In der Eiseskälte eines kostbaren Moments

Was ist es, das die Menschen hier finden, 1856 Meter über dem Meer? Die Nähe des Himmels? Den Schnee, die Kälte, die Stille, die Klarheit der Luft? Oder ist es die Ahnung des eigenen Verschwindens?

Die Halle ist von gedämpftem Stimmendurcheinander erfüllt. Die Hotelgäste kommen vom Skifahren zurück, an der Réception sieht man noch einige verschwitzte, im Sportdress etwas verkleidet wirkende ältere Herrschaften, doch in der Halle ist man bereits frisch geduscht und umgezogen, mit rosa Poloshirts und Cordhosen und blauen Hemden. Kleine Mädchen, die eben noch mit einem Helm auf dem Kopf herumstapften und Skistöcke hinter sich her zogen, schieben nun hölzerne Kinderwagen, mit Spitzen und Bordüren besetzt, in denen Puppen liegen mit Köpfen aus kostbarem Biskuitporzellan.

Vor der Reihe hoher Fenster, die sich als sanfte Apsis in die Natur hineinwölbt, ziehen die kahlen Lärchen und einige schmale Tannen ihre senkrechten Linien zum Himmel, während man Tee trinkt und die Urlaubslektüre auspackt. Die Damen lesen Nadolny oder aus aktuellem Gedenktaganlass Siegfried Lenz. Die Grosseltern spielen mit den Enkeln. Und wo ist der Papa? Telefoniert er mit der Firma? Schiesst er ein letztes Mal für diesen Tag den Hang hinab? Gewiss ist: Zum Abendessen wird er wieder dabei sein. Doch jetzt fehlt er, während Sohnemann blondgelockt am Tischchen steht, das er kaum überragt, und ihm die Mutter ein Glas schwappel hinhält, die ökologische Apfelsaftschorle von Möhl.

Alles ist an seinem Platz. Nur ich bin es nicht. Ich sollte nicht hier sein, nicht im Hotel Waldhaus in Sils Maria, sondern irgendwo in St. Moritz, dem Grund meiner Reise. Zwei Stunden, hatte man mir versichert, gehe man von einem Ort zum anderen, ein Spaziergang die Seen entlang. Doch leider sind die Seen verschwunden. Und mit ihnen das ganze Tal. Und als ich mich zu jenem Gedenkstein aufmache, der die Stelle markiert, an der Nietzsche im Sommer 1881 die Idee mit der Ewigen Wiederkehr hatte, wird mir schnell klar, dass ich die berühmte Notiz in Ecce homo ernster hätte nehmen sollen, die 6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit überschrieben ist. Kaum bin ich durch den Wald einen verschneiten Weg hinab, bei dem ich überlege, ob es sich nicht um die Rodelbahn handelt, die der Hotelprospekt erwähnt, erwischt mich ein gnadenloser Wind, der kalt und scharf über die Hochebene pfeift und sein Tuch dichten Schneegestöbers ausbreitet.

Einzig ein baumbestandener Hügel erhebt sich aus dem Weiss, den ich gern als jene berühmte Halbinsel identifizieren würde, die Nietzsche so sehr mochte, wenn sich nur die Lage des Sees bestimmen liesse. Da und dort ragen Rettungsringe aus dem Schnee. Verlassene Langlaufloipen kreuzen. Bei einer der scheinbar wahllos verteilten Bänke, die sich zu keiner Küstenlinie fügen wollen, bleibe ich entmutigt stehen und ziehe den Kragen meines dünnen Mantels über Ohren und Nase. S’bärebänkli steht eingeschnitzt auf der hölzernen Rückenlehne.

Entenleberterrine mit Vanillemuffin. Danach eine Rindskraftbrühe. Fritiertes Hechtkotelett mit Confit von Biozitronen, kleine Ofenkartoffeln und Blattspinat. Ein Trio vom Isola-Zicklein – gebratener Schlegel und Rücken und kleine hausgemachte Wurst ­, Maisgnocchi mit geschmolzenem Käse, glasierte Karotten und Pastinakenstäbchen. Warum ausgerechnet Pastinaken? Unweigerlich muss ich an Dagobert Duck denken, der in der deutschen Übersetzung von Erika Fuchs einmal, als Inbegriff der Grässlichkeit, Pastinakenpudding vorgesetzt bekommt.

Als Nachtisch eine Timbale von Quarkmousse mit Zitrone und Brombeermousse, Kirscheis, Feingebäck und Pralinen. Was St. Moritz ausmache, frage ich nach dem Abendessen in der Bar den Zürcher Anwalt, der mir erklärt hat, er logiere seit zwanzig Jahren mit Familie im Waldhaus.

