene, die als Fremde und Andere in die Gesellschaft hineingeboren wurden, dem Hass und der Marginalisierung, die ihnen in den alten Zeiten zuteilwurden, immer noch schwer entkommen können.

Johannes Fabian zufolge ist Anerkennung eine Bedingung, die Kommunikation überhaupt erst möglich macht. Er betrachtet Anerkennung als eine agonistische Beziehung, die die Teilnehmenden in Konfrontation und Kampf verwickelt, zugleich jedoch auch ein erneutes “Abgrenzen” verhindert.21 Fabian zufolge bewirkt gegenseitige Anerkennung auch ein Untergraben von Autorität. Wenn überhaupt, ist gegenseitige Anerkennung, egal ob in der Kunstszene oder in der Gesellschaft, im heutigen Ungarn ein knappes Gut. Wenn die Mücsarnok/Kunsthalle zur “kulturellen Diskussion” aufruft und die internationale Kritikervereinigung AICA einlädt, ihr Treffen in ihrer Salonausstellung abzuhalten und über Fragen zeitgenössischer Malerei und Bildhauerei zu diskutieren, als sei nichts passiert in Ungarn und als gäbe es so etwas wie eine “reine Kunst” jenseits der Politik, dann geht es dabei beileibe nicht um Anerkennung, sondern um den Wunsch, das alleinige Monopol über die finanziellen Ressourcen, kulturellen Institutionen und Positionen zu haben, und darüber hinaus auch noch professionell legitimiert zu sein, also alles zu bekommen. Anthropology with an Attitude bietet einen anderen Weg, um dies zu erreichen, einen, dem vielleicht auch die Kunstszene folgen sollte: “Um bewusst in der Gegenwart des anderen zu sein, müssen wir die Vergangenheit des anderen in irgendeiner Weise teilen … Nur wenn das Ich und der Andere an den Punkt gelangen, an dem sie sich ‘an die Gegenwart erinnern’, treten sie in einen Prozess der gegenseitigen Anerkennung ein.”22

Vgl. Pascal Blanchard/Gilles Boetsch/Nanette Jacomijn Snoep (Hg.), Human Zoos: The Invention of the Savage. Arles 2012.

Vgl. Vasárnapi Újság, Nr. 35, 1896, S. 578.

Eszter Steierhoffer (Hg.), Zoo-topia. London 2012.

Vgl. http://nemma.noblogs.org.

Vgl. Edit András, Vigorous Flagging in the Heart of Europe: The Hungarian Homeland under the Right-Wing Regime, in: e-flux journal, #57, 9/2014; http://www.e-flux.com/journal/vigorous-flagging-in-the-heart-of-europe-the-hungarian-homeland-under-the-right-wing-regime/.

Vgl. William Zimmerman, Soviet Perspectives on International Relations, 1956-1967. Princeton 1969, S. 244.

Vgl. Johannes Fabian, Anthropology with an Attitude: Critical Essays.Stanford 2001, S. 99.

Vgl. András 2014.

Aus einer Rede der Kuratorin Timea Junghaus bei der Ausstellungseröffnung.

Vgl. Fabian 2001, S. 96.

Vgl. András 2014.

Vgl. Fabian 2001, S. 175.

Vgl. ebd., S. 177.

Published 28 July 2015
Original in English
Translated by Anja Schulte
First published by Springerin

Contributed by Springerin © Edit András, Anja Schulte / Springerin / Eurozine

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