Warum arme Länder arm sind

Man nennt Duala die “Achselhöhle Afrikas”. Treffender könnte die Beschreibung gar nicht ausfallen, liegt es doch exakt unter der überhängenden “Schulter” Westafrikas. Die Stadt Duala wird von Malaria geplagt, ist feucht, hässlich und stinkt zum Himmel. Doch für einen Kameruner ist Duala der Ort, an dem die Post abgeht. Kamerun ist wirklich ein sehr armes Land. Der Durchschnittsbürger von Kamerun ist acht Mal ärmer als der durchschnittliche Weltenbürger und beinahe fünfzig Mal ärmer als der typische Amerikaner. Im Jahr 2001 fuhr ich nach Duala, weil ich herausfinden wollte, wieso das so ist.

Ich weiß nicht, wer als Erster die Metapher von der “Achselhöhle” geprägt hat, doch es würde mich nicht überraschen, wenn es das Tourismusministerium Kameruns gewesen wäre. Wir wissen, dass das Verteidigungsministerium gewöhnlich für die Abwehr von Feinden zuständig ist, während der Arbeitsminister über ein meist viel zu großes Heer an Arbeitslosen herrscht. Kameruns Tourismusministerium hat die Kompetenzen beider Ressorts aufs Treffendste vereint und versteht es glänzend, Touristen massenweise abzuschrecken.

Ein Kollege hatte mich bereits gewarnt. Die Botschaft von Kamerun in London würde sich als so uneinnehmbar erweisen, dass ich bestimmt nach Paris fahren müsse, um ein Touristenvisum zu bekommen. Am Ende hatte ich nicht ganz so viel Ärger, weil mein Verbündeter für mich in Kamerun selbst die Fäden zog. Ein Freund dort zahlte die Hälfte seines Tageslohns, um mir eine offizielle Einladung zu beschaffen. Mit dieser Einladung bewaffnet gelang es mir, ein Visum zu ergattern. Ich musste lediglich drei Mal bei der Botschaft vorsprechen und ein bisschen abgemildertes Stiefellecken betreiben – dazu weitere fünf Kameruner Tageslöhne als Gebühr. Merkwürdigerweise trafen meine Freunde und ich während unseres dreiwöchigen Aufenthalts in Kamerun nur wenige Touristen an.

Doch darf sich das Tourismusministerium keineswegs allein. zu diesem Triumph gratulieren. Touristen zu vergraulen ist nämlich ein echter Nationalsport. Laut Transparency International, die Organisation, die sich der Bekämpfung der weltweiten Korruption zum Ziel gesetzt hat, gehört Kamerun zu den korruptesten Ländern der Welt. 1999 war das Land gar Weltmeister in Sachen Korruption. 2001, im Jahr meines Besuches, war es auf Platz fünf zurückgefallen, was die Regierung als großen Erfolg feierte. Doch wenn wir einen Moment innehalten, sollte uns klar werden, dass es einer erheblichen Anstrengung bedarf, den Titel des korruptesten Landes der Welt zu erringen. Transparency International erstellt seinen berühmten Korruptionsindex nach der international wahrgenommenen Korruption in einem Land. Befragt werden dabei in erster Linie Beobachter und Geschäftsleute. Eine sehr erfolgversprechende Strategie in diesem Wettkampf ist es, international agierenden Geschäftsleute Schmiergelder abzupressen – zum Beispiel am Flughafen. Doch den Behörden von Kamerun mangelt es sogar hier an Operationsdichte, denn Korruption ist in diesem Land auf jeder Ebene der Gesellschaft ein massives Problem und beschränkt sich keineswegs auf die Beziehungen zu international agierenden Geschäftsleuten. Vielleicht ist es dieser Mangel an Konzentration auf die wirklich wichtigen Aufgaben, der zum Verlust des Korruptions- Weltmeistertitels führte.

Das soll nun nicht heißen, dass am Flughafen von Duala alles so funktioniert, wie es sollte. Weit gefehlt: Der Flughafen ist ein heilloses Chaos, in dem Sie sich Ihren Weg durch die dicht gedrängte Menge erkämpfen müssen, obwohl dort täglich nur drei bis vier Flüge abgefertigt werden. Glücklicherweise erwartete uns am heißen Abend unserer Ankunft mein Freund Andrew mit seinem Chauffeur Sam, der uns sicher in Windeseile ins kühlere Buea gebracht hätte, wenn man in Duala auch nur irgendetwas in Windeseile tun könnte. Tatsache ist: Das geht überhaupt nicht. Denn in Duala, einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, gibt es keine Straßen. Zumindest keine, die diesen Namen verdienten.

Eine typische Straße in Duala ist etwa fünfundvierzig Meter breit – von Bretterbude zu Bretterbude. Nun darf man sich nicht etwa vorstellen, dass dort mehrspurige, von Bäumen gesäumte Alleen großzügig den Verkehr aufnehmen. Die Straßen sind voller Straßenverkäufer, die zusammengesunken neben einem Häufchen Erdnüsse sitzen. Zwischendrin improvisierte Kochbananen-Barbecues und Menschengrüppchen, die sich plaudernd um ein Motorrad versammelt haben. Sie trinken Bier oder Palmwein und bereiten sich über einem Feuerchen ihre Mahlzeiten zu. Gewaltige Schutthaufen und enorme Löcher zeigen das Scheitern eines der zahlreichen Bau- oder Abbruchvorhaben an. In der Mitte der Trasse erahnt man die Mäander einer echten Schlaglochpiste, die vor zwanzig Jahren noch eine Straße war. Auf ihr schlängeln sich vierspurig die Autos aneinander vorbei, meist Taxis. Die beiden Außenspuren sind mit stehenden oder langsam rollenden Fahrzeugen gefüllt, die Fahrgäste aufnehmen oder abladen. Die Taxis auf den Mittelstreifen schussern geschickt um die Schlaglöcher und die anderen Autos herum wie Bälle in einem überdimensionalen Flipperspiel. Die Vokabel “Straßenverkehrsordnung” ist hier unbekannt. Manchmal schert eines der mit Fahrgästen überladenen Taxis auf den Seitenstreifen aus, um die dahinkriechende Schlange auf dem Mittelstreifen zu überholen. An manchen Stellen zeigt sich die Straße von mehr Schlaglöchern übersät als der Seitenstreifen. Der Lärm auf diesen Straßen ist unbeschreiblich, denn jedermann in Duala, ob Mann, Weib oder Kind, scheint einen Ghettoblaster auf der Schulter herumzuschleppen, der sich offensichtlich nur auf maximale Lautstärke einstellen lässt. Die einzig allgemein anerkannte Verständigungsform scheint das Hupen zu sein. Ich habe ein paar der wichtigsten Signale entschlüsselt:

Tröt, tröt: “Sie sehen mich nicht, aber ich habe noch freie Plätze in meinem Taxi.”
Tröt, tröt: “Ich sehe Sie, aber ich habe keine freien Plätze mehr in meinem Taxi.”
Tröt, tröt: “Ich kann Sie nicht mitnehmen, weil ich in eine andere Richtung fahre.”
Tröt, tröt: “Ich kann Sie mitnehmen. Springen Sie rein.”
Tröt, tröt: “In weniger als einer Sekunde muss ich einem Schlagloch ausweichen und werde Sie überfahren, wenn Sie nicht sofort verschwinden!”

Früher fuhren in Duala Busse, doch diese können aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse nicht mehr verkehren. Es gibt also nur noch Taxis. Meist sind es uralte Toyotas, mit denen sich vier Fahrgäste auf der Rückbank und drei auf dem Vordersitz befördern lassen. Man hat sie knallgelb gespritzt wie in New York. Jedes Taxi trägt einen Spruch, zum Beispiel “Gott ist groß.” Oder: “Auf Gott vertrauen wir.” Und: “Wir fahren mit Gott.”

Niemand, der sich auf Dualas Straßen umsieht, kann behaupten, dass die Gründe für Kameruns Armut in fehlender Initiative und mangelndem Unternehmergeist liegen. Doch das Land ist arm, und was noch schlimmer ist: Es wird ständig ärmer. Was aber kann man tun, um dem Land zu mehr Wohlstand zu verhelfen? Dieses Problem ist sicher nicht leicht zu lösen. Der Nobelpreisträger Robert Lucas schreibt dazu:

Die Konsequenzen für das menschliche Gemeinwohl, die durch solche Fragen deutlich werden, sind erschütternd: Wenn man erst einmal anfängt, darüber nachzudenken, kann man gar nicht mehr aufhören.

