Tod und Auferstehung Gottes

Gedanken zum Erbe Dietrich Bonhoeffers

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Das XX. Jh. kann im westlich-christlichen Kulturraum Europas als das Jahrhundert des “Todes” und der “Auferstehung Gottes” bezeichnet werden: Die Rede vom “Tod Gottes”, von einer “Entzauberung der Welt”, vom “religionslosen Zeitalter” etc. prophezeite das Ende einer Geschichtsetappe der westlichen Zivilisation. Das Thema “Religion” schien vom öffentlichen Bewußtsein in den Spezialraum der Expertenforschung vertrieben zu werden, wo religiöse Elemente nach gesellschaftlich akzeptablen Methoden behandelt und neutralisiert werden sollten, wie das beispielsweise die Freud’sche Psychotherapie tut, wenn sie den Glauben als Ausdruck einer Neurose behandelt. Seit Thomas Luckmanns bahnbrechendem Buch über die unsichtbar gewordene Religion1 fing man jedoch wieder an, von Religion und ihrer öffentlichen Bedeutung zu sprechen. Besonders die religiös intendierten Terrorwellen um die Jahrtausendwende zeigten in schmerzlicher Weise, dass Religion, ob eigene oder fremde, im XXI. Jh. eines der Themen bleibt, das unser Leben, abgesehen von unserem persönlichen Verhältnis zur Religion, stark beeinflussen wird.

Eine kulturgeschichtlich relativ neue Bedingung der Thematisierung von Religion ist, dass die “wiederkehrende” religiöse Praxis nicht mehr von traditionellen Kirchen reguliert und kontrolliert wird, wie es beinahe 2000 Jahre in der christlichen Welt üblich war. Im heutigen postmetaphysischen Zeitalter, das vom Ende der sog. Großerzählungen gekennzeichnet ist, hat die traditionelle kirchliche Lehre in den Augen der pluralistisch gesinnten Öffentlichkeit nicht nur an Wirkung, sondern auch an Legitimität verloren. Selbst die Frage, was Religion ist und woran das Wesen der Religion zu messen sei, kann nicht mehr eindeutig beantwortet werden: Phänomenologisch gesehen haben alle entscheidenden Makrofaktoren der menschlichen Existenz religiöse Züge. Andererseits, ob Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus, kapitalistische Marktwirtschaft samt ihrer Produkte – Konsumgesellschaft, wissenschaftlich-technischer Fortschrift, Popkultur, Sport etc. – als Erscheinungen des Religiösen anzusehen sind, hängt vor allem von ihren gesellschaftlichen Funktionen und von dem persönlichen Verhältnis des Einzelnen zu ihnen ab.

In diesem postmetaphysischen und pluralistischen Kontext ist es nötig, das Erbe des Christentums, die Rolle der Kirche und die Aufgabe der Theologie neu zu überdenken; denn christlicher Glaube, in allen seinen alten und neuen Manifestationen, bleibt unbestritten eine das kulturelle- und gesellschaftliche Leben prägende Kraft. Im postmetaphysischen Zeitalter der Interpretation – wie es Gianni Vattimo nennt2 – brauchen wir nicht nur theoretische Interpretationen. Denn jede Theorie enthält metaphysische Züge und bleibt insofern verdächtig. Wir brauchen auch glaubwürdige Beispiele aus der Realität. “Christentum” als eine Autorität unserer Kultur wirkt nicht unmittelbar, bleibt es als Stichwort zunächst doch nur eine sprachliche Abstraktion. Erst wenn bestimmtes “Christliches” von jemandem vertreten und vermittelt wird, kann es Beachtung und Wirkung entwickeln. In diesem Kontext verdienen Dietrich Bonhoeffer und seine Gedanken aus “Widerstand und Ergebung” besondere Beachtung, insofern sein Fall zum Test und zur Diagnose von Kirche und Glauben geworden ist, wie die Aktualität, Wirkung und Rezeption seines Buches gezeigt haben. Worin diese Aktualität liegt, woran seine Wirkung abzulesen ist und warum die Rezeption so verläuft – all diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Dietrich Bonhoeffers “Widerstand und Ergebung” zählt zu den meist gelesenen theologischen Büchern des XX. Jh. Die Popularität des Buches hängt sicherlich nicht allein mit den Gedanken Bonhoeffers, sondern auch und vor allem mit Bonhoeffers tragischem Schicksal zusammen. Es besteht aber auch die Gefahr, aus Bonhoeffer eine modische Kitsch-Ikone zu machen: Ihn zitiert George W. Bush als Kronzeugen für den Irak-Krieg, Papst Benedikt der XVI. zählt Bonhoeffer zu seinen drei besten Vorbildern,3 die Süddeutsche Zeitung wie auch Bischof Wolfgang Huber sehen ihn als einen evangelischen Heiligen4 an. Es gibt auch Leute, die Bonhoeffer als Vorfahren der Postmoderne5 oder als Initiator einer neuen theologischen Richtung verstehen wollen. Er wird sowohl von liberalen als auch von konservativen Theologen zitiert. Über Bonhoeffer werden Filme gedreht, Bücher geschrieben. Man kann geradezu vom “Phänomen Bonhoeffer” reden, dessen Phänomenalität angesichts der Wiederkehr der Religion samt ihrer Probleme unsere Aufmerksamkeit verdient, um vielleicht die eine oder andere Einsicht im Blick auf die gegenwärtige Situation von Christentum und Kirche zu bekommen.

