Shooting Pictures

Am Beispiel des berühmten Kriegsfotografen James Nachtwey geht Hans Durrer der Frage nach, inwieweit Kriegsfotografie moralisch vertretbar ist.

Zwei Jahre lang hat Christian Frei den Fotografen James Nachtwey mit einer Filmkamera begleitet: in den Kosovo, nach Indonesien und nach Palästina. Auf Nachtweys Fotokamera wurden zudem zwei Mini-Fernsehkameras installiert, so dass der Zuschauer dabei ist, wenn die Fotos entstehen, und sieht, was der Fotograf sieht.

Im Kosovo: eine schreiende Frau. Umstehende versuchen, sie zu beruhigen. Sie hat, so ist zu vermuten, gerade erfahren, dass ihr Sohn?, Ihr Mann? aus einem Massengrab freigeschaufelt?, getötet wurde? Wir wissen es nicht. Auch wissen wir nicht, ob der Fotograf es weiß. Wir sehen, was der Fotograf sieht: eine Frau, die schreit; ihr schmerzverzerrtes Gesicht; Frauen, die sie zu beruhigen versuchen. Nachtwey geht immer näher ran. Zielt auf das Gesicht der Frau. Und drückt ständig auf den Auslöser. Wie bringt er das fertig? Ist es ihm nicht peinlich, bei diesem Schmerz, der nicht seiner ist, zugegen zu sein?

James Nachtwey ist ein schlanker, gutaussehender, ruhiger, zurückhaltender, wortkarger Typ, Anfang fünfzig. So jedenfalls wirkt er in diesem Filmporträt.

Was er tut, ist moralisch nicht zu rechtfertigen. Das weiß jeder, dessen Instinkte halbwegs intakt sind. Und das weiß auch James Nachtwey. Weshalb er auch sagt, dass er ohne Respekt seine Arbeit nicht tun könnte. Als er das sagt, zeigt ihn die Kamera, wie er auf Leute auf einer Wiese (wo gerade jemand beerdigt worden ist) zugeht, ihnen die Hand gibt, sich leicht verneigt, Respekt zeigt. Erst dann beginnt er seine Fotos zu schiessen.

Heisst das, dass auch massive Eingriffe in die privateste Sphäre durchaus in Ordnung sind, sofern man nur Respekt zeigt? Natürlich nicht. Und überhaupt: Wo zeigte sich Nachtweys Respekt, als er die weinende und vor Schmerz schreiende Kosovarin ablichtete? Wie hätte er ihn in dieser Situation überhaupt zeigen sollen? Seine Aufgabe als Fotograf ist doch, so nahe wie möglich ans Geschehen zu kommen, um so besser seine Fotos schießen zu können. Da bleibt keine Zeit für Respektsbezeugungen.

Und doch ist Respekt zu zeigen unabdingbar. Das merken wir dann am besten, wenn wir jemandem dabei zuschauen können, der es an eben diesem Respekt vollkommen fehlen lässt
Dem Modefotografen Michel Comte, zum Beispiel. Ein Filmporträt im Schweizer Fernsehen in den späten 90er Jahren zeigte wie dieser, sich dabei hektisch verrenkend, über einen geteerten, umgitterten Platz in einer Großstadt (war es New York?) rannte, gleichzeitig den dort auf ihren Auftritt wartenden Models atemlos Anweisungen zurief und dabei ununterbrochen auf den Auslöser seiner Kamera drückte. Diese ihm eigene Form der Annäherung praktizierte er in etwas abgewandelter Form (ohne die Zurufe) auch in Haiti, wo er für die Organisation “Terre des Hommes” fotografierte – die Leute in dem Slum guckten (wenn sie denn überhaupt guckten) fragend, doch nicht besonders interessiert. In einer Szene, hämmerte er mit seinen Fäusten an die Türe einer Hütte. Als die Türe schließlich von einem jungen Mädchen geöffnet wurde, begann er, ohne jede Vorwarnung, sofort auf den Auslöser seiner Kamera zu drücken. Das Mädchen, verwirrt und mit dem linken Arm sein Gesicht schützend, versuchte sich aus der Schusslinie zu bringen. Comte erklärte später, dass die besten Fotos immer die seien, bei denen die Leute überrascht worden seien.

Comte ist der klassische Fall des Fotografen, für den nur das Resultat zählt. Seine Bilder sind gefragt, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz machte ihn zum Creative Director – eine der gängigen Erfolgsgeschichten, nicht belastet von Skrupeln über die Wahl der Mittel.

Doch da gibt es auch die Realität des “Terre des Hommes”-Arztes, der bei dem Comte’schen Foto-Shooting in Haiti mit dabei war. Er sei schockiert, sagte er, da habe einer in kürzester Zeit die Arbeit von ein paar Jahren zerstört.

