Inseln im Netz

Von Nicht-Orten zu rückeroberten Ankerplätzen der Avantgarde

Mit der Verbreitung des Internet bekam die Utopie einen Ort im Cyberspace zugewiesen. Es galt diesen neuen Kontinent zu erkunden, zu vermessen und zu besiedeln. Wer dorthin aufbrach, träumte den Traum von einer besseren Welt. In den immateriellen Weiten würden sich neue Gesellschaftsmodelle testen und neue Lebensformen praktizieren lassen. Kapitalismus, Rassismus sowie alle anderen Übel der materiellen Welt würden überwunden werden. Der neue Kontinent stellte all dies in Aussicht. Und mehr noch: Er war nicht nur die perfekte Gegenwelt, sondern repräsentierte auch die nächste Weltordnung. Vernetzt, dezentral, hierarchielos. Ein neues Menschenbild lag diesem Traum selbstverständlich auch zu Grunde.

Aufbruch in die Neue Welt

Das kybernetische Paradies war der Ort, an dem alle Versprechen in Erfüllung gehen sollten. Die Vorstellungen über diesen sagenhaften Ort waren recht modern. Man schien sich im Klaren darüber zu sein, dass es sich weniger um einen konkreten Ort handeln würde als vielmehr um einen Nicht-Ort. Das Paradies funktionierte in den Netzen immer nur solange, wie es als solches keinen Namen und keine Adresse hatte. Es war ein Zustand, ein Moment, in dem ein Netzwerk ein ideales Gleichgewicht zwischen der On- und Offline-Realität erfuhr. Erstmals brachte Bruce Sterling diese Idee prominent zu Gehör. In einem seiner Cyber-Thriller1 aus den späten achtziger Jahren führt der Zerfall politischer Systeme zu einer Zunahme von dezentralisierten Lebensexperimenten. Riesige Unternehmen in Produzentenhand, unabhängige Enklaven, die sich der “Datenpiraterie” widmen, und anarchistische befreite Zonen generieren eine mannigfaltige Informationsökonomie, in dessen Netz auch Platz für Enklaven ist: deregulierte Zonen, so genannte “Inseln im Netz”.

Einige Jahre später wurde diese maritime Metapher von Hakim Bey aufgegriffen und weitergesponnen. Sterlings Sci-Fi-Szenario war in Teilen Wirklichkeit geworden. Die Inseln im Netz bekamen einen neuen Stellenwert. Ihr subversives Potenzial stand nun im Vordergrund. Denn die Strukturen, die sich im Cyberspace herauszubilden begannen, erinnerten allzu sehr an jene, die zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert im Zuge der Entdeckungen und Eroberungen der Seemächte entstanden waren: Es war ein kapitalistisches System, in dessen Windschatten Hakim Bey Seeräuber und Korsare ein alternatives “Informationsnetzwerk” rund um den Globus spannen sah. Dieses Netz bestand aus “versprengten Inseln, entlegenen Verstecken, wo Schiffe vor Anker gehen und mit Proviant beladen, Raubgut und Beute gegen Luxusgüter und Notwendigkeiten getauscht werden konnten. Einige dieser Inseln unterstützten ?intentionale Gemeinschaften?, ganze Mini-Gesellschaften, die bewusst außerhalb des Gesetzes lebten und entschlossen waren durchzuhalten, und sei es auch nur für eine kurze, aber glückliche Zeit.”2 Gleiches sollten Daten-Dandys in “Temporary Autnomous Zones” erfahren.

Das Ende des Informationszeitalters

Als Douglas Rushkoff 1997 das Ende des Informationszeitalters ausrief, hatte gerade ein neues Kapitel desselben angefangen. Wo Rushkoff Chaos heraufdämmern sah, nahm die Infrastruktur der Global Player zusehends konkretere Konturen an. Doch die Diagnose des New Yorker Cyberkritikers war nicht von der Hand zu weisen: “We are immersed in a popular culture that is already reckoning with the fact that humankind must accept its role as master of its own destiny.”3 Gott war tot. Der Mensch hatte seine Position eingenommen. In diesem soziokulturellen Klima schienen die neuen Medientechnologien, allen voran das Internet, die damit verbundenen Allmachtsfantasien nur zu beflügeln. In den Fingerkuppen des durch das Keyboard an die Arenen der globalen “Eyeball Culture” gekoppelten “Netizens” lag die Macht des Schöpfers. Auf den Bannern in diesen Arenen stand “Selbstermächtigung” in allen Sprachen ? das Schlagwort der WWW-Democracy. Zeichnete Gott für den Bau des Garten Eden verantwortlich, lag es nun in der Hand des Einzelnen, das Cyber-Paradies zu erschaffen. Ein Versprechen, das in erster Linie von korporativ-staatlicher Seite in die Tat umgesetzt werden sollte. Im Internet entstanden Einkaufsinseln. Gleichzeitig wurden Wallfahrtsorte des Massentourismus verkabelt. Das indonesische Bali etwa wurde in ein “High-Tech Paradise” verwandelt: “Here, young Indonesian programmers communicate in the international language of C++ and Java on behalf of corporate clients in Europe and North America.”4