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Dietrich Bonhoeffer stammte aus einer wohlhabenden und gebildeten Familie. Sein Vater war ein berühmter Professor für Psychiatrie und Neurologie, seine Mutter Lehrerin. Der außergewöhnlich begabte Sohn Dietrich machte eine vielversprechende akademische Kariere: Mit einundzwanzig war er schon promovierter Theologe, mit vierundzwanzig habilitierte er sich. Die umstrittensten Theologen seiner Zeit hatten Einfluss auf ihn – der “liberale” Adolf von Harnack, der “dialektische” Karl Barth und der “existenzialistische” Rudolf Bultmann. Aber trotz der beeindruckenden theologischen Ansätze der Genannten ging Bonhoeffer seinen eigenen Weg. Seine verschiedenen Reisen und Aufenthalte in Barcelona, Rom, New York und London, seine breiten und vielfältigen wissenschaftlichen Interessen, der ausgeprägte Sinn für Kunst und Musik unterschieden ihn vermutlich von den meisten seiner Kollegen, deren Welt oft nur auf denen von Theologie und Kirche fixierten Fragen begrenzt war. Die Texte von “Widerstand und Ergebung” bezeugen, dass ihr Verfasser eine tiefe, bunte und widersprüchliche Persönlichkeit war. In ihr kamen scheinbar nur schwer zu vereinbarende Persönlichkeitszüge zusammen: aufrichtiger und ernster Glaube mit sarkastischer Antireligiosität, Offenheit und Liebe zur Welt mit Betonung des Christus als einziger Autorität, bewußter Pazifismus mit der Teilnahme an der Verschwörung gegen Hitler, Askese und geistiger Ernst mit verschiedenen Leidenschaftlichkeiten, eine auch seine Mitmenschen tragende innere Ruhe und Kraft mit Anfällen von Angst, Zweifel und Schwäche. Bonhoeffer war – wie wir in “Widerstand und Ergebung” erkennen können – ein lebendiger und kompromissloser Mensch. Während des Nationalsozialismus wurde Bonhoeffer aktives Mitglied der Bekennenden Kirche, die Widerstand gegenüber dem Naziregime leistete. Doch am Ende war er von ihr und ihrem Widerstand enttäuscht. Für den überzeugten Pazifisten war die Teilnahme an der Verschwörung gegen Hitler keine einfache Entscheidung: Bonhoeffer wußte genau, dass ein Mord, auch wenn es ein Tyrannenmord ist, eine Übertretung des Gottes- und Liebesgebots darstellt, das im Zentrum der Verkündigung Jesu steht. Die Teilnahme an der Verschwörung bedeutete zugleich auch einen Bruch mit der Lehre des lutherischen Protestantismus, nach der jede Regierung (vgl. Röm.13,1ff.) als von Gott eingesetzt verstanden worden war. Das dritte Reich war in Augen der Kirche zwar eine entstellte Ordnung, aber dennoch war man seiner Regierung als einer von Gott eingesetzten Gehorsam schuldig. Von daher ist es zu erklären, dass Bonhoeffer noch lange nach dem Ende des Krieges von lutherischen Bischöfen für einen “Verräter” gehalten wurde. Sie waren der Meinung, die Kirche könne die damalige Verschwörung gegen Hitler niemals gutheißen. Es ist bemerkenswert, dass Bonhoeffer selbst seine Entscheidung in “Widerstand und Ergebung” nirgendwo zu rechtfertigen versucht. Offensichtlich hielt er sie für seine persönliche Gewissensentscheidung, für die er auf die Gnade Gottes hoffte.