“Das fahrplanmässige Schönwetter, die grandiose Alpenkulisse, der berechenbare Schneefall und die Champagnerluft auf eintausendachthundert Metern Höhe.” Doch alles habe sich verändert.
Was er meine?

Früher war man mehr unter sich. “Damals sind die Leute doch nicht einfach ins Palace gelaufen. Das Palace war früher wie ein Bankgebäude, da gab es Schwellenangst.”
Und heute?
Ach, heute. Die knochige Dame mit den Altersflecken auf den sehr dünnen Händen, die ein Portweinglas neben ihrem Gesicht balanciert, winkt ab.
“Grand Hôtels gehören heutzutage Mäzenen!” Als Spielzeug. Fürs Renommée. Das Palace den Amerikanern, den Arabern das Carlton, das Kulm der Reederfamilie Niarchos.
“Ist einer von denen nicht mit Paris Hilton befreundet?”
Die alte Dame schliesst leicht angewidert die Augen. “War”, sagt sie, “war!”
“Und die Gäste?”
Die Leute von früher seien alle noch da. “Aber man entzieht sich der Demokratisierung des Luxus, verstehen Sie.” Sie sieht mich eindringlich an und nimmt einen winzigen Schluck Port. “Der Jet Set der sechziger Jahre, der sich mit dem Boulevard verbündet hatte, ist schuld daran, dass der wirkliche Reichtum sich heute unsichtbar macht.”
Wie das gehe, will ich wissen.
“Sie sind alle nicht mehr in den Hotels”, erklärt sie.
“Und wo denn?”
In ihren Villen. Am Suvretta-Hang. “Ich sehe hundert Milliarden Dollar, wenn ich diesen Berg hochschaue.”
“Hundert?” mischt sich der Anwalt ein. Zweireiher mit goldenen Knöpfen. Einstecktuch mit goldenen Muscheln darauf. “Da ist der Topf ja schon voll, wenn Bill Gates landet.”

Die Fenster meines Zimmers öffnen sich ins Tal in Richtung St. Moritz, doch man sieht nichts, nicht die berühmten Gipfel, nicht Seen und Land. Das Licht der Bergstation quillt aus Schnee und Nebel hervor, der Talboden eine weisse, wabernde Fläche. Nietzsche schreibt an seine Mutter: Ich sehe nach dem Thermometer im Zimmer: 8 Grad Réaumur. Dabei schneidende Winde, und das unbeständigste Wetter, welches auch den Engadinern unangenehm und nachtheilig ist. Ich liege im Bett und denke: Was für ein schönes Wort – nachtheilig. Es dauert lange, bis ich das th von Teil begreife. Um zu wissen, was die Temperaturangabe bedeutet, muss ich nur das Büchlein zur Seite legen, aus dem Bett schlüpfen und das Thermometer neben dem Fenster betrachten, das wie vor hundert Jahren beide Skalen aufweist, Celsius und Réaumur. Nietzsche hatte es gut, denke ich, und schlafe ein.

Am nächsten Morgen schneit es noch immer. Das Licht ist diffus. Ich lasse mir das Frühstück ans Bett bringen und lege Nietzsche beiseite. Stattdessen beginne ich einen Roman aus der Hotelbibliothek mit dem vielversprechenden Titel Sonne von St. Moritz, ein schöner Ullsteinband mit Jugendstilschmuck von 1910. Morgens, gleich nach zehn Uhr, lese ich, blitzte drüben links neben dem gewaltigen Schneekegel jenseits vom See ein Lichtpunkt auf, gleich darauf stand das Tal zwischen Silvaplana und Campfér im strahlenden Sonnenlicht, die breite goldene Flut rollte näher und näher, erfasste den Rundbau des neuen Segantini-Museums und die ersten Villen des Dorfes, übergoss die im Schnee schlafende Sommerstadt, das Bad, erreichte die majestätischen Winterhotelkästen, das Palace Hotel, oben den Kulm – und endlich auch die hellgelbe Fassade des siebenstöckigen Grand Hotel.