Selbst nach dem Zusammenbruch der New Economy ist der Glaube an das kybernetische Paradies ungebrochen. Dort, wo zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert nach neuen Ressourcen und Besitztümern Ausschau gehalten wurde ? und was heute gemeinhin als Dritte Welt bekannt ist ?, machen Special Economic Zones von sich reden: Als hoch gezüchtete Cyberlabore, die sich gegen die traurigen Verhältnisse der unmittelbaren Außenwelt abschotten; als hoch kontrollierte Knotenpunkte globaler Informationsströme, die der Weltwirtschaft ihre Tore weit geöffnet haben. In dem koreanischen Animationsfilm “Sky Blue” (2004) wird diese bereits aus dem Cyberpunk bekannte Spaltung in Atopia und Dystopia auf die Reduzierung der gesamten Welt auf zwei Städte zugespitzt: Ecoban, ein technologisches Paradies, das sich von der verseuchten Umwelt abgekapselt hat, und Marr, ein Brachland, das von Flüchtlingen bewohnt wird. Nach der Flutkatastrophe vom 26. Dezember 2004 lässt sich diese Metapher auf den Indischen Ozean übertragen. Während das Gros der Region analog zu Marr in Schutt und Asche versinkt, ruht eine einsame Insel unberührt von der “Sintflut” (“Die Zeit”) im Wasser. Ecoban heißt in der Wirklichkeit Mauritius, das bereits seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts als das ultimative “Cyber Paradise” gehandelt wird: “A tiny island in the Indian Ocean [that] is wiring itself to be an Internet hub ? and has jobs for U.S. techies.”5

Renaissance der Utopie

Die Vereinnahmung der Utopie durch die Wirtschaft und ihre subsequente Gettoisierung hat sicherlich viel dazu beigetragen, dass die Vorstellung von der besseren, durch digitale Netzwerke zusammengehaltenen Welt seit der letzten Dekade an Leuchtkraft verloren hat. Sprachlosigkeit und Pessimismus haben sich im Lager der “Digerati” breit gemacht. Gegen diesen Trend haben Rudolf Maresch und Florian Rötzer eine durchaus überraschende Kurskorrektur vorgeschlagen. In ihrem neuen Buch liefern sie dreizehn Entwürfe, denen gemeinsam ist, dass sie das Neue, das etwa Informations-, Bio- und Gentechnologien in Aussicht stellen, erneut in den Mittelpunkt des utopischen Denkens rücken, um die materiellen und immateriellen Ressourcen des Cyberspace zurückzuerobern.

Der Hype, der in den neunziger Jahren wellenartig über die Gesellschaften der Ersten Welt hereinbrach, wird hier allerdings nicht reproduziert. Die Träume von der schönen neuen Welt mit digitalem Goldrand, die durch den Zusammenbruch der New Economy nicht zu Unrecht als neoliberale Schönfärberei in Verruf geraten sind ? diese Träume haben in der Gesellschaft eine Wunschenergie freigesetzt, die als Nährboden für Utopien begriffen werden kann. Im Gegensatz zu den anarchistischen Träumen eines Hakim Bey sollen nun keine weiteren Karten verbreitet werden, auf denen das gesuchte Land Utopia zwar verzeichnet ist, jedoch an einem vagen, letztendlich unerreichbaren Ort. Nein, die Unerreichbarkeit des utopischen Ziels ? seit jeher charakteristisch für die Utopie ? soll in Zweifel gezogen werden. Die Karten, die Maresch und Rötzer zusammengetragen haben, zeichnen Landschaften, in denen die Utopien greifbar und erreichbar sind: die Vernetzung aller auf der Welt vorhandenen Computer zu einem “globalen Gehirn” oder die Entstehung von im Internet angesiedelten Bevölkerungsschichten und Echtzeit-Migrationsbewegungen. Die Entwürfe orientieren sich am Machbaren, an der widersprüchlichen Natur der Gesellschaft. Kurz: an der Realität. Diese Eigenschaft werde der Utopie zu einer neuen Renaissance verhelfen.

Eine Utopie, das war schon immer die Antwort auf die Frage: Was fehlt uns? Die von den süddeutschen Medientheoretikern herausgegebene Kartensammlung dreht den Spieß um und fragt: Was fehlt der Utopie? Die Antwort darauf ist keine Abhandlung über das Mangelwesen der Utopie. Vielmehr die Konsequenz der Diagnose, die da lautet: Utopien brauchen einen Namen, einen Ort und eine Adresse.

Bruce Sterling, Islands in the Net, New York 1988.

Hakim Be, Die Temporäre Autonome Zone, Berlin/Amsterdam 1994. (amerikanische Originalausgabe New York 1991)

Douglas Rushkoff, Children of Chaos, London 1997.

Warren Caragata, "Bali High-Tech Paradise", in: Asia Week, 27. April 2001.

Simon Robinson, "Cyber Paradise", in: Time, 28. Oktober 2002.

Published 9 September 2005
Original in German
First published by Springerin 1/2005

Contributed by Springerin © Krystian Woznicki/Springerin Eurozine

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