“Widerstand und Ergebung” stellt die Gedanken Bonhoeffers aus den letzten Jahren seiner Haftzeit vor seiner Ermordung dar. Diese Briefe und Aufzeichnungen waren nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht oder für eine elitäre Theologie geschrieben. Wir lesen sie als sehr persönliche Gespräche mit einem Freund, auch als Selbstgespräche oder einfach als Worte, die ihn bewegten. Später sind diese sehr verschiedenen Texte – Briefe, Gedichte, Predigten, Ansätze zum theologischen Traktat – in einem Buch zusammengefügt worden, das als einheitliches Zeit- und Schicksalszeugnis gelesen werden kann. Nichtsdestoweniger bleibt das Buch vielschichtig: es ist ein Zeugnis einer bewegten Freundschaft, eine Darstellung der sozialen, politischen, historischen Verhältnissen in einer bestimmten Epoche und Situation, ein Glaubenszeugnis, das sich den theologischen Herausforderungen der Zeit öffnet. Vermutlich nur angesichts des unausweichlichen Schicksals können solche offenen und echten Texte geschrieben werden und vermutlich ist dies der Grund, warum sie so breite Aufmerksamkeit gefunden haben. Hier gibt es keinen moralisierenden Ton, nichts von dem schon fast üblich gewordenen intellektuellen Zwiespalt, bei dem man innerhalb von Theologie und Kirche anders von Gott redet als zu den “Massen”, keine theologischen Klischees, die schon seit langem zur Inflation der Worte geführt haben. Obwohl Bonhoeffer sich auf die Autorität der Bibel beruft, ist sein Blick nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft gerichtet. Mit offenen Augen schaut er auf die reale Welt, lässt sich dabei nicht von den zum Selbstzweck gewordenen Ideen, Institutionen und Dogmen ablenken. Im Blick hat er den konkreten Menschen mit seinen Schwächen und Stärken und seine konkrete geschichtliche Situation und er scheut nicht davor zurück, die wirklichen Herausforderungen zu nennen. Er redet von der Existenz des Menschen ohne Gott, von der Illusion einer jenseitigen Erlösung, und von der mündig gewordenen Welt. Doch nirgendwo erhebt er Anspruch auf die endgültige Wahrheit, seine Überlegungen bleiben offen und fragmentarisch, oft beendet Bonhoeffer seine Gedanken mit den Worten “darüber werden wir noch zu reden haben”.

Das 1951 erschienene Buch hat das Bild des frühen Bonhoeffers korrigiert. Es hat widersprüchliche Reaktionen hervorgerufen: Zu schmerzlich erschien hier manches für Kirche und Welt, zu schockierend manche theologischen Gedanken, zu klein die historische Distanz, um auf all das ruhig reagieren zu können. Eberhard Bethge gibt in seiner Biographie Bonhoeffers die Worte des großen Theologen Barth wieder, nach denen “der einsame Häftling möglicherweise, um irgendein Eck herum gesehen, etwas Rechtes erspäht haben möge, doch die ‘Änigmatik’ überwiegt und man möge sich besser an den früheren Bonhoeffer halten”.6 Vergleicht man jedoch “Widerstand und Ergebung” mit den frühen theologischen Texten Bonhoeffers, stellt sich heraus, dass zwischen diesen Texten eine enge Verbindung und Kontinuität besteht und dass sich manche seiner schockierenden Gedanken bis in den Wortlaut hinein schon in den frühen Schriften entdecken lassen. Und doch ist Bonhoeffer in “Widerstand und Ergebung” nicht derselbe geblieben. Die Veränderungen in seinem Denken hängen mit den Erfahrungen seiner letzten Jahre in der Gefangenschaft zusammen. In seiner Ethik konnte er 1943 noch schreiben: “Das Christliche … besteht darin, dass der Mensch als Mensch vor Gott leben darf und soll.” 1944 schreibt er paradox klingende Worte, die auf eine wesentliche Änderung seines theologischen Denkens hinweisen: “Vor und mit Gott leben wir ohne Gott”. Das ist nicht Ausdruck einer Wahnvorstellung eines aufgrund einer extremen Situation psychisch belasteten Menschen, sondern klares Begreifen der realen Situation. Bonhoeffer war enttäuscht auch über das Versagen der Bekennenden Kirche angesichts der konkreten Herausforderungen. Ihr zögerliches Verhalten stellte in seinen Augen ihr Kirchesein in Frage: Denn Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist.