Das fehlende Puzzlestück

Ökonomen waren früher der Auffassung, Wohlstand sei die logische Konsequenz einer Kombination von menschengeschaffenen Faktoren (Straßen, Fabriken, Maschinen, Telefonnetze), menschlicher Ressourcen (harte Arbeit und Bildung) sowie technologischer “Rohstoffe” (technisches Knowhow oder Hi-Tech- Geräte). In diesem Falle würden aus armen Ländern reiche werden, wenn man nur genug Geld für den Aufbau materieller Ressourcen zur Verfügung stellen und die menschlichen beziehungsweise technologischen Ressourcen ausbauen würde, indem man in Bildung und Technologietransfer investiert.

Und was soll daran nun bitte falsch sein? Nichts. Doch haben wir damit noch nicht die ganze Wahrheit erfasst. Tatsächlich gibt es in wohlhabenden Ländern mehr Bildung, Fabriken, technisches Knowhow und eine bessere Infrastruktur. Genau diese Dinge fehlen in armen Ländern, doch geben sie noch kein vollständiges Bild ab. Ein bestimmtes Puzzleteil fehlt, dummerweise ein enorm wichtiges Stück.

Unsere Vorstellung, wie aus armen Ländern reiche werden, beruht auf der Grundannahme, dass arme Länder in den letzten hundert Jahren mit den reichen Ländern hätten gleichziehen können. Je rückständiger sie sind, so glauben wir, desto schneller müsste die Aufholjagd vonstatten gehen. Ein Land, in dem es weder Infrastruktur noch Bildungsbemühungen gibt, sollte von neuen Investitionen überdurchschnittlich profitieren. Ein reiches Land gewinnt nicht viel, wenn es neue Investoren gewinnt. Man nennt diesen Vorgang “abnehmende Investitionsrendite”. Ein paar Beispiele: In einem armen Land können einige wenige Straßen ganze Landstriche neu erschließen, während in einem reichen Land damit höchstens ein regelmäßiger Stau im morgendlichen Stoßverkehr beseitigt wird. Die ersten Telefonleitungen sind in einem sich entwickelnden Land von enormer Bedeutung. In reichen Ländern ist das Telefon derart verbreitet, dass Teenies sich damit im Klassenzimmer Botschaften schicken. In einem armen Land können die ersten Bildungsinvestitionen viel bewirken, in einem reichen Land finden gut ausgebildete Universitätsabgänger häufig keinen Job. Außerdem ist es sehr viel einfacher, vorhandene Technologien zu kopieren als neue zu entwickeln. Die Einwohner von Duala können Taxi fahren, ohne erst auf einen Kameruner Gottlieb Daimler warten zu müssen, der den Verbrennungsmotor erfindet.

Betrachtet man Länder wie Taiwan, Südkorea oder China, in denen sich das Pro-Kopf-Einkommen innerhalb von zehn Jahren (oder noch schneller) verdoppelt hat, scheint die Theorie von der Aufholjagd stimmig. Doch in vielen armen Ländern wächst die Wirtschaft keineswegs schneller als in den reichen. Häufig entwickeln diese Länder sich sogar langsamer oder werden – wie Kamerun – immer ärmer. Um diese Schwachstelle des traditionellen Szenarios zu beseitigen, versuchten die Ökonomen, ihr Modell von der “abnehmenden Investitionsrendite” mit einem Modell von “wachsender Investitionsrendite” zu kombinieren. Der neue theoretische Ansatz besagt, dass es in entwickelten Volkswirtschaften mitunter auch zu schnellerem Wachstum kommt: Telefone sind vor allem dann nützlich, wenn alle anderen auch welche besitzen. Straßen nützen dann am meisten, wenn viele Menschen ein Auto besitzen. Neue Technologien werden schneller entwickelt, wenn man vorher schon viel Entwicklungsarbeit geleistet hat.

Dieser Ansatz erklärt nun, weshalb reiche Länder meist reich bleiben, arme Länder aber weiter zurückfallen. Doch auch vor diesem modifizierten Szenario bleibt unklar, weshalb Länder wie China, Taiwan und Südkorea (von Botswana, Chile, Indien, Mauritius und Singapur gar nicht zu sprechen) die Aufholjagd schaffen. Denn diese hochdynamischen Länder sind es, die mittlerweile zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt gehören – nicht Japan, nicht die Vereinigten Staaten, nicht die Schweiz. Vor fünfzig Jahren waren sie noch von Armut betroffen. Es fehlte ihnen an menschengeschaffenen Einrichtungen, technischen und menschlichen Ressourcen, manchmal auch an natürlichen Rohstoffen. Heute ist ihr Wohlstand enorm gestiegen. Dabei haben sich sowohl das Bildungssystem als auch die Infrastruktur und die technologische Ausrüstung enorm gebessert.

Warum auch nicht? Da Technik mittlerweile so weit verbreitet ist und auch zunehmend billiger wird, ist es genau das, was ein Ökonom von einem sich entwickelnden Land erwarten sollte. In einer Welt sinkender Investitionsrenditen gewinnen die armen Länder am meisten, wenn in neue Technologien, Infrastruktur und Bildung investiert wird. Südkorea holte seinen technologischen Rückstand auf, indem das Land ausländische Investoren anlockte oder Lizenzgebühren bezahlte. Der Technologietransfer war also nicht gratis. Zusätzlich zu den Lizenzgebühren wurden auch Gewinne aus dem Land abgezogen und ins Heimatland des Investors transferiert. Doch aufgrund des dadurch angestoßenen Wachstums lagen die Gewinne der südkoreanischen Investoren und Arbeiter um das Fünfzigfache höher als der Abfluss von Lizenzgebühren und Unternehmensgewinnen aus dem Land.

Was nun Bildung und Infrastruktur angeht, so sind die Investitionsrenditen hier so hoch, dass es kein Problem sein sollte, Investoren zu finden, die Straßen beziehungsweise Brücken bauen, Studenten Kredite geben oder der Regierung genügend Geld leihen, um den Bürgern des Landes eine kostenfreie Schulbildung zu ermöglichen. Öffentliche und private Banken müssten eigentlich Schlange stehen, um Menschen mit Krediten zu versorgen, die damit eine Ausbildung bezahlen, eine neue Straße oder ein neues Kraftwerk bauen wollen. Arme Menschen oder Länder sollten sich auf derartige Darlehen geradezu stürzen, voller Vertrauen darauf, dass die Investition ihnen so viel einbringt, dass es nicht schwer fallen dürfte, das Darlehen zurückzuzahlen. Und selbst wenn das Gegenteil eintreten würde, so gibt es immer noch die Weltbank. Diese wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet, Ländern im Aufbau mit günstigen Krediten bei der wirtschaftlichen Entwicklung unter die Arme zu greifen. Die Weltbank gewährt Entwicklungsländern Jahr für Jahr Kredite über mehrere Milliarden Dollar. Ganz offensichtlich ist der problematische Punkt nicht Geldmangel. Bedauerlicherweise wird dieses Geld entweder nicht investiert, oder es bringt nicht jene Effekte, die das traditionelle Entwicklungsmodell verspricht.

Denn auch das Modell der “steigenden Investitionsrenditen” legt den Schluss nahe, dass arme Länder Wohlstand erwerben können, wenn man ihnen nur die Möglichkeit gibt, gleich zu Beginn ihrer Entwicklung einige einander ergänzende Investitionen zum Beispiel in Fabriken, Straßen, Elektrizitätsnetz und Häfen zu tätigen. So kann es Güter herstellen und vertreiben. Dies ist die Theorie des “Big Push”, wie der Ökonom Paul Rosenstein-Rodan sie vorgetragen hat, der in seiner Jugend einige Jahre für die Weltbank tätig war. Doch ob nun mit “Schubs” oder ohne: Viele Länder sind in den letzten Jahrzehnten schnell gewachsen. Warum gelang dies anderen Ländern nicht?

Die Theorie vom “Regierungsbanditentum”

Als unser Wagen sich also im Schneckentempo über die Schlaglochpiste kämpfte, versuchte ich, mir auf das, was ich da vor mir sah, einen Reim zu machen. Ich fragte Sam, den Fahrer, über sein Land aus.