Die Sonne drang Zug um Zug in alle vierhundert Fenster und weckte die letzten Langschläfer. Tiefblau der Himmel, bläulich weiss die zackigen Alpenhäupter, nirgends ein Wölkchen, die Nachtkälte löste sich über dem Talgrund in weissliche Dunstschleier, die weite, weisse Schneelandschaft, in der nur die freigeschaufelte Rennbahn unten auf der gleichmässig verschneiten ebenen Fläche die Umrisse des darunter liegenden dick vereisten Sees verriet, war in Sonnenlicht gebadet. Klingelnde Gespanne entführten ganze Züge von Rodlern und Rodlerinnen, die auf ihren kleinen Schlitten hockend sich unter Lachen und Kreischen die grossen Serpentinenwege nach Belvoir ziehen liessen. Die Eisbahnen hinter den Hotels, die im Sommer als Tennisplätze dienten, füllten sich mit Kunstläufern und fleissig übenden Laien jeden Alters. Auf den Strassen nach Campfér, nach dem Bad und der Ober-Alpina tauchten Skiläufer auf.

Anders als im Roman von Paul Oskar Höcker ist jetzt Anfang April und keine Saison
in St. Moritz. Ende März schliesst alles und sofort beginnt der Umbau. Drei Monate hat man Zeit bis zum Beginn der Sommersaison. Im Suvretta House, hört man, sollen zwanzig Millionen Franken verbaut werden. Das Kulm Hotel feiert einhundertfünfzigjähriges Bestehen. In den letzten fünfzehn Jahren hat man weit über einhundert Millionen Franken investiert.

Der Niederschlag kann sich nicht zwischen Schnee und Regen entscheiden, und der Himmel denkt gar nicht daran, aufzuklaren. Die grossen Hotels ankern als stumme, blinde Kästen im schwindenden Winter. Neben dem Turm des Palace wird gerade ein Kran montiert. Alle Strassen sind von den Vans der Kaminbauer und Schwimmbadtechniker zugeparkt, die Schaufenster der Via Serlas, in der Saison der Laufsteg des Ortes, leergeräumt und die Bilder der Galerien längst zurück in Zürich. Nur die Apotheken sehen jetzt noch aus wie Juweliere. Kleine grüne Kästen mit der Bezeichnung Robidog. Und auch wenn St. Moritz so schmutzfrei ist wie Singapur, ist doch in den Strassenschluchten dieses Dorfes, wie die “Weltwoche” einmal voll Abscheu schrieb, der “Modergeruch von Tunnels zu schnuppern”.

Dennoch stapfe ich zum Hotel Kulm hinauf und zu den Resten der Eisbahn nach Celerina hinab, warte vergeblich auf Blondinen im Pelzmantel an der Pralinentheke bei Hanselmann und schlittere über pappigen Schnee zur verhängten Drehtür des Palace. Ich suche die Chesa Futura des Sir Norman Foster, das Segantini- und das Berry-Museum, steige zum Suvretta House hinauf und gehe nach St. Moritz Bad hinunter, wo ich die Ausverkaufsauslagen der Geschäfte mustere. Die Säulen in St. Borromäus sind aus Scheiben und Trommeln kostengünstig zusammensetzt wie ein Anker-Baukasten. Hotelarchitektur, die eine frühchristliche Basilika camoufliert. Ich stehe im Windfang einer Bushaltestelle und sehe den Hang hinauf, über den der Schneeregen hinweggeht. Nichts von dem, wie das Dorf einmal war, ist noch zu erkennen. Das Licht ist stumpf und der Himmel steht tief über dem Tal.

Während der Rückfahrt im Bus geben mir die Touristen in Overall und Helm das Gefühl, als seien wir alle Astronauten und in einem Shuttle zur Startrampe unterwegs. Die Scheiben ringsum so mit dynamisch stürzenden, hüpfenden, springenden, jubelnden Figuren beklebt, dass man kaum einen Blick nach draussen erhascht. Mühsam schaufeln die Scheibenwischer den schweren, nassen Schnee zur Seite. Um die Füsse der Astronauten bilden sich Pfützen auf dem schwarzen Noppenboden. Nächste Haltestelle Champfèr Guardalej. Tschamfair Ladaläi. Tscham Fair La Daläi. Tschamfairladaläi. Die Ansage eine Beschwörungsformel von solch sanfter Weichheit, dass selbst die Automatenstimme sie nicht zu zerstören vermag. Wohin geht der Flug?

Der Barmann stellt zwei langstielige Schnapsgläser auf die Theke.
“Wie siehts’s aus? Geht man noch ins Palace?” frage ich ihn. “Sie müssen sich doch auskennen!”
“Doch, natürlich”, sagt er leise. Immer. Das Publikum habe sich in den letzten vier, fünf Jahren allerdings sehr verändert.