Welche Einsichten aus “Widerstand und Ergebung” sind für uns heute im Kontext der wiederkehrenden Religiosität und schwindenden Kirchlichkeit aktuell und möglicherweise weiterführend? Ich wende mich den theologischen Grundgedanken Bonhoeffers in “Widerstand und Ergebung” zu, die m.E. heute noch dringlicher klingen als zur Zeit ihrer Entstehung.

3

Ausgangspunkt und Gravitationszentrum seines Denkens ist die Frage, wer oder was für uns heute Christus ist. Antworten auf diese Frage sucht Bonhoeffer nicht in biblischen Zitaten oder dogmatischen Formeln, sondern in der kritischen Analyse der Wirklichkeit und in der geschichtlichen Situation des Christentums. Er stellt fest, dass die Welt mündig geworden ist und dass der Mensch sein Leben auch ohne Gott leben und regeln kann. In der gegenwärtigen Situation hat die traditionelle Verkündigung keine Wirkung mehr. Er kritisiert die Kirche, weil sie religiöse Erpressung als Selbstrettungsmittel praktiziert: Der Mensch wird in der Stunde der Schwäche religiös vergewaltigt oder mit Gott werden die Lücken des Wissens gefüllt: “Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen”.7 Nach Bonhoeffer widersprechen alle Versuche, die Welt zu überzeugen, dass sie ohne Gott nicht leben kann, dass es “letzte Fragen” wie Tod und Schuld gibt, auf die nur Gott antworten kann und dass deswegen Kirche und Pfarrer nötig sind, oder auch die Versuche, einem glücklichen Menschen zu beweisen, dass er in Wirklichkeit unglücklich und verzweifelt ist, – sie alle widersprechen der Christlichkeit und der Bibel. Nach der Bibel wird das ganze menschliche Leben in allen seinen Erscheinungen von Gott in Anspruch genommen.

Bonhoeffer unterscheidet eine Religiosität, die die Welt in zwei Teile, in eine diesseitige und in eine jenseitige, teilt, sich an der individuellen Erlösung der Seele orientiert und damit immer ein partieller Akt bleibt, vom Glauben, der den ganzen Menschen mit seiner ganzen Existenz umgreift. Glauben lernen kann man erst, wenn man lernt, an die volle Diesseitigkeit des Lebens zu glauben. Indem Bonhoeffer Glauben von Religion unterscheidet, kritisiert er den antibiblischen Dualismus, der in das Christentum aus der Metaphysik eingedrungen ist. Dieser Dualismus trennt Gottes- und Menschenwelt und richtet den Blick einseitig auf ein Leben nach dem Tode. Die Diesseitigkeit ernst zu nehmen, bedeutet jedoch nicht den Verlust von Transzendenz: Der jenseitigen transzendenten Macht stellt Bonhoeffer die diesseitige Macht der Transzendenz entgegen, die in Jesu Dasein für andere zum Ausdruck kommt – das Kriterium, mit dem die Christlichkeit des Menschen zu bewerten ist: “Unser Verhältnis zu Gott ist kein ‘religiöses’ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz – , sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‘Dasein-für-andere’, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente”.8

Gott wird jedoch nicht einfach in der Diesseitigkeit aufgelöst. Paradoxer Weise hilft uns gerade die Erfahrung seiner Abwesenheit, seine Schwäche und Not: “Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns”.9 Das Wesen des Glaubens besteht nach Bonhoeffer darin, in der Welt lebend am Leiden Christi teilzunehmen. Darum kann auch diese Diesseitigkeit nicht vom Verständnis des Todes und der Auferstehung getrennt werden. Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes wird damit zur Erfahrung der Transzendenz: Vor und mit Gott leben wir ohne ihn, im Zentrum des Lebens erfahren wir ihn als Jenseitigen.