“Sam, wann wurden die Straßen denn zum letzten Mal repariert?”
“Das muss etwa neunzehn Jahre her sein.” (Präsident Paul Biya kam im November 1982 an die Regierung und führte zum damaligen Zeitpunkt seit nunmehr neunzehn Jahren die Regierungsgeschäfte. Vier Jahre später, im Jahr 2005, war er immer noch Regierungsoberhaupt. Vor kurzem erst beschrieb er seine Gegner als “politische Amateure”. Irgendwie drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, dass die Opposition ein wenig aus der Übung ist.)
“Aber beschweren die Leute sich denn nicht über die Straßen?”
“Natürlich beschweren sie sich, aber es geschieht trotzdem nichts. Die Regierung sagt immer, sie habe kein Geld. Dabei kommt doch haufenweise Geld von der Weltbank, von Frankreich, Großbritannien und Amerika. Doch das stecken die alles in die eigene Tasche. Für Straßen bleibt da nichts übrig.”
“Aber es gibt doch Wahlen in Kamerun?”
“Ja! Wir haben Wahlen. Präsident Biya wird stets mit einer Mehrheit von über neunzig Prozent gewählt.”
“Wählen wirklich neunzig Prozent der Kameruner Präsident Biya?”
“Nein. Er ist überhaupt nicht populär. Aber seine Neunzig- Prozent-Mehrheit erhält er trotzdem.”

Es braucht in Kamerun nicht lange, bis man merkt, dass die Bevölkerung gegen die Regierung zahlreiche Vorbehalte hegt. Die Behörden scheinen es ohnehin in erster Linie darauf angelegt zu haben, das Volk um alles zu erleichtern, was es an Barem besitzt. Vor der Gefahr, dass sie ihre begehrlichen Finger nach meinen Francs ausstrecken würde, sobald ich aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte man mich so eindringlich gewarnt, dass diese staatlichen Raubritter mir mehr Sorgen bereiteten als die Malaria und eventuell mögliche Überfälle mit vorgehaltener Waffe zusammen.

Wohlmeinende Menschen haben von Politikern und Staatsdienern ein recht positives Bild. Man glaubt, dass sie dem Volke dienen und ihr Bestes tun, um die Interessen ihres Landes zu vertreten. Zynischere Zeitgenossen betrachten Politiker als inkompetente Hampelmänner, die das öffentliche Interesse ohne zu zögern hintanstellen, wenn dies nur ihrer Wiederwahl dient.

Ein Ökonom namens Mancur Olson stellte eine Arbeitshypothese zur Diskussion, die über dieses Negativbild noch hinausgeht. Seiner Ansicht nach sind stabile Diktaturen zwar schlechter für das Wirtschaftswachstum als Demokratien, aber immer noch besser als die reine Anarchie. Olson meint, wir sollten davon ausgehen, dass die Regierung eines Landes sich verhält wie jeder x-beliebige Bandit. Sie setzt ihren Bürgern die Pistole auf die Brust und nimmt, was immer sie kriegen kann. Dies ist die Ausgangsthese von Olsons Analyse. Wenn Sie sich in Kamerun umsehen, werden Sie feststellen, dass in ihr durchaus ein Körnchen Wahrheit steckt. Wie sagte Sam doch gleich: Geld ist haufenweise da, aber die Regierung füllt damit nur die eigenen Taschen.

Stellen Sie sich also einen Diktator vor, der eine Amtszeit von genau einer Woche hat, ein Bandit mit einer Armee aus Plünderern, die einfällt, raubt, was immer er zu rauben befiehlt, und wieder verschwindet. Stellen wir uns weiter vor, dieser Diktator sei weder besonders bösartig noch besonders gütig, sondern einfach nur an sich selbst und seinem Vorteil orientiert. Was für einen Grund sollte er haben, den Leuten nicht alles zu nehmen? Gar keinen … falls er nicht plant, nächstes Jahr wieder zu kommen.

Und nun spinnen wir unsere kleine Fantasie weiter. Der herumziehende Bandit findet plötzlich einen Landstrich, in dem es ihm gefällt. Er beschließt, sich dort niederzulassen. Seinen Soldaten befiehlt er, die Bevölkerung auszuquetschen. So schlimm das einerseits ist, so ist den Ärmsten damit doch auch gedient. Denn selbst ein nur dem Eigeninteresse gehorchender Diktator wird bald feststellen müssen, dass er die Wirtschaft nicht kaputt machen und das Volk verhungern lassen kann, wenn er in dieser Region weiterhin residieren möchte. Dann nämlich hätte er bald sämtliche Ressourcen aufgezehrt, und es bliebe nichts mehr zum Plündern übrig. Daher ist ein ortsfester Diktator auf jeden Fall besser als die marodierende Heuschreckenvariante, die Region um Region kahl frisst.

Obwohl diese Aussage auf den ersten Blick zynisch und überzogen scheint, liefert gerade die Biologie dem politischen Ökonomen hier ein lehrreiches Beispiel. Viren und Bakterien verlieren mit der Zeit auch an Gefährlichkeit, denn gerade die tödlichsten Stämme sterben relativ schnell aus. Als sich die Syphilis in Europa ausbreitete, wurde sie noch als hochgradig aggressive Krankheit beschrieben, die ihre Opfer vergleichsweise schnell tötet. Doch aus Sicht des Bakteriums ist dies keine besonders schlaue Strategie. Viel geschickter ist es doch, wenn das Bakterium den befallenen Organismus nicht sofort ins Grab bringt, weil sich die eigene Art so besser ausbreiten kann. Alsbald traten Mutationen auf, die den Menschen weniger schnell zur Strecke brachten, und deren Taktik erwies sich als weit erfolgreicher als die ihrer tödlichen Stammväter.

Als ich an Präsident Biya dachte, kam mir unwillkürlich der Vergleich mit den Viren und Bakterien in den Sinn. Ich möchte mich nicht verbürgen, dass er Olsons Definition von einem dem Eigeninteresse frönenden Dikator entspricht. Doch wenn dem so wäre, läge es auch in seinem eigenen Interesse, die Kameruner nicht restlos auszubeuten, weil sonst ja bald nichts mehr zum Ausbeuten übrig wäre. Solange er seine Amts- und Lebenszeit als eins sieht, wird er die goldene Gans nicht schlachten wollen, von deren Eiern er lebt. Wie das Bakterium, dessen eigenes Überleben von dem seines Wirts abhängt, würde Biya dafür sorgen müssen, dass die Kameruner Wirtschaft wächst, damit er sein Land weiterhin plündern kann. Ein Führer, der damit rechnet, in den nächsten zwanzig Jahren an der Macht zu bleiben, wird auf jeden Fall mehr für den wirtschaftlichen Fortschritt seines Landes tun als einer, der nur zwanzig Wochen bleibt. Und so sind zwanzig Jahre mit einem “gewählten Diktator” ein geringeres Übel als alle zwanzig Wochen einen neuen Machthaber durchfüttern zu müssen. Heißt dies nun, dass wir Präsident Biya ein langes Leben im Präsidentenamt wünschen müssen?

Nun, das hieße Mancur Olsons Theorie überstrapazieren, denn diese behauptet ja nicht, dass stabile Diktaturen das Beste für ein Land sind, sondern nur, dass sie nicht ganz so schlimm sind wie instabile. Trotzdem sind Führer wie Biya, die sich stets zum Wahlsieger machen, für ihr Land, ihr Volk und deren Wirtschaft schädlich. Spinnen wir unseren Faden einmal weiter: Nehmen wir an, Biya habe die absolute Macht über die Einkommensverteilung in Kamerun. Und er entscheide sich dafür, Jahr für Jahr die Hälfte des Erwirtschafteten als “Steuer” zu kassieren, um damit sein persönliches Bankkonto zu füllen. Das wäre schlecht für seine Opfer, aber auch schlecht für Kameruns Wirtschaft. Nehmen wir einmal an, ein Kleingewerbetreibender habe beschlossen, seine Werkstatt mit einem neuen Generator für 1000 Dollar auszurüsten. Diese Investition wird sein Jahreseinkommen um 100 Dollar erhöhen. Das sind zehn Prozent, eine recht hohe Investitionsrendite also. Doch da Biya ja die Hälfte davon einstreicht, bleiben nur noch fünf Prozent übrig, was weit weniger attraktiv ist. Und so beschließt unser Geschäftsmann, die Investition lieber nicht zu tätigen. Er erhöht sein Einkommen nicht, aber auch Biya bekommt nicht mehr als üblich. Dies ist ein Extrembeispiel für die Tatsache, dass Steuern Ineffizienz verursachen. Natürlich sind Biyas “Steuern” reichlich willkürlich und viel zu hoch, doch die grundlegende Auswirkung auf die Volkswirtschaft bleibt gleich.