Inwiefern? Die Russen! “Ach ja?”
Er nickt ernst. “Zuerst”, sagt er, “kam die Halbwelt. Jetzt kommt eine breite Schicht neuen Geldes aus Russland. Sehr gute Gäste.”
“Was heisst das?”
“Sie geben mehr aus. Und darum geht es ja bei Touristen.”

“Es geht hier nur ums Geld.” Der schwäbische Architekt, den ich an einem der Vorabende kennen gelernt habe, beugt sich vor, während er seine Zigarre über meinen Kopf hält. “Fragen Sie nach der Villa Böhler! Sie müssen nach der Villa Böhler fragen, wenn Sie verstehen wollen, wie geldgierig und korrupt das Engadin ist.”
Sein Atem, der mir gegen das Gesicht schlägt, riecht sehr stark nach Obstschnaps. Sehr gutem Obstschnaps. Er hebt eines der beiden Gläser und prostet mir zu.
“Was meinen Sie denn?” frage ich abwehrend.
Er glotzt so spöttisch und gleichgültig, wie es nur Betrunkene können.
“Die Villa Böhler kennen Sie?” Er wartet meine Antwort nicht ab. “Eine Inkunabel der Moderne! 1917 von Heinrich Tessenow gebaut. Ganz reduziert, ganz einfach.” Er biegt den mächtigen Schädel zurück und bläht seine Wangen mit dem Rauch der Zigarre auf. “Einfach wunderbar!”
“Und?”
“Und? Das Haus hatte das Pech, neben dem Neubau von Freddy Heineken zu stehen zu kommen, dem holländischen Bierbrauer, der sie kaufte und abreissen wollte.”
“Und weiter?” frage ich noch einmal.

“Denkmalschutz, Verhandlungen, Hin & Her, aber Heineken lässt nicht locker. Schliesslich kommt es zu einer Volksabstimmung.”
“Und?”
“Und? Die St. Moritzer entscheiden, dass das Gebäude keinen denkmalschutzmässigen Wert darstelle.”
“Nein!”
“Doch. Noch in derselben Nacht rücken die Bagger an.”
Ich nicke und leere das andere der beiden Gläschen mit der ballonförmigen Ausstülpung über dem langstieligen Fuss, während der Architekt mit seiner Zigarre schon den Barmann herbeiwinkt.

Wo ich hier sitze, ist es 1892 Meter über dem Meeresspiegel, und das äussert sich so, dass man vollständig berauscht ist von der Luft und aller Erdenschwere ledig. Wie wennste schwebst. Es ist in der Art, mecht ma sprecha, das Antipodium von Kampen, aber in der Qualität genau dasselbe. Das einzige, was man mir nach Kampen überhaupt offerieren konnte. Siegfried Jacobsohn, Herausgeber der “Weltbühne”, an seinen Autor Kurt Tucholsky. Der freundliche Kellner füllt die Etagère auf dem kleinen Tischchen vor meinem Sessel mit Gebäck.

Adorno und Benjamin, Benn und Celan, Frisch und Hesse, Thomas Mann, Proust und Bloch – die Liste der Autoren, die über das Engadin geschrieben haben, ist lang. Doch je mehr ich über St. Moritz lese und mich dabei dem Rhythmus des Hotels überlasse mit seinem immer gleichen Tagesablauf und dem Wechsel zwischen Zimmer und Speisesaal und Leseraum und Halle, umso mehr verliere ich St. Moritz aus dem Blick. Es wird, vom Waldhaus aus betrachtet, zu einem gänzlich ungreifbaren, künstlichen Phantasma. Und nichts, was ich dort auf meinem Spaziergang gesehen habe, macht es realer.

Ich lese von Nijinskis letztem Tanz im Speisesaal des Suvretta House im Winter 1918. Der Krieg war gerade zu Ende. Nijinski habe zunächst einfach nur dagesessen und sein Publikum angesehen, bis man unruhig zu werden begann. Das kleine Pferd ist müde, habe er dann gesagt. Und getanzt. Am nächsten Tag diagnostizierte Professor Bleuler in Zürich unheilbare Schizophrenie. Ich lese ein Gedicht von Karl Kraus über eine Fahrt ins Fextal und einen oft zitierten Brief Rilkes, in dem er schreibt, es komme ihm so vor, als hätte die Bewunderung unserer Gross- und Urgrosseltern […] an diesen Gegenden mitgearbeitet. Hier gäbe es alles – und zwar in Pracht-Ausgaben.