Nachtwey begreift sich als Aufklärer. Sich mit dem menschlichen Elend zu konfrontieren, genau hinzuschauen, findet er notwendig. Und wer möchte ihm da nicht beipflichten? Die Wahrheit soll uns freimachen, heisst es. Und um die Wahrheit zu erkennen, muss man genau hinschauen. Und das, nehmen wir an, tut James Nachtwey.

Guckt er wirklich genau hin? Im Filmporträt jedenfalls hatte man den Eindruck, da bewege sich einer recht angespannt durch die Gegend, immer davor Angst habend, es könnte ihm etwas entgehen. Den Finger am Auslöser versuchte er, ständig auf dem Sprung, obsessiv, ja getrieben, der Gegenwart ein paar Augenblicke zu entreissen.

Genaues Hingucken ist etwas anderes, man braucht dafür Zeit, und Geduld, es ist gleichsam ein meditativer Akt. Genaues Hingucken bedeutet, sich dem Augenblick zu öffnen, für diesen bereit zu sein. Der Schriftsteller Christopher Isherwood drückt es folgendermaßen aus:”I am a camera with its shutter open, quite passive, recording, not thinking”.

Arbeitet jemand, wie Nachtwey das häufig tut, im Krieg, ist für kontemplatives Hingucken, für das Warten, das sich Annähern, das Sich-Bereit-Machen für den in Henri Cartier-Bressons Worten “decisive moment” keine Zeit. Da dröhnt es, und knallt es, da geht es hektisch zu. Abdrücken, schnell, schnell, und los, in Deckung. Man ist näher beim Tod, und damit näher am Leben, und es ist nicht zuletzt dieser Kick, der einen Fotografen sich in solche Gefahren begeben lässt.

Das in solch angespannten Situationen mechanische Betätigen des Auslösers hat zur Folge, dass viele Bilder entstehen, die der Fotograf selber gar nie richtig gesehen hat. “The pictures I kept mechanically taking would later substitute for the events my memory could not recall”, schreibt Greg Marinovich in The Bang Bang Club(!).

Die Vorstellung also, dass der Fotograf auswähle, durch den Sucher blicke, wiederum wähle und dann auf den Auslöser drücke, erweist sich oft als unzutreffend. Bei vielen, und oftmals beeindruckenden, Aufnahmen, beschränkt sich seine Rolle darauf, den Auslöser zu betätigen – ohne überhaupt zu sehen, was er aufnimmt. So sind zum Beispiel Michael von Graffenried bemerkenswerte Bilder vom Alltagsleben im algerischen Bürgerkrieg geglückt, indem er eine Kamera mit einer 150 Grad Panoramalinse benutzte, die ihm erlaubte, unbemerkt aus Hüfthöhe zu schiessen.

Der britische Fotograf Don McCullin beschrieb in seiner Autobiografie wie er während des Zypern-Konfliktes in den 60er Jahren ein Haus betrat und dort drei tote Männer vorfand, von denen er Fotos machte, als plötzlich die Türe aufging und Leute hereinkamen, unter ihnen eine junge Frau, die, wie er später erfuhr, die Ehefrau eines der drei Männer war – sie waren nur gerade ein paar Tage verheiratet gewesen:
Er fühlt sich ertappt, ihm ist nicht wohl und auch bewusst, dass er Grenzen überschritten, die er nicht hätte überschreiten dürfen, dass er eingedrungen, wo er nicht hingehört. Er versucht sich herauszureden, linkisch – er bitte um Vergebung, er sei von einer Zeitung und könne nicht glauben, was er hier sehe.

Er deutet auf die Hand, in der er seine Kamera hält, um Erlaubnis bittend, die Tragödie aufzeichnen zu dürfen, als einer der älteren Männer sagt, er solle seine Bilder machen … “Sie wollten, dass ich sie machte…”

Wollten sie es, oder liessen sie ihn einfach? Wahrscheinlicher ist, dass sie es weder wollten noch nicht wollten, sie in dieser Situation anderes im Kopf hatten, sie ganz von ihrem Schmerz beherrscht waren, sich nicht mit ihm beschäftigen, ihn ganz einfach aus dem Weg haben wollten.

Im normalen Leben sei es nicht möglich, dass man einfach zu trauernden Leuten nach Hause gehe und dort zu fotografieren anfange, sagt Nachtwey. Im Krieg sei das anders. Die Leute akzeptierten ihn, sie wollten, dass er ihr Sprachrohr sei, eine Stimme, die sie sonst nicht hätten.
Da sind zumindest Zweifel angebracht. Hat er die Leute gefragt? Haben sie es ihm von sich aus gesagt?