Natürlich kann auch Biya investieren. Er könnte zum Beispiel Straßen und Brücken bauen, um die Wirtschaft zu fördern. Das würde zwar kurzfristig sein Konto schmälern, doch auf die Dauer würde die Wirtschaft davon profitieren, was bedeutet, dass Biya später wieder mehr Gelegenheit zum institutionalisierten Diebstahl hätte. Doch auch hier kommt schnell die Kehrseite der Medaille zum Tragen: Da Biya ja nur die Hälfte der Gewinne kassieren könnte, ist der Anreiz, Kamerun die Infrastruktur zu geben, welche die Wirtschaft des Landes bräuchte, gering. Als Biya 1982 an die Macht kam, erbte er ein Land, in dem die Straßen aus der Kolonialzeit stammten und eigentlich diese Bezeichnung schon nicht mehr verdienten. Hätte er ein Land ohne jede Infrastruktur übernommen, wäre es in seinem ureigensten Interesse gewesen, eine solche aufzubauen. Da die Infrastruktur jedoch bereits vorhanden war, musste Biya nur berechnen, ob sich der Erhaltungsaufwand lohnte oder ob er einfach vom Erbe der Vergangenheit zehren konnte. 1982 dachte er vielleicht, die Straßen würden schon bis in die Neunzigerjahre halten. Länger konnte er wohl kaum mit dem Machterhalt rechnen. Und so beschloss er, vom Kapital der Vergangenheit zu leben und nicht in die Infrastruktur zu investieren. Warum sollte er sein persönliches Pensionskonto schröpfen, um etwas zu schaffen, was in der bestehenden Form ohnehin bis zum Ende seiner Regierungszeit erhalten bleiben würde?

Bin ich etwa gemein zu Präsident Biya? Nun, vielleicht ein kleines bisschen. In den Wahlen von 2004, die unmittelbar nach meinem Besuch in Kamerun stattfanden, erhielt er bei einer Wahl, die internationale Beobachter als einigermaßen legal einschätzten, immerhin fünfundsiebzig Prozent der Stimmen. Olsons Theorie besagt übrigens weiter, dass ein Führer, der sich die Zustimmung seiner Untertanen sichern muss, mehr von den Staatseinnahmen für die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen ausgeben muss als für sich und seine Kumpel. Die Tatsache, dass Biya dies nicht getan hat, aber trotzdem wieder gewählt wurde, wirft zwei ganz unterschiedliche Fragen auf. Erstens: Ist es möglich, dass die Wahlen am Ende gar nicht so demokratisch verlaufen sind, wie die Beobachter dies zu beobachten glaubten? Zweitens: Könnte Biya überhaupt für Wohlstand sorgen, selbst wenn er es wollte?

Banditen, so weit das Auge reicht

Vielleicht hat Biya ja doch nicht die volle Kontrolle, wie man dies auf den ersten Blick annehmen möchte. Wenn Sie von Buea aus nach Bamenda möchten, eine Stadt im Nordwesten, dann nehmen Sie vermutlich den Bus wie die meisten Kameruner. Minibusse besorgen den Personentransport auf fast allen Langstreckenrouten in Kamerun. Sie sind für zehn Personen ausgelegt und setzen sich in Bewegung, sobald mindestens dreizehn an Bord sind. Der relativ bequeme Sitz neben dem Fahrer ist schon eine Missetat wert. Die Busse sind uralte Knochenbrecher, doch insgesamt funktioniert das System recht gut.

Es würde sogar noch besser funktionieren, wäre da nicht der schlechte Einfluss der Regierung. Manchmal ist das Problem einfach auch schlicht der Zahn der Zeit. Nur so ist zum Beispiel zu erklären, dass die schnellste Route von Buea nach Bamenda durch den französischsprachigen Teil Kameruns führt, weil dort die Straßen besser sind. Das ist keineswegs die kürzeste Verbindung. Man fährt zwei Stunden lang nach Osten, dann wieder zwei Stunden nach Norden und schließlich zwei Stunden lang nach Westen. Trotzdem ist dies wesentlich schneller, als auf den erschreckenden Straßen im englischsprachigen Teil Kameruns einfach direkt gen Norden zu holpern. Biyas Verwaltung neigt nämlich dazu, die Interessen der politisch machtlosen englischsprachigen Regionen zu ignorieren. So klagt die englischsprachige Minderheit, dass die Regierung zwar Quittungen für Spenden zum Bau des Autobahnrings von Kamerun ausgestellt habe, doch den Teil des Ringes, der im englischsprachigen Gebiet liegt, nie ausgebaut habe.

Das zweite Hindernis, auf das man auf dieser Route trifft, ist die unglaubliche Anzahl von polizeilichen Straßensperren. Pöbelnde, häufig sturzbetrunkene Polizisten stoppen jeden Minibus und tun ihr Bestes, um die Passagiere um Bargeld zu erleichtern. Gewöhnlich haben sie Pech. Manchmal aber legen sie eine geradezu außergewöhnliche Entschlossenheit an den Tag. Mein Freund Andrew wurde einst aus einem Bus geholt und mehrere Stunden lang festgehalten, bis man endlich einen Grund fand, von ihm eine Strafe zu kassieren. Es hieß, er habe keine Bescheinigung über seine Impfung gegen Gelbfieber bei sich. Diese Bescheinigung braucht man zwar zur Einreise, aber gewöhnlich nicht, wenn man bereits im Land ist und Bus fährt. Der Polizist setzte ihm mit der gebührenden Ausführlichkeit auseinander, er müsse schließlich Kameruns Bevölkerung vor Infektionskrankheiten bewahren. Mit der Erhebung einer angemessenen “Strafe” in Form von zwei Flaschen Bier war schließlich der Gesundheitsvorsorge Genüge getan. Der Ausbruch einer Epidemie war verhindert worden, und Andrew konnte immerhin den nächsten Bus nehmen – drei Stunden später.

Dieses Vorgehen ist noch weniger effizient, als Olson dies in seinem Buch beschreibt. Olson selbst war der Meinung, dass seine Theorie in ihrer reinsten Form den Schaden, den schlechte Regierungsführung einem Volk zufügt, zu niedrig einschätze. So braucht Präsident Biya schließlich Hunderttausende bewaffneter Polizisten und Soldaten, die er bei Laune halten muss, von den zahllosen Beamten und anderweitigen Helfershelfern ganz zu schweigen. In einer “perfekten” Diktatur würde er einfach die am wenigsten schädlichen Abgaben in der notwendigen Höhe erheben und das Geld an seine Anhänger verteilen. Doch diese reine Form ist nicht praktikabel, weil sie weit mehr Information und Kontrolle über die Wirtschaft voraussetzt, als eine schlechte Regierung hat. Stattdessen kommt es zu einer von der Regierung tolerierten Korruption, die sich durch alle Schichten zieht.

Korruption aber ist nicht nur ungerecht, sondern auch im höchsten Grade ineffizient. Die Polizei bringt ihre Zeit damit zu, Reisende zu belästigen – für einen äußerst bescheidenen Gegenwert. Eine enorme Verschwendung. Die gesamte Polizei ist so sehr damit beschäftigt, Schmiergelder einzutreiben, dass sie gar nicht mehr dazu kommt, Kriminelle zu fangen. Jede vierstündige Fahrt dauert fünf Stunden. Reisende müssen lästige Vorsichtsmaßnahmen treffen, um sich zu schützen: weniger Bargeld bei sich tragen, weniger reisen, zu Stoßzeiten reisen, mehr Papierkram mit sich schleppen, um sich so vor den Extraktionsmaßnahmen der Ordnungsmacht zu schützen.

Straßensperren und bestechliche Polizisten sind eine recht augenfällige Form der Korruption, doch die Kameruner Wirtschaft wird auch von weniger manifesten Problemen gelähmt. Diese kamen erst kürzlich ans Tageslicht, als die Weltbank begann, Daten bezüglich der Durchführung einfacher wirtschaftlicher Vorgänge zu sammeln. Es stellte sich heraus, dass ein Unternehmer, der in Kamerun ein kleines Geschäft eröffnen wollte, nahezu das Zweifache eines durchschnittlichen Kameruner Jahresgehalts an Gebühren zu bezahlen hatte. (Dagegen verblassen meine Ausgaben für ein Touristenvisum natürlich.) Immobilien zu kaufen oder zu verkaufen kostet fast zwanzig Prozent des Immobilienwerts. Die gerichtliche Eintreibung einer offenen Summe dauert etwa zwei Jahre, kostet etwa ein Drittel dieser Summe an Gebühren und erfordert achtundfünfzig verschiedene amtliche Vorgänge. Diese lächerliche Überregulierung ist für die Bürokraten, die sie umsetzen müssen, natürlich ein gefundenes Fressen, denn jeder einzelne Vorgang ist eine gute Gelegenheit für das Kassieren von Schmiergeldern. Je langsamer das Standardprocedere ist, desto größer die Versuchung, es mit einer Extrazahlung zu “beschleunigen”. Daher finden sich allein unter den Verwaltungsbeamten genügend Sympathisanten des Präsidenten, die diesen unbedingt weiter an der Macht sehen möchten.