Manches aber von dem, was es gibt, wird nur selten in den Prachtausgaben zitiert. Stefan Zweigs Text von 1916 etwa, der den Titel “Bei den Sorglosen” trägt und in dem er angewidert die Vergnügungen der Hotelgäste während des Weltkrieges schildert. Man horcht zwischendurch auf die Worte. Französisch, deutsch, italienisch, englisch – sie haben keine Heimat, die Sorglosen, sie sind von überall her. Und sie haben keine Väter, keine Brüder, keine Gatten, die sterben – man sieht es an ihren leichten Lippen. Aus welcher Warte soll man diesen Ort betrachten? Ich lese bei Benjamin: Manchmal frage ich mich, wenn ich so die Berge sehe, wozu überhaupt noch die ganze Kultur da ist. Ich lese jenen Brief Georg Kaisers aus dem Zweiten Weltkrieg, der den Kurgast Jesus imaginiert. Es ist erschütternd, wie Jesus, der mit den durchnagelten Schuhen nicht gehen kann, im Rollstuhl in die Hotelhalle gefahren wird. Seine Hände stecken in weissen Handschuhen.

“Die Gefahr besteht, dass man sich solche historischen Hotels wie das unsere nur mehr zu besonderen Anlässen einkauft.” Urs Kienberger, Direktor des Waldhauses in der dritten Generation, lächelt verhalten.

Der Grossvater Oskar hat das Hotel bald nach der Gründung 1908 übernommen und bis in die fünfziger Jahre geführt. Unter ihm gab es 1924 die erste Wintersaison. Sohn Rolf baute 1970 das Schwimmbad, beliess es aber ansonsten bei vorsichtigen Renovierungen. So profitiert man heute von der Begeisterung des Publikums für eines der wenigen weitgehend original erhaltenen Fünfsternehäuser aus der grossen Zeit der Grand Hôtels. Urs Kienberger spricht leise, wenn er davon erzählt, wie er und seine Geschwister im Hotel als Kinder spielten. Und welche Etikette für sie galt. Niemals durch den Haupteingang. Sich nicht bedienen lassen. Er erzählt, in welcher Ecke der Schaukelstuhl stand, in dem er sich lesend vor den Gästen verbarg.

Und in seinem Gesicht bleibt das Lächeln stehen, während er sich mit seinen hellen Augen in der Halle umsieht. “Zu Hochzeiten und ähnlichen Gelegenheiten sucht man sich dann einen solchen Rahmen, um damit etwas Repräsentatives zurückzuholen für kurze Zeit, eine verlorene Bürgerlichkeit. Aber wir wollen, dass man hier man selbst ist. Ein Gefühl von zu Hause hat.”

Aber warum sollte man zu Hause Ferien machen wollen? In die Ferien fährt man doch, um dem normalen Leben zu entkommen. Oder stimmt das etwa gar nicht? Fährt man in die Ferien, um bei sich anzukommen? Sozusagen in einem Zuhause zweiter Ordnung? Und macht vielleicht gerade das jenes Faszinosum Nietzsche in Sils aus, das nicht verschwinden will – die Anwesenheit von einem, für den es körperliche und geistige Notwendigkeit war, hier zu sein. Es atmet diese Landschaft, wie Adorno schreibt, keine mittlere Humanität aus. Das verleiht ihr das Pathos der Distanz Nietzsches, der dort sich versteckte. Noch jeder Sommerfrischler liebäugelt mit dem Gang über die Baumgrenze, und selbst das Waldhaus probt ein bisschen die konservative Revolution.

Ich versinke in der Sessellandschaft der Hotelhalle, als wäre ihr plüschiges Rosa und Eisblau der Wasserspiegel eines warmen Bades, in dem die Gäste bis zu den Schultern sitzen, im gedämpften Gespräch oder einfach nur darüber nachsinnend, wie die Zeit vergeht. Da ist die Mittvierzigerin wieder, die immer Stiefel trägt. Man hört ihren harten Schritt, noch bevor man sie sieht. Immer ist sie schulterfrei unter wechselnden Jacken und schon kenne ich die Geste, mit der sie irgendwann ihr Jäckchen abwirft und ihre Schultern entblösst wie ein Matador, der seine ganze Körperspannung in die Waagschale des Todes wirft. In guten Momenten will man ihr glauben. Registriert ihren ernsten Blick und die tiefen Falten um den Mund. Die schmerzhaft gebräunte Haut. Die Haut ihrer Armkugeln ist weich und älter als die ihres Gesichts.