Religiöse Restauration in einer Welt, die mündig geworden ist und ohne Gott leben kann, wäre unchristlich und intellektuell unehrlich. Gott als moralische, politische und wissenschaftliche Hypothese hat nach Meinung Bonhoeffers ausgedient und wird heute nicht mehr gebraucht. Er ist ebenfalls als philosophische und religiöse Hypothese abgelehnt. Darum will Bonhoeffer die biblischen Begriffe einer nichtreligiösen Interpretation unterziehen. Dieses am stärksten umstrittene theologische Programm hat Bonhoeffer leider nicht mehr ausarbeiten können. Diesbezüglich haben wir nur einige wenige Bemerkungen, auf die wir uns jedoch berufen können. Bonhoeffer akzeptiert die Kritik Barths an der Religion, lehnt jedoch seinen Offenbarungs-Positivismus ab. Von Bultmann akzeptiert er seine Hermeneutik, kann aber mit seinem Entmythologisierungsprogramm nichts anfangen. Dem Barth’schen Offenbarungs-Positivismus folgend ist die Bekennende Kirche in eine konservative Restauration geraten. Bultmann ist mit seinem Entmythologisierungsprogramm nicht zu weit gegangen, wie viele das meinen, sondern nicht weit genug: “Mythologisch” sind nicht nur offenbar mythische Begriffe wie Wunder, Himmelfahrt, etc., sondern auch grundlegende theologische Begriffe wie Gott, Glaube, Auferstehung. Alle diese Begriffe müssen bleiben, denn das Neue Testament ist nicht eine mythologische Einkleidung der Wahrheit, sondern diese Mythologie ist die Sache selbst.” Statt der liberalen Interpretation Bultmanns will Bonhoeffer theologisch denken, d.h. die neutestamentlichen Begriffe nicht-religiös interpretieren. Was aber heißt nicht-religiös? Unter einer religiösen Interpretation versteht Bonhoeffer jedes metaphysische und individualistische Reden. Deswegen kritisiert er das Christentum, das die Geschichte Christi mit Erlösungsmythen in einen Zusammenhang gebracht hatte, die ausschließlich auf die Überwindung der jenseitigen Grenze des Todes gerichtet waren. Moltmann bemerkt diesbezüglich, dass Bonhoeffers Treue für die diesseitige Welt geradezu revolutionär genannt werden muss.10 Die eigentliche christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich nach Bonhoeffer von den mythischen vor allem darin, dass sie den Menschen “in ganz neuer und gegenüber dem A.T. noch verschärfter Weise an sein Leben auf der Erde verweist.” Die heutige Bedeutung der Religion sieht Bonhoeffer in einer Analogie zur Bedeutung der Beschneidung bei Paulus – sie bildet nicht mehr die Bedingung des Heils. Die Bibel konzentriert ihren Blick auf die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden: “Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetze gefaßt, versöhnt und erneuert wird, geht es doch. Was über diese Welt hinaus ist, will im Evangelium für diese Welt da sein; ich meine das nicht in dem anthropozentrischen Sinne der liberalen, mystischen, pietistischen, ethischen Theologie, sondern in dem biblischen Sinne der Schöpfung und der Inkarnation, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi”.11 Christus stellt für Bonhoeffer kein Objekt der Religion oder des Kultus dar – dies wäre für ihn ein Götzendienst. In diesem Zusammenhang scheut er nicht, das Wort Nietzsches vom Nihilismus aufzunehmen, das für viele wie Ablehnung des Christentums klingt: “Götzen werden angebetet und Götzendienst setzt voraus, dass Menschen überhaupt noch etwas anbeten. Wir beten aber gar nichts mehr an, nicht einmal Götzen. Darin sind wir wirklich Nihilisten”.12 Christus ist für Bonhoeffer der Herr der Welt, dessen Herrschaft sich aber von den klerikalisierten und hierarchisierten Herrschaftsformen der Institutionen dadurch unterscheidet, dass sie nur durch Ohnmacht, Dienst und Kreuz ausgeübt wird.