Doch damit nicht genug. Ein unflexibler, überregulierter Arbeitsmarkt sorgt dafür, dass nur gut ausgebildete und erfahrene Männer einen richtigen Arbeitsvertrag bekommen. Frauen und junge Männer müssen sich in den Grauzonen des Arbeitsmarktes durchschlagen. Unternehmensgründer werden entmutigt, wo es nur geht. Die übermäßig langsame Rechtsprechung zwingt Unternehmer, auf zahllose attraktive Verträge zu verzichten, weil sie wissen, dass sie sich im Zweifelsfalle gegen Betrug nicht schützen können. Gerade in armen Ländern ist diese Art von Überregulierung an der Tagesordnung, und hier haben wir einen der Hauptgründe für ihre Armut. Der Staatsapparat reicher Länder wickelt solche Dinge normalerweise schnell und kostengünstig ab. In armen Ländern aber werden diese Vorgänge so weit wie möglich verzögert, um einen kleinen Extrabonus herauszuholen.

Institutionen sind wichtig!

Institutionalisiertes Banditentum, weitreichende Verschwendung und Überregulierung zum Zwecke der Schmiergelderpressung: All das verschmilzt zu eben jenem Stück, das uns weiter vorne im Wachstums- und Entwicklungspuzzle fehlte. Daher betonen die Ökonomen seit etwa einem Jahrzehnt nimmermüde die Bedeutung der Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Was zu den “Institutionen” zählt, ist letztlich gar nicht so leicht zu sagen. Noch schwieriger allerdings ist es, schlecht funktionierende Institutionen zu reformieren.

Trotzdem machen wir Fortschritte. Mancur Olsons Theorie vom Regierungsbanditentum zeigt in vereinfachter Form, wie sich verschiedene Regierungsformen auf Anreizstruktur innerhalb der Volkswirtschaft auswirken, die für diese so wichtig sind. Wie man den Stand der Dinge verbessern könnte, verrät Olson uns aber nicht.

Die Weltbank-Untersuchung über die Bürokratie in armen Ländern zeigt uns, was “Institutionen” sein können: das Procedere bei der Neugründung von Unternehmen. Außerdem liefert diese Untersuchung ein glänzendes Beispiel dafür, wie ein bisschen Publicity solche Institutionen verbessern kann. Nachdem die Weltbank publik machte, dass Unternehmer in Äthiopien bei Neugründungen etwa das Vierfache eines Jahresgehalts bezahlen mussten, um die Neugründung in den amtlichen Verlautbarungen bekannt zu machen, schaffte die äthiopische Regierung diese Vorschrift ab. Die Zahl der Unternehmensneugründungen stieg sofort um etwa fünfzig Prozent.

Leider ist es nicht immer so leicht, korrupte Regierungen zu einer Änderung ihrer Vorgehensweise zu bewegen. Obwohl sich mittlerweile immer deutlicher abzeichnet, dass schlecht funktionierende Institutionen ein Hauptgrund für die Armut in den Entwicklungsländern sind, lassen die meisten Institutionen sich weder mit dem eleganten Modell Mancur Olsons noch mit der eifrigen Datensammelei der Weltbank beschreiben. Der Großteil der schlechten Institutionen funktioniert nämlich auf eine ganz eigene Art und Weise schlecht.

Der Welt schlechtestes Bibliotheksgebäude

Eben dieses institutionelle Eigenleben zeichnet für der Welt schlechtestes Bibliotheksgebäude verantwortlich. Ein paar Tage nach meiner Ankunft in Kamerun besuchte ich eine der prestigeträchtigsten Privatschulen im Land, Kameruns Eton sozusagen. Die Schule liegt nicht weit von Bamenda entfernt. Auf den ersten Blick mischt sich dort Fremdes und Vertrautes: Die niedrigen Klassenzimmer in Billigbauweise rund um den schönen Sportrasen erinnerten mich stark an meine alte Schule in England, doch eine merkwürdig gepflasterte Allee (Tim Burton trifft auf Jenseits von Afrika), in der die Häuser der Lehrer stehen, bildete dazu einen auffälligen Gegensatz.

Die Bibliothekarin führte mich auf dem Gelände herum. Sie war Mitglied einer britischen Hilfsorganisation (VSO), die hochqualifizierte ehrenamtliche Helfer in arme Länder schickt, die am dringendsten Unterstützung brauchen. Die Schule konnte sich rühmen, gleich zwei Bibliotheksgebäude zu besitzen. Trotzdem schien die Bibliothekarin nicht recht zufrieden. Ich sollte schon bald erfahren, wieso.

Auf den ersten Blick sah die Bibliothek sehr eindrucksvoll aus. Vom palastartigen Haus der Schulleiterin einmal abgesehen war die Bibliothek das einzige zweistöckige Gebäude auf dem Campus. Die Architektur war atemberaubend: eines armen Mannes Traum vom Opernhaus in Sidney. Die Dachflächen fielen nicht schräg zur Seite hin ab, wie dies bei einem normalen Giebeldach der Fall gewesen wäre, sondern standen vielmehr nach oben wie die Seiten eines aufgeschlagenen Buches. Doch trotz seiner mutigen Architektur wird mir das Bild des spektakulären Neubaus eher aus anderen Gründen in Erinnerung bleiben. Wenn man so im Abendlicht der Kameruner Trockenzeit steht und auf dieses Dach blickt, wird nicht unbedingt sofort ersichtlich, woran dieses Bauwerk, das aussieht wie ein offenes Buch, eigentlich krankt. Gäbe es keine Regenzeit, was dem Architekten wohl entgangen ist, wäre mit diesem Dach alles in bester Ordnung. Doch wenn es in Kamerun einmal regnet, dann regnet es fünf lange Monate. Der Regen fällt so dicht, dass die Straßengräben in Kürze überlaufen. Wenn diese Regenmassen nicht wie bei einem normalen Giebeldach schön seitlich ablaufen, sondern wie in einer Wasserrinne genau in die Mitte des Daches gelenkt werden, unter der die Eingangshalle der Bibliothek liegt, dann sollte man die Bücher besser schleunigst laminieren lassen.

Dass der Buchbestand der Bibliothek nicht Moder und Schimmel zum Opfer fiel, verdankte sich einzig der Tatsache, dass er nie in das neue Gebäude überführt wurde. Die Bibliothekarin wehrt sich standhaft gegen das Ansinnen der Schulleitung, die Bücher aus der alten Bibliothek in die neue zu bringen. Als ich das neue Gebäude betrat, drängte sich mir der Schluss auf, die Schulleiterin müsse an einer besonders schweren Form von Realitätsverlust leiden, denn die neue Bibliothek war bereits dem Verfall preisgegeben, noch bevor sie bezogen worden war. Auf dem Boden zeigten sich Flecken von zahllosen Pfützen. In der Luft lag der dumpf-modrige Geruch, der sich gewöhnlich in zentraleuropäischen Tropfsteinhöhlen findet, nicht jedoch in einem Gebäude auf Höhe des Äquators. Der Putz blätterte von den Wänden wie ein altbyzantinisches Fresko. Dabei war das Gebäude erst vier Jahre alt.

Dies ist ein besonders schockierender Fall von Verschwendung. Statt diese Bibliothek zu bauen, hätte die Schule vierzigtausend neue Bücher anschaffen können. Sie hätte ihren Schülern Computer mit Internetverbindung zur Verfügung stellen oder Stipendien für arme Schüler vergeben können. Alles wäre besser gewesen als diese Bibliothek, die man nicht nutzen kann. Dazu kommt noch, dass die Schule eigentlich gar keine neue Bibliothek gebraucht hätte. Die alte Bibliothek bot alles, was eine Bibliothek braucht. Sie hätte sogar noch drei Mal mehr Bücher aufnehmen können, als die Schule besaß. Und sie ist absolut wasserdicht. Dass im Grunde keine neue Bibliothek gebraucht wurde, erklärt vielleicht auch die unsinnige Konstruktionsweise, achtet doch niemand auf die Funktionalität eines Gebäudes, das sowieso überflüssig ist. Doch wenn die Bibliothek solch eine überflüssige Investition darstellte, warum wurde sie dann überhaupt erst gebaut?

Folgender Ausspruch wird gemeinhin Napoleon in den Mund gelegt: “Erkläre nie durch Verschwörung, was sich ganz einfach mit Inkompetenz erklären lässt.” Damit aber macht man es sich zu leicht. Wo immer es zu Fehlleistungen kommt, wird ihr Grund in der Inkompetenz der Ausführenden gesucht. Es ist ja auch zu verführerisch, die Armut Kameruns achselzuckend auf die Tatsache zu schieben, dass die Kameruner nun einmal unfähig sind. Tatsächlich scheint die Bibliothek dafür ein exzellentes Beispiel zu bieten, doch die Kameruner sind weder klüger noch dümmer als der Rest der Weltbevölkerung. Denn die Belege für völlige Inkompetenz sind in Kamerun so zahlreich, dass sie nicht mehr mit individuellem Versagen zu erklären sind. Hier zeigt sich vielmehr ein Fehler im System. Einmal mehr müssen wir also die Anreize unter die Lupe nehmen, die auf die Entscheidungsträger einwirken.