Oder der Mann dort mit der Jungenfrisur. Er ist um die fünfzig. Halsnaher dunkelblauer Pullunder, der nur gerade den ebenso dunkelblauen Krawattenknoten freigibt. Einer dieser breithüftigen Männer. Der Mund ein kleiner eingesunkener Krater. Neben ihm seine Frau. Schwarzes, sehr dichtes Haar, das sie mit einem schwarzsamtenen Haarband nach hinten trägt. Eine breite Perlenkette, ebenso halsnah wie sein Pullover. Sie reisen mit seiner Mutter, die immerzu spricht, während ihr Sohn und seine Frau sich nicht ein einziges Mal ansehen. Hier, in der Hotelhalle, fand die Gesellschaft der Belle Époque ihren utopischen Ort. Hier konnte sie sich Egalität leisten, weil die Exklusionsstrategien des Grand Hôtels im Fluchtpunkt des Oberengadins so perfekt funktionierten.

Immer wieder habe ich über die berühmte Sommersaison 1911 gelesen. Neunundzwanzig Grad über Wochen hinweg. Die Fremdenlisten, die damals alle Hotels stolz veröffentlichen, verzeichnen einen Querschnitt der besseren europäischen Gesellschaft. Man beschliesst, aus Sicherheitsgründen einen Geheimpolizisten anzustellen. Dann der Kriegsausbruch 1914. Die Gäste reisten überstürzt ab. Das Fremdenblatt schreibt: Wir müssen Abschied nehmen für diese Saison, frühen, wehmutsvollen Abschied, das Herz voll Sorge und Kummer, aber auch voll Unmut und Scham über den Zusammenbruch der vielgerühmten Zivilisation des alten Europa.

Woher aber kommt die Beharrlichkeit, mit der St. Moritz seitdem nicht aus der Mode kommen will? Das “St. Moritz Presse-Bulletin” des Tourist Board berichtet, die Zahl der Direktflüge von Privatjets zwischen Moskau und St. Moritz hätten in der letzten Wintersaison um fünfundsechzig Prozent zugenommen. Laut Flughafen Samedan erreicht die Ausfuhr der in St. Moritz gekauften Luxusgüter erkleckliche Ausmasse. Capri und St. Moritz planen eine strategische Allianz, denn seit mehr als einem Jahrhundert hätten beide Ferienziele eine ähnliche Gästeschaft. In der chinesischen Boomprovinz Shenzhen entsteht gerade die “St. Moritz City”. Was ist es, was die Menschen hier finden? Die Nähe des Himmels? Den Schnee, die Kälte, die Stille, die Klarheit der Luft? 1856 Meter über dem Meer? Oder ist es die Ahnung des eigenen Verschwindens?

Das Unberührte jenseits der Baumgrenze, schreibt Adorno, steht konträr zur Vorstellung von Natur als einem tröstlich, wärmend den Menschen Zubestimmten; es verrät schon, wie es im Kosmos aussieht. Ich liebe dieses schon. Es reisst uns in die Weltallkälte hinaus. Das, was uns blüht, ist in diesem schon avisiert, und uns blüht nicht die Alpenwiese. Denn die gängige Imago von Natur ist begrenzt, bürgerlich, eng, geeicht auf die winzige Zone, in der geschichtlich vertrautes Leben gedeiht. – Eine andere Natur, liesse sich einwenden, wäre uns eben nicht Natur, sondern etwas gänzlich anderes. Doch es ist klar, was Adorno vor Augen steht, und er setzt nach: – Der Feldweg ist Kulturphilosophie.

Dessen Gemütlichkeit aber wirkt hier im Engadin tatsächlich unglaubwürdig. Womit ja möglicherweise zusammenhängt, dass St. Moritz eigentlich nicht schön ist. Und es nie war. Ich sitze im Café Hauser und trinke einen Männer-Tee. Früher, habe ich gelesen, paradierte hier die gute Gesellschaft des Ortes. Heute gibt es Männer-Tee und Frauen-Tee. Männer-Tee enthält Sarsaparillawurzel, Karob, Ingwer, Zimt, Gerstenmalz, Daminablätter, Tragantsüssholz, Stevia, Fenchel und Pfeffer. Frauentee enthält Zimt, Ingwer, Orangenschale, Fenchel, Löwenzahn, Nelken, Süssholz, Pfeffer, Kardamom.