Die nichtreligiöse Interpretation bedeutet jedoch nicht, dass Gebet, Wort und Sakrament einfach durch den Dienst der Liebe ersetzt werden. Im Gegenteil, mit der Vorstellung von einer Arkandisziplin, die in antiken Mysterienkulten Praxis des Geheimhaltens und Schweigens gegenüber der Außenwelt bedeutete, will Bonhoeffer die Glaubensgeheimnisse vor der Profanisierung schützen. Bei der Verkündigung des Wortes lehnt er die Propagierung des Kultes und jeden missionarischen Eifer ab. Der Glaube gehört zum Geheimnis des Heiligen Geistes, einem Geheimnis, das sich jeder Propaganda und allen Kunstgriffen entzieht.

Die auffälligen Hauptakzente der theologischen Gedanken aus “Widerstand und Ergebung”, die sich als Überlegungen zu den neuen theologischen Ansätzen verstehen lassen, basieren auf drei Themen bzw. Entdeckungen: 1. Die Erfahrung, dass das Kreuz Christi das Ende der transzendenten Macht Gottes bedeutet, die sich gewaltsam in die Welt einmischt; 2. der Abkehr von einer metaphysischen zwei Welten-Logik und die Hinwendung auf das diesseitige Leben; 3. das Dasein für den Anderen – sowohl individuell als auch institutionell.

4

Betrachten wir Bonhoeffers Schicksal in einer geschichtlichen Perspektive, so fallen einem Züge auf, die ihn in eine Reihe mit alttestamentarischen Propheten, mit Jesus und einigen bedeutenden Gestalten des Christentums treten lassen – beispielsweise mit Paulus, Luther oder auch Kierkegaard: Sie alle haben gegen eine etablierte religiöse Praxis protestiert, die zum Selbstzweck oder zum Mittel der Machtausübung geworden ist. Heute können wir einen paradoxen und zweideutigen Prozess beobachten, in dem aus Bonhoeffers Opposition gegenüber einem selbstbezogenen Kultus ein Bonhoefferkult gemacht wird. Seine Verehrung als Heiliger, das Zitieren seiner Texte als seien sie kanonisch – die Heiligen werden nicht studiert, sondern verehrt – das alles begräbt leise und sicher, worauf Bonhoeffer selbst aus war: auf eine echte Erneuerung des Christentums. Und wenn es üblich geworden ist, zu sagen, dass Bonhoeffer zu einer Herausforderung für das Christentum geworden ist, dann ist es wichtig, diese Herausforderung konkret zu buchstabieren, statt nur pathetisch über sie zu reden. Angesichts der heute wiederkehrenden Religiosität und der fortschreitenden Entkirchlichung sind Bonhoeffers Gedanken nicht nur zu studieren, sondern es muss darum gehen, dass wir seine Sehens- und Denkweise zu kritisieren lernen. Das heißt m.E. vor allem, der Wirklichkeit offen zu begegnen. Das Schicksal Bonhoeffers hat schmerzlich gezeigt, dass sich hinter einem blinden Folgen traditioneller Glaubensdogmen und Normen, ja sogar hinter der Berufung auf die Schrift ein bequemer Konformismus verstecken kann. Es ist ein trauriges Paradox, dass mit dem Wiederholen der Evangelienworte das Evangelium selbst begraben werden kann. In Bonhoeffers Überlegungen in “Widerstand und Ergebung” zeichnet sich ein neuer Ansatz hinsichtlich des Verständnisses des Evangeliums ab; eines Evangeliums, dessen Verkündigung nicht die Wiederholung und Befolgung von biblischen Aussagen meint, die als ewig geltende Wahrheit verstanden werden, sondern dem es vor allem auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch oder zwischen Mensch und Mensch ankommt.