Zunächst einmal muss man wissen, dass jene Beamten, die den Bildungsauftrag des Staates im Nordwesten Kameruns erfüllen, durchweg aus der kleinen Stadt Bafut kommen. Sie sind als “Bafut-Mafia” bekannt, weil sie bei der Vergabe der beträchtlichen Summen, die in das Erziehungssystem fließen, eher aufgrund persönlicher Beziehungen entscheiden denn aufgrund irgendwelcher Notwendigkeiten. Die Leiterin der Privatschule gehört zu den dienstältesten Mitgliedern der Bafut-Mafia, was uns weiter nicht überraschen sollte. Da sie ihre Schule in eine Universität verwandeln möchte, brauchte die Rektorin ein Bibliotheksgebäude, das im Hinblick auf Größe und Qualität universitären Ansprüchen genügt. Dass die bereits vorhandene Bibliothek den aktuellen Ansprüchen der Schule vollauf genügte und das Geld des Steuerzahlers daher besser auf andere Weise, vielleicht sogar für eine andere Schule, ausgegeben werden sollte, war für die Entscheidung der Rektorin nicht maßgeblich.

Darüber hinaus kann die Schulleiterin nach Belieben schalten und walten, weil sie von niemandem kontrolliert wird. Der Lehrkörper wird nicht aufgrund seiner Leistung befördert oder bezahlt, sondern einzig und allein auf die Beurteilung der Schulleiterin hin. Da es sich um eine prestigeträchtige Schule mit guten Gehältern handelt, ist der Lehrkörper ganz besonders darauf bedacht, sich mit der Rektorin gut zu stellen, um nicht von der Schule gehen zu müssen. Der einzige Mensch, der sich gefahrlos mit der Rektorin anlegen konnte, war die ehrenamtliche Helferin, die direkt ihrer Organisation in London unterstand. Da sie erst nach dem Bau der neuen Bibliothek an die Schule kam, konnte sie nur verhindern, dass der Buchbestand in das neue Gebäude umgesiedelt und damit dem Verfall anheim gegeben wurde. Entweder war die Rektorin so dumm, dass sie erst gar nicht erkennen konnte, dass Wasser Bücher zu schädigen vermag, oder es war ihr schlichtweg egal, da sie ohnehin nicht so viele Bücher in ihrer neuen Bibliothek haben wollte. Wahrscheinlicher ist die zweite Hypothese.

Da genügend Geld da war und niemand bei der Planung der neuen Bibliothek Einspruch erhob, bestimmte die Rektorin allein, wie der Bau aussehen sollte. Sie ernannte einen früheren Schüler zum Architekten, vielleicht um damit auch gleich die Qualität der dort angebotenen Ausbildung unter Beweis zu stellen. Das gelang ihr auch, wenn auch vermutlich nicht in der gewünschten Weise. Doch wie inkompetent der Architekt auch gewesen sein mochte, die Fehler in der Planung wären einem jeden Besucher aufgefallen, der wirklich die Funktion des Gebäudes in Betracht gezogen hätte. Doch niemandem, der bei dem Projekt etwas zu sagen hatte, ging es wirklich um die Bibliothek. Die Entscheidungsträger wollten nur einfach ein Gebäude hinstellen, das die Eignung der Schule als Universität unterstrich.

Fassen wir also nochmals zusammen: Das Geld wurde bewilligt, weil die Rektorin zu einem bestimmten Netzwerk gehörte, nicht weil die Schule es brauchte. Das Projekt wurde nicht aus einer Notwendigkeit heraus, sondern aus Prestigegründen in Angriff genommen. Die Entscheidungsträgerin wurde nicht kontrolliert und zur Verantwortung gezogen. Der Architekt wurde nicht aufgrund der Qualität seiner Arbeit ausgewählt. Kann in solch einem Fall das Resultat noch verwundern? Ein Gebäude, das nie hätte gebaut werden sollen, wurde errichtet, und zwar schlecht.

Auf den ersten Blick ist die Lehre, die wir aus dieser Geschichte ziehen können, einfach: In Entwicklungsländern führen Ehrgeiz und Eigeninteresse von Entscheidungsträgern häufig zu enormer Verschwendung. Doch die Wahrheit ist leider noch weit tragischer: Auf der ganzen Welt sitzen Leute in wichtigen Positionen, die in erster Linie von Eigeninteresse und Ehrgeiz geleitet werden. Doch meist wird die Macht dieser Menschen durch Gesetz, Presse und demokratische Opposition begrenzt. Die Tragödie Kameruns ist es, dass es keine Institutionen besitzt, die solches Eigeninteresse eindämmen könnten.

Nun wird’s interessant: Anreize und Entwicklung in Nepal

Das Kameruner Erziehungssystem setzt Anreize, die eines eindeutig beweisen: Die Ausbildung der Kinder ist das, wovon der Beamtenapparat am wenigsten profitiert. Aus diesem Grund ist es genau das, was den Verantwortlichen am wenigsten am Herzen liegt.

Das Schema der Leistungsanreize bei Entwicklungsprojekten ist ohnehin eine recht komplexe Frage, die manchmal zu unerwarteten Einsichten führt. Ein solches Schema deckte die Ökonomin Elinor Ostrom auf, die sich mit dem Bewässerungssystem in Nepal beschäftigte. In Nepal existieren nebeneinander alte, traditionell gebaute Dämme und Kanäle sowie neue aus Beton, die von Ingenieuren entworfen und von internationalen Geberorganisationen gebaut wurden. Die Frage war nun: Welche funktionieren besser und warum?

Als ich von dieser Untersuchung hörte, glaubte ich, die Antwort bereits zu kennen. Es ist doch offensichtlich, dass moderne Ingenieurskunst und moderne Materialien in Verbindung mit optimaler moderner Bauweise schon aufgrund der dahinterstehenden Geldsummen ein besseres Bewässerungssystem hervorbringen mussten als ein paar Bauern, die nur Schlamm und Stöcke zur Verfügung hatten. Richtig? Falsch.

Heute wissen wir es besser. Wir wissen, dass große, international gesponsorte Dammprojekte häufig schlecht mit der Bevölkerung abgestimmt werden. Tatsächlich gilt meist die Devise “small is beautiful”. Lokale Traditionen, die in Jahrhunderten entstanden und von Generation zu Generation weiter gegeben wurden, funktionieren in vielen Fällen besser. Richtig? Wieder falsch.

Es stellte sich heraus, dass die Prozesse, die in Nepal tatsächlich abliefen, weit spannender waren als jede dieser grob vereinfachten Positionen. Elinor Ostrom kam einem offensichtlichen Paradoxon auf die Spur. Der erste Teil des Paradoxons lässt sich auf folgenden Nenner bringen: Moderne Dämme, die von Experten entworfen und gebaut wurden, reduzieren die Effizienz des Bewässerungssystems. Der zweite Part des Paradoxons lässt sich so zusammenfassen: Wenn Sponsoren Bewässerungskanäle bauen oder mit modernen Materialien reparieren lassen, gewinnt das Bewässerungssystem an Effizienz und liefert zuverlässig mehr Wasser für mehr Menschen.

Warum also können Sponsoren zwar für funktionierende Bewässerungssysteme, nicht aber für funktionierende Dämme sorgen? Offensichtlich sind hier subtilere Kräfte am Werk, als die ewig gestrige Debatte zwischen Anhängern technischer Expertise und Verfechtern traditioneller Weisheit vermuten lässt. Sinnvollerweise setzt sich der Undercover-Ökonom einmal mehr mit der Motivation aller Beteiligten auseinander, um einen klaren Blick zu bekommen.

Zunächst einmal springt uns hier die offensichtliche Tatsache ins Auge, dass ein Projekt vermutlich dann erfolgreich ist, wenn die Menschen, die aus seinem Erfolg Nutzen ziehen, auch die sind, die es realisieren. Damit lässt sich mühelos erklären, wieso die traditionellen Bewässerungsanlagen einen Vorteil gegenüber den modernen haben: Nicht, weil sie voll unergründlicher Weisheit stecken (das natürlich auch!), sondern weil sie von den Bauern ersonnen, umgesetzt und gewartet werden, die sie nutzen. Im Gegensatz dazu sind moderne Dämme und Kanäle von Ingenieuren geplant worden, die nicht verhungern werden, wenn sie nicht richtig arbeiten. Sie wurden von Beamten in Auftrag gegeben, deren Job nicht von der Zuverlässigkeit dieser Dämme abhängt. Selbst die Organisationen, die dafür bezahlt haben, werden nicht am Erfolg ihrer Maßnahmen gemessen, sondern mit Hilfe irgendwelcher Standardverfahren. Und schon ist klar, warum bessere Materialien und mehr Geld nicht unbedingt zu mehr Erfolg führen.