Die geistige Agonie über Jahrzehnte, in die St. Moritz als Lebensform mit dem Ende der Idee des Grand Hôtels fiel, war erst vorüber, als der Schah von Persien, selbst eine der Ikonen des sogenannten Jet Set, sich entschloss, aus dem Grand Hôtel auszuziehen. Erst mit den Villen am Suvretta-Hang oberhalb fand St. Moritz wieder eine neue gesellschaftlich durchgebildete Struktur, in der sich heute architektonisch ebenso eindeutig ein Gesellschaftsentwurf verkörpert wie seinerzeit im Grand Hôtel. Doch die Via Brattas oder die Via Dim Ley an jenem Hang, der längst durchlöchert ist mit Atombunkern, Schwimmbädern, Squashhallen, Privatkinos und Garagen, sind keine Strassen für Flaneure. Diese neue Wirklichkeit von St. Moritz öffnet sich nur für Fitnesstrainer, Nannies und die Lieferanten der lokalen Feinkostler Glattfelder oder Geronimi.

Wie gierig sich die Begeisterung an der Landschaft des Oberengadins und seiner Preziose St. Moritz berauscht, lässt einen nur so lange misstrauisch werden, bis man versteht, dass sie sich an einer sehr besonderen Dialektik von Natur und Menschenwerk entzündet. Die fieberhafte Emphase verdankt sich zum einen der Eigentümlichkeit einer Kunstlandschaft, die ganz Natur zu sein vorgibt und doch zugleich eine der ältesten touristischen Naturinszenierungen in den Alpen ist. Und zum andern hat sie wohl damit zu tun, dass der Besucher hier nicht nur einer menschenfeindlichen, doch zugleich menschengemachten Natur gegenübersteht, sondern zugleich dem menschenfeindlichsten Attribut des Sozialen: dem Reichtum. Das Grand Hôtel ist selbst der ferne Gletscher, auf dem man in einem Tagtraum glücklich vergeht.

In jener Auflage des Baedekers Schweiz nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol, die Friedrich Nietzsche bei seinen Aufenthalten im Engadin mit sich führte, heisst es über das Engadiner-Kulm, es sei ein ausgedehnter Gebäudecomplex am obern Ende des Dorfs, mit schöner Aussicht und allem Comfort, im Winter Centralheizung, gut geführt, aber nicht billig, viel Engl. u. Amerik., P. von 10 1/2 fr. an, Z. im Winter 1-7, im Sommer 3-10 fr. Der Wirth besitzt u.a. eine alte ital. Copie nach Raffael’s Sixtinischer Madonna, die er Wochentags 2-3 Uhr zeigt. Doch derlei Zerstreuungen sind nur die eine Wirklichkeit des Ortes. Die andere, dunkle Seite dieser Landschaft, deren Witterung Adorno sofort aufnahm, hat zwar auch mit dem Grand Hôtel zu tun, aber nicht mit seinem Luxus.
Das obere flugihaus, wie das Stammhaus der alteingesessenen Familie v. Flugi einst hiess, war schon Quartier der Kurgäste, als es noch keine anderen Unterkünfte in St. Moritz gab. Später firmierte es als Pension Faller, bevor Johannes Badrutt es kaufte und in Hotel Kulm umbenannte, weil es sich an der Kulmination – dem höchsten Punkt – des alten San Murezzan befand. Und letztlich macht nur das seinen Ruhm aus. Denn von dort stürzten sich erstmals 1885 Engländer in ihren Schlitten bäuchlings bergab. Besessen von nichts als der Idee der Beschleunigung.

Ich erinnere mich gelesen zu haben, dass das tourist board der Gemeinde St. Moritz aus dem st. moritzer curverein hervorgegangen ist, der wiederum seinen Vorgänger in einer 1864 gegründeten Kommission zur Verschönerung und Vergrösserung des Friedhofs hatte. Die Gespenster des Jet Set gehen mir nicht aus dem Kopf. Auf der Homepage des St. Moritz Bobsleigh Club ein Bild des greisen Gunter Sachs, der bei der Einweihung einer nach ihm benannten Kurve der Bahn als pale ryder im bodenlangen weissen Pelzmantel in den Bob steigt. Bobbahn und Cresta sind älter als die Eisenbahn, deren Viadukt über sie hinwegführt. Ich erinnere mich an ein Bild des Captain Henry Pendell, hochdekorierter Veteran des Burenkrieges, der 1907 verblutete, als es ihn beim Cresta Run aus der Bahn trug.
Der Jet Set ist dieser Region insofern eingeschrieben, als Geschwindigkeit das natürliche Mass einer Landschaft der Leere ist. Und damit der Tod. Mir scheint, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der englische Sportler das Phantasma, das St. Moritz bestimmt, und der Wiedergänger, der es belebt.