Betrachtet man die gegenwärtige Situation der Kirche und des Christentums, kann trotz der unterschiedlichen Situationen in den Ländern gesagt werden, dass die von Bonhoeffer erhoffte Erneuerung der Kirche nicht stattgefunden hat. Seine Kritik, obwohl sie häufig zitiert wird, bleibt meistens im Nebel der Rhetorik stecken. Die Unfähigkeit, der Realität in die Augen zu schauen und auf sie zu reagieren, wird mit dem Hinweis auf Pseudoprobleme verdrängt. Die Unfähigkeit, die Sprache der Zeit zu sprechen, wird öfters durch die Entgegensetzung von Säkularität und Heiligkeit oder auch durch Dämonisierung der Wissenschaften versteckt.13 Noch immer gibt es die von Bonhoeffer kritisierte religiöse Erpressung, bei der alle menschlichen und kulturellen Schwächen ausgenützt werden, um der Machterhaltung der Institution willen. Und oft stellt sich beim Hören auf eine Verkündigung in der Sprache vergangener Zeiten schließlich die Frage, inwiefern die Kirche selbst noch die Sprache, in der sie redet und sich mit anderen zu verständigen versucht, versteht. Es scheint, dass hier eine tiefe Verlegenheit herrscht, aus der man sich oft nur durch die extensive Restauration des Kultus zu retten versucht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die Spezialisten des traditionellen kirchlichen Marktes nur auf bestimmte Bevölkerungsgruppen – überraschend ähnlich wie die der Sekten – konzentrieren: auf Ungebildete, kulturell Suchende oder Verlorene und psychisch Gebrochene. Zu nennen wäre hier noch eine Sondergruppe von Menschen, die, in dem sie in ihrer Rhetorik ein Wort durch ein anderes ersetzt haben (z.B. Gott statt Partei, Jesus und Paulus statt Marx und Lenin), fähig sind, sich an alle möglichen Bedingungen anzupassen und sich dabei selbst treu zu bleiben.

Das Bedrängende der gegenwärtigen Situation des Christentums besteht vor allem darin, dass spätestens nach dem Holocaust die Kirche – wie sie heute vor der Öffentlichkeit steht – nicht einmal mehr als die Hüterin der Moral und der Werte auftreten kann – die letzte ihr gebliebene Funktion, die noch von vielen gerne an die Kirche delegiert wird. Trotz allen Entschuldigungen für die im Laufe der Kirchengeschichte gemachten Greueltaten hat die christliche Kirche bis jetzt noch nicht theologisch ernst, tief und offen all die Ursachen analysiert und Rechenschaft darüber abgegeben, wie es geschehen konnte, dass die Verkündigung des Evangeliums praktisch in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Ohne eine solche Rechenschaft wird die Kirche auch weiterhin an Glaubwürdigkeit verlieren, wie der nicht aufhörende Prozess der Entkirchlichung einerseits und die wiederkehrende Religion in radikalen, oft heimlich fundamentalistischen Formen andererseits zeigt. Mit Bonhoeffer bleibt zu fragen, ob und wie das Christentum und die traditionelle Kirche noch Zukunft haben kann und wie diese Zukunft aussehen soll.

Thomas Luckmann, The Invisible Religion, 1967.

Vgl. Gianni Vattimo, Das Zeitalter der Interpretation, in: Richard Rorty, Gianni Vattimo, Die Zukunft der Religion, 2006, 49-63.

Vgl. Delf Bucher, Ein Unbequemer als Kitsch-Ikone?

Vgl. Wolfgang Huber, Dietrich Bonhoeffer -- ein evangelischer Heiliger.

Vgl. Andreas Fischer, Bonhoeffer -- Ein V-Mann Gottes.

Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1989, 997.

Dietrich Bonhoeffer, Wiederstand und Ergebung, München 1951, 134f.

Ebd., 191f. Später hat Emanuel Levinas ein vergleichbares Verständnis von Transzendenz entwickelt, in dem er das Transzendente im Gesicht des Anderen sah.

Ebd., 178.

Vgl. Moltmann, Gegen die Verächter des Leibes.

WE, 137.

WE, 166.

Intellektuelle Unredlichkeit findet sich meistens im postkommunistischen Kontext, wo durch Verfolgung der Kirche und Abschaffung der Möglichkeiten des freien Studiums der Theologie eine etwas andere Situation als im Westen entstanden ist.

Published 13 August 2008
Original in Lithuanian
Translated by Tomas Kiauka
First published by Kulturos Barai 4/2008

Contributed by Kulturos Barai © Tomas Kiauka / Kulturos Barai / Eurozine

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