Doch damit sind wir noch keineswegs am Ende, denn Bewässerungssysteme müssen gewartet werden, wenn sie ihren Zweck dauerhaft erfüllen sollen. Und wer kümmert sich um diese Arbeiten? Weder die geldgebende Organisation noch die Regierungsbeamten bringen dafür das gebührende Interesse auf. Die Beamten des Staates Nepal werden nach dem Senioritätsprinzip befördert. Dabei spielt auch eine Rolle, ob sie für irgendwelche prestigeträchtigen Entwicklungsobjekte verantwortlich waren. In dieser Hinsicht ist die Wartung von Anlagen eine Sackgasse, obwohl sie den Bauern hohen Nutzen bringt. Welcher Regierungsbeamte würde es schon gerne auf sich nehmen, monatelang solch niedrige Tätigkeiten zu überwachen, an Orten weit weg von der Hauptstadt Kathmandu, wo seine Frau einkaufen geht und seine Kinder die Schule besuchen? Außerdem haben natürlich auch nepalesische Beamte nichts gegen ein kleines Bakschisch hie und da. Ein großes Bauvorhaben, das zu vergeben ist, bringt sicherlich mehr als langwierige Instandhaltungsarbeiten auf den Dörfern.

Und der Hang zum Größenwahn beschränkt sich keineswegs auf das Beamtentum, sondern erfasst auch die Geberorganisationen. All diese Organisationen brauchen Projekte, die Geld kosten, denn wenn sie nicht genug Geld ausgeben, fließt keines mehr nach. Einige bilateral arbeitende Organisationen wie USAID dürfen das Geld darüber hinaus nur unter bestimmten Bedingungen ausgeben. So ist USAID gezwungen, Material zu verwenden, das aus den USA kommt. Dabei handelt es sich meist um schwere Hi-Tech-Gerätschaften. Da man mit Bulldozern besser Dämme bauen als sie warten kann, stehen auch hier die Zeichen auf Großbaustelle. Und selbst wenn eine Geberorganisation nicht schon von ihren Statuten her zur Finanzierung von Großprojekten gezwungen ist, so ist sie doch von den Informationen abhängig, die sie von lokalen Behörden und Beratern erhält. Und deren Motivation haben wir ja bereits durchleuchtet.

All diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Entscheidungsträger bei Bauprojekten wenig Interesse daran zeigen, gute und günstige Systeme zu installieren, die für die Bauern wichtig wären. Das erklärt aber immer noch nicht, weshalb Dämme, die von Geberorganisationen finanziert wurden, das Bewässerungssystem insgesamt eher verschlechtern, und weshalb fremdfinanzierte Anlagen ganz gut funktionieren, obwohl auch hier die Auftraggeber nicht die Interessen der Betroffenen im Auge haben. Der Grund dafür liegt offensichtlich bei den Bauern selbst.

Niemand außer den Bauern hat ein Interesse daran, ein Bewässerungssystem instandzuhalten, wenn es erst einmal in Betrieb ist. Das muss noch kein Problem darstellen. Schließlich mussten die Bauern die traditionellen Systeme ja auch erhalten. Wenn sie also die alten Kanäle warten konnten, müssten sie dies doch auch mit den neuen Anlagen können, oder?

Die Wartung eines Bewässerungssystems besteht in zwei grundlegenden Aufgaben: Es ist darauf zu achten, dass der Damm keine Risse und Sprünge bekommt. Darüber hinaus müssen die Kanäle von Schwemmgut frei gehalten werden. Das ist ein ordentliches Stück Arbeit, das die Bauern sich wohl nicht so einfach aufhalsen werden, wenn sie nicht einen klaren Vorteil darin sehen. Dahinter aber verbirgt sich ein potenzielles Problem. Die Bauern müssen gemeinsam den Damm instandhalten. Doch Bauern, die nahe am Damm wohnen, sehen meist nicht ein, weshalb sie zusätzlich dafür sorgen sollen, dass die Kanäle, die ins Hinterland führen, frei bleiben. Was haben sie zu gewinnen, wenn sie dabei helfen? Glücklicherweise haben die meisten Gemeinden in Nepal hier ein System der Zusammenarbeit entwickelt, das mehr oder weniger wie folgt funktioniert: Die Bauern, die im Hinterland wohnen, helfen bei der Instandhaltung des Damms, während die näher am Damm Wohnenden bei den Räumungsarbeiten in den Kanälen mitarbeiten. So weit, so gut.

Wenn eine Geberorganisation nun neue Betonkanäle ziehen lässt, so wird das System damit gestärkt: Die neuen Kanäle sind breiter. Sie führen mehr Wasser und sind so leichter von Schwemmgut frei zu halten. Lässt die Organisation aber einen Damm bauen, so bricht das System in sich zusammen. Nicht etwa, weil der Damm an sich schlechter wäre. Ganz im Gegenteil. Auch der Betondamm erfordert weniger Wartungsarbeiten als der traditionelle Damm. Doch das System der Nachbarschaftshilfe gerät mit einem Mal aus den Fugen. Die ursprüngliche Vereinbarung hat nun keinen Sinn mehr. Die Bauern am Damm helfen nicht mehr beim Ausräumen der Kanäle, weil sie ja selbst keine Hilfe mehr bei der Instandhaltung des Damms benötigen. Und so haben die Bauern im Hinterland keine Gegenleistung anzubieten.

Viele moderne Bewässerungssysteme in Nepal erwiesen sich als Fehlschlag, weil zwar die technische Beschaffenheit des alten Systems verbessert wurde, seine soziale Komponente dabei aber vernachlässigt wurde. Das Beispiel aus Nepal belegt einmal mehr, dass eine Gesellschaft ohne Anreize zu produktivem Verhalten arm bleiben wird, selbst wenn man ihr Unmengen technischer Infrastruktur zur Verfügung stellt. Gerade Entwicklungsprojekte werden häufig von Leuten in Auftrag gegeben, die weniger am Erfolg des Projekts als an der Höhe des eigenen Schmiergelds und am eigenen Aufstieg auf der Karriereleiter interessiert sind. Wenn aber die Effizienz eines Projekts zur Nebensache verkommt, dann ist es weiter nicht verwunderlich, dass es die lautstark verkündeten Ziele nicht erfüllt. Das Ziel, ein paar Bürokraten reich zu machen, wurde hingegen vermutlich sogar übererfüllt. Und sogar wenn die ursprüngliche Absicht hinter dem Projekt war, die betroffene Region wirtschaftlich voranzubringen, dann sorgen Schmiergelder und andere externe Effekte letztlich doch für allerhand Verzerrungen.

Ist Entwicklungshilfe möglich?

Entwicklungshilfespezialisten konzentrieren sich bei der Unterstützung für arme Länder meist darauf, die Schulbildung zu verbessern und dem Land eine Infrastruktur, also Straßen und ein Telefonnetz, zu verschaffen. Das sind durchweg löbliche Ziele. Unglücklicherweise löst dies nur einen Teil des Problems. Ökonomen, die sich mit Statistiken befassen und dabei eher entlegene Daten studieren wie zum Beispiel das Einkommen von Kamerunern in Kamerun beziehungsweise das Einkommen von Kamerunern in den Vereinigten Staaten, fanden heraus, dass Faktoren wie Bildung, Infrastruktur und Produktionsstätten die Kluft zwischen Arm und Reich nicht erklären können. Sein schlechtes Bildungssystem führt vielleicht dazu, dass Kamerun nur halb so wohlhabend ist, wie es sein könnte. Auch die miese Infrastruktur macht die Kameruner vielleicht doppelt so arm wie nötig. Das würde bedeuten, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten vier Mal so reich sind wie die Menschen in Kamerun. Doch die Amerikaner sind fünfzig Mal so reich wie die Kameruner. Und was noch wichtiger ist: Die Kameruner scheinen unfähig zu sein, diesem Problem abzuhelfen. Könnte die Regierung in Kamerun nicht ihre Schulen verbessern? Würden die Vorteile die Nachteile nicht immens überwiegen? Könnten nicht Kameruner Geschäftsmänner Fabriken bauen, Technologielizenzen kaufen, ausländische Partner suchen… und damit ein Vermögen machen?