Indem die ersten angelsächsischen Touristen in den Alpen aus Langweile den Wintersport erfanden, erfanden sie eine tatsächlich vollständige neue Figur im europäischen Naturraum. Anders als der Bergführer, der Wildschütz, der Jäger opfert sich der Sportler, der auf dem Schlitten das Abenteuer der Geschwindigkeit sucht, nicht für andere, sondern agiert für sich allein. Das einzige, was er sucht und was von ihm bleiben wird, ist der Rekord. Er ist bei aller aristokratischen Attitüde immer Demokrat. Oder Autist, wenn man so will. Junggeselle im emphatischen Sinn. Denn das, was er aufs Spiel setzt, ist – in jener Gesellschaft zumal, aus der sich die Klientel dieses Ortes rekrutiert – die Genealogie. Er ist der Heros, der auf Fortpflanzung verzichtet. Den Sexappeal, der darin liegt, erkannte und reaktivierte noch der Jet Set der sechziger Jahre, der ja nicht umsonst eine Bewegung von Söhnen war.

Und während ich beobachte, wie die vom Skifahren heimkehrenden Jugendlichen im Waldhaus von ihren Eltern erwartet und empfangen werden, scheint es mir plötzlich tatsächlich vorstellbar, einer Art von Probe beizuwohnen. Einer Initiation, die der eigentliche Grund sein könnte, warum man immer wieder hierherkommt, an die Baumgrenze, seit über hundert Jahren. Wegen der Erfahrung, für Momente an der Freiheit des Helden zu partizipieren, dessen Phantasma diesen Ort so sehr erfüllt. Das, denke ich, könnte es sein, was die Väter ihren Söhnen hier zeigen. In die Eiseskälte eines kostbaren Moments von Freiheit pilgern sie zurück wie die Lachse zum Ort ihrer Zeugung.

Auch in dieser Nacht schneit es. Und wie vor jeder Abreise schlafe ich schlecht. Stehe lange am Fenster und sehe den flackernden Lichtern zu, die schütter durch den fallenden Schnee dringen von weit oben herab, wo die Raupenfahrzeuge nächtliche Hänge für den nächsten Tag präparieren. Selbst noch die Künstler, denke ich und starre in die Nacht, sehnen sich nach der Gefahr. Die Engadiner Maler wie Segantini oder Berry etwa, der sich im Herbst die Leinwand auf den Julierpass schaffen und dort fest verankern liess, um dann im Winter zu malen und im Hospiz zu leben. Indem er sich festband im Schneesturm, bildete er den Kontrapunkt zum rasenden Skiläufer und hoffte etwas zu erfahren, das dem Sportler im wahrsten Sinne immer wieder entgleitet.

Felix Dietrich, der Schwager Urs Kienbergers und zweiter Hotelier des Waldhauses, schüttelt mir am nächsten Morgen die Hand und wünscht eine gute Fahrt. Für einen kurzen Moment hat es aufgehört zu schneien. Unwirkliches Licht über dem Silsersee. Die Bergspitzen in weissem Dunst. Gern hätte ich die römischen Säulen am Julierpass gesehen. Doch für dieses Mal geht es hinaus aus dem Schneeregen und dem Nebeltal, schon stürzt sich der Postbus ins Bergell hinab, kopfüber in den Frühling, und sofort reisst der Himmel auf.

In Soglio, im Palazzo Salis, ein Mittagessen im tiefen, leeren Saal. Bei der schlecht gelaunten Bedienung, schwarzhaarig, dünn und mürrisch, spüre ich zum ersten Mal, was ich oft noch empfinden werde: Wie sehr mir das Waldhaus fehlt. Ein Blick noch in den kleinen winterlichen Barockgarten, in dem Rilke einen Sommer verbrachte, dann zu Fuss den Weg durch die Kastanienwälder hinab nach Castasegna, unzählige Steinstufen durch den dichten Wald, moosbewachsen und feuchtdunkel. Die weissen Berge bilden den hohen Horizont hinter den grünen Wäldern des Tals. Alte Frauen grüssen lächelnd. In ihren Vorgärten die hellrosa Spitzen hüfthoher Magnolienbüsche. Es riecht nach verbranntem Holz. In den mauergegürteten kleinen Gärten Palmen. Katzen auf den sonnigen Steinen und zierliche Balkone über dem Pflaster der Strasse in Reichweite der Arme, wenn man sich streckt.

The English translation of this article is available at Signandsight.com.

Published 29 July 2006
Original in German
First published by du 6-7/2006

Contributed by du © Thomas Hettche/du Eurozine

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