Nein. Genau das ist nicht möglich. Mancur Olson zeigte, dass institutionalisierter Diebstahl bis in die Regierungsspitze hinein das Wachstum armer Länder verhindert. Einen Dieb zum Präsidenten zu haben, muss ja nach Olsons Einschätzung noch nicht schlecht sein. Vielleicht beschließt der Typ ja, die Wirtschaft zu fördern, damit er sich dann ein dickeres Stück vom Kuchen abschneiden kann. Doch im Allgemeinen führt Unredlichkeit an der Regierungsspitze dazu, dass diese auf das ganze System übergreift. Entweder, weil der Präsident nicht wissen kann, wie lange er an der Macht bleiben wird – oder weil er seine Anhängerschaft bei Laune halten und ihnen deshalb das Stehlen erlauben muss.

An der Basis der globalen Wohlstandspyramide bewegt sich aber auch deshalb wenig, weil die Überregulierung der Gesellschaft alle Initiativen unterbindet, die dem Allgemeinwohl zugute kämen. Unternehmer gründen keine Unternehmen (zu kompliziert) und zahlen so keine Steuern. Beamte fördern lächerliche Projekte um des eigenen Ansehens oder der persönlichen Bereicherung willen. Und Schulkinder sehen nicht ein, weshalb sie sich Qualifikationen aneignen sollen, die ihnen später doch nichts nützen.

Es mag ja nicht neu sein, dass Korruption und falsche Anreize die Entwicklung bremsen beziehungsweise verhindern können. Neu ist hingegen, dass Überregulierung und Fehlfunktion der Institutionen nicht nur für einen Teil der Kluft zwischen Kamerun und den wohlhabenden Ländern verantwortlich sind, sondern für den ganzen Abgrund, der zwischen Reich und Arm klafft. Länder wie Kamerun realisieren nur einen winzigen Teil ihres Potenzials, selbst wenn man ihre armselige Infrastruktur, den niedrigen Investitionsgrad und die geringe Bildung der meisten Einwohner in Rechnung stellt. Und was noch schlimmer ist: Das alles durchdringende, fein gesponnene Netz der Korruption verhindert weiterhin, dass die Infrastruktur verbessert wird, dass Kapital ins Land fließt und die Bildungsstandards steigen.

Kameruns Bildungssystem wäre besser, wenn die Bürger des Landes einen Anreiz hätten, sich weiterzubilden. Wenn gute Jobs und Beförderungen wirklich von den Fähigkeiten des Einzelnen abhingen statt von persönlichen Beziehungen. Kamerun würde über mehr Technologie und Produktionsstätten verfügen, wenn das Investitionsklima stimmte, ob nun von Seiten in- oder ausländischer Kapitalgeber, und wenn die Gewinne nicht von Schmiergeldern und Bürokratiemanövern aufgefressen würden.

Das Wenige an Bildung, Technologie und Infrastruktur, das dieses Land besitzt, könnte schon bessere Ergebnisse zeitigen, wenn die Gesellschaft so organisiert wäre, dass sie gute, produktive Ideen belohnen würde. Doch dies ist nicht der Fall.

Immer noch fehlt uns das Wort für jenes Puzzlestück, das in Kamerun und anderen armen Ländern fehlt. Doch langsam beginnen wir zu begreifen, worum es dabei geht. Manche Menschen sagen dazu “Sozialkapital”, andere “Vertrauen”. Wieder andere fassen all das unter “Rechtsstaatlichkeit” oder “funktionierende Institutionen” zusammen. Doch dies ist letztlich nur Begriffskosmetik. Der entscheidende Punkt nämlich ist, dass in Ländern wie Kamerun alles auf dem Kopf steht. Dort nämlich liegt es im Interesse jedes Einzelnen, sich in einer Art zu verhalten, die direkt oder indirekt anderen Menschen schadet. Die Anreize zur Schaffung von Reichtum sind buchstäblich in ihr Gegenteil verkehrt. Wie das Dach der Schulbibliothek, dessen eigentliche Funktion nicht in der effektiven Kanalisierung von Wasser ins Innere des Gebäudes liegt.

Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken, nämlich bei der Regierung, doch der Gestank breitet sich alsbald auf die gesamte Gesellschaft aus. Es hat keinen Sinn, in ein wie auch immer geartetes Unternehmen zu investieren, da die Regierung den Unternehmer nicht vor Diebstahl schützt. (Dann können Sie auch gleich zum Dieb werden.) Es hat keinen Sinn, die eigene Telefonrechnung zu bezahlen, weil kein Kameruner Gericht einen Schuldner belangen kann. (Damit entfällt aber auch jeder Reiz, in Kamerun etwa eine Telefongesellschaft zu gründen.) Es hat keinen Sinn, sich um eine ordentliche Berufsausbildung zu bemühen, weil man ja ohnehin nicht aufgrund eigener Kenntnisse und Fertigkeit einen Job bekommt. (Außerdem können Sie sich kein Geld für die Schulgebühren leihen, weil die Bank ja weiß, dass sie ihr Geld niemals würde eintreiben können, wenn Sie sich weigerten, das Darlehen zurückzuzahlen. Außerdem gibt es gar keine guten Schulen.) Es hat keinen Sinn, Waren zu importieren, weil die Einzigen, die davon profitieren werden, die Zollbeamten sind. (Es gibt also keinen Handel. Das Zollbüro hat keine Einnahmen und sucht verzweifelt nach anderen Möglichkeiten, Schmiergelder einzutreiben.)

Langsam wird deutlich, wie wichtig dieses Problem für die gesamte Wirtschaft ist, und so können wir beginnen, nach Lösungen zu suchen. Leider liegt es in der Natur des Problems, dass sich Lösungen hier nur schwer finden lassen. Wir müssen uns also auf einen langsamen, schwierigen Prozess einstellen. Normalerweise gehört es nicht zu unseren Gewohnheiten, demokratische Gesellschaftsmodelle mit Gewalt durchzusetzen. Das liegt auch daran, dass diese nur in den seltensten Fällen wirklich stabil bleiben. Außerdem möchten wir nicht, dass unsere Entwicklungshilfe in den Mühlen der Bürokratie verschwindet. Andererseits erfordert es sehr viel Zeit sicherzustellen, dass das Geld richtig eingesetzt wird.

All diese Probleme lassen sich nicht über Nacht lösen. Aber es gibt einige einfache Maßnahmen, die – bei einem Minimum an politischem Willen – Länder wie Kamerun in die richtige Richtung lenken können. Eine davon ist der Abbau von Bürokratie auf allen Ebenen. Auf diese Weise schaffen wir die Voraussetzung, dass kleine (legale) Unternehmen schneller gegründet werden können. Dies wiederum erleichtert es den Unternehmern zu expandieren und Geld zu leihen. Die nötigen Gesetzesreformen sind häufig banal. Natürlich ist auch dazu eine Regierung nötig, die wenigstens ansatzweise guten Willen zeigt. Doch mitunter genügt auch schon ein Minister, der Herz und Hirn am rechten Fleck hat. Es muss ja gar nicht der gesamte Behördenapparat reformiert werden.

Eine andere und sehr wirkungsvolle Hilfe ist eine möglichst enge Verknüpfung mit der Weltwirtschaft. Die meisten armen Länder sind als Volkswirtschaften recht klein. Alle Volkswirtschaften des subsaharischen Raumes sind zusammengenommen gerade einmal so groß wie die Belgiens. Die Wirtschaft eines Staates wie Tschad ist vielleicht gerade so groß wie die eines Washingtoner Vororts. Der Bankensektor dort tätigt geringere Umsätze als die Bank für die Weltbankmitarbeiter. So kleine Länder können nicht autonom sein. Sie brauchen Zugang zu billigem Treibstoff, günstigen Rohmaterialien, Produktionsmitteln und Darlehen von internationalen Banken. Doch die Kameruner sitzen in der Falle ihrer hohen Zölle, die mit etwa sechzig Prozent zu den höchsten der Welt gehören. Solche Handelsbarrieren generieren Einkommen für die Regierung. Sie erlauben es, die Unternehmen von Freunden und Spießgesellen zu schützen und bringen hohe Schmiergelder für Importlizenzen. Ein kleines Land aber kann ohne direkte Verbindung zur Weltwirtschaft nicht überleben. Steht es jedoch in engem Kontakt mit dieser, so wird es blühen und gedeihen. Im nächsten Kapitel werden wir ein solches Land besuchen und uns ansehen, wie das genau funktioniert.

Published 11 September 2006
Original in English
Translated by Elisabeth Liebl
First published by Tim Harford, ÖKONOMICS, München: Riemann Verlag 2006.

© Tim Harford/Riemann Verlag Eurozine

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