Als ein Mob einen Mann im indonesischen Ambon durch die Strassen hetzt, ihn mit Messern und Säbeln zu Tode sticht, sind auch Fotografen vor Ort. Sie halten sich zurück, fotografieren aus sicherer Distanz. Nicht so James Nachtwey. Ganz nahe geht er ran, lässt sich auf seine Hände und Füsse nieder, bittet um das Leben des Mannes. Es ist dies auch seine Sache, wie alles, findet er, auch seine Sache ist. Man hört nicht auf ihn.
Das Bild, das sich uns einprägt, das uns nicht mehr loslässt, zeigt einen jungen Mann (ein Moslem, wie die Bildlegende sagt) in der Hocke, der, umringt von anderen Männern, einem am Boden liegenden Christen den Dolch an die Gurgel hält, bereit und entschlossen, ihm die Kehle durchzuschneiden, und dabei in die Kamera schaut. Was auch immer in diesem Augenblick in James Nachtwey vorgegangen sein mag, Gedanken über Ethik werden es kaum gewesen sein.

Aufnahmen von Hungernden in Afrika, zu Skeletten abgemagert. Man müsse wissen, sagt Nachtwey, dass Fotos von Hungernden dort aufgenommen würden, wo auch Essen verteilt werde. Sie, die Fotografen, würden keine Fotos von an Hunger Sterbenden machen, würden sich nicht einfach umdrehen und davongehen.

Es bleibt ein Unbehagen. Nicht nur beim Betrachter, der sich fragen mag, wie es nur möglich ist, als Voyeur des Elends sein Geld zu verdienen. Das beschäftigt auch James Nachtwey. Das Schlimmste sei, sagt er, dass er als Fotograf vom Unglück anderer profitiere. Dieser Gedanke verfolge ihn. Und von neuem sagt er, dass er ihm nur dadurch begegnen könne, indem er den Leuten, mit denen er zu tun habe, Achtung entgegenbringe. Es klingt hilflos, Und gleichzeitig beschwörend. Als ob er sich selber überzeugen wolle. Man hat den Verdacht, es gelinge ihm nicht immer.

Das Unbehagen bleibt. Doch es gilt nicht nur dem Fotografen, es gilt dem dokumentierten
Elend. Wir fühlen uns nicht wohl in unserer Haut, wenn wir solche Bilder betrachten, sie an uns heranlassen. Wir wollen nicht erinnert werden, dass da jemand sich in solch einer Situation befunden und nichts anderes getan, als zu fotografieren (auch wenn er dann manchmal doch auch Hilfe leistet). Anstatt einzuschreiten, anstatt zu helfen. Wir werfen es ihm vor, weil wir es uns selber vorwerfen. Wir, die wir anstatt etwas zu tun (nein, wir wissen auch nicht so genau was), uns des Fotografen Bilder anschauen.

Sicher ist dies:
Der Fotograf, der sich entschieden hat, seinen Lebensunterhalt als Kriegsreporter zu verdienen, hat sich eine undankbare Aufgabe gestellt – er ist mit dabei, doch er gehört nicht dazu. Ganz vorne (im Gegensatz zu seinem schreibenden Kollegen) und mittendrin muss er sein, allerorten steht er im Weg, stört er. Er ist nicht willkommen, man begegnet ihm, bestenfalls, mit Skepsis, häufiger jedoch mit Feindseligkeit. Larry Burrows, der 1971 bei einem Helikopterabsturz in Vietnam ums Leben kam, beschrieb es so: “They look up from their dying friends and see me shooting pictures. They feel that I’m capitalising on their misery and get very angry.”

Das war nicht immer so. Das Militär hatte früh begriffen, dass Fotos zu Propagandazwecken eingesetzt werden konnten; bereits im Ersten Weltkrieg gab es bei den kämpfenden Truppen auch Fotografen. Deren Aufgabe war keineswegs, ein ungeschminktes Bild des Krieges zu liefern, sondern die eigenen Männer im besten Licht zu zeigen: bei Truppeninspektionen, bei Paraden, beim siegreichen Einmarsch in eine eroberte Stadt.
Das Verhältnis von Militär und Fotografie war lange Zeit ein freundliches. So publizierten etwa die amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften im Zweiten Weltkrieg generell Fotos, die mit der amerikanischen Seite sympathisierten.

Das änderte sich dramatisch im Vietnamkrieg: das Militär begann Fotografen, ja Journalisten ganz allgemein, zunehmend als Feinde zu sehen, da ihre Fotos und Berichte den offiziellen Verlautbarungen oft widersprachen. Trotzdem geschah es nur selten, dass einem Journalisten das Einreisevisum nach Südvietnam (die Voraussetzung für die Akkreditierung, die ihm die volle Kooperation und Hilfe der Militärs bei der Erfüllung seines Jobs garantierte), verweigert wurde.

Die Freiheit, welche die Reporter in Vietnam genossen, zog auch viele an, die, wie Hemingway, dazu tendierten, den Krieg zu romantisieren. Das sei keineswegs überraschend, schrieb Nora Ephron 1973 im New York Magazine, denn “unlike fighting in the war itself, unlike big-game hunting, working as a war correspondent is almost the only classic male endeavor left that provides physical danger and personal risk without public disapproval and the awful truth is that for correspondents, war is not hell. It is fun.” Etwas direkter formulierte es der damalige Associated Press Fotograf in Saigon, Horst Faas: “What I like is boom boom. Oh yes.”

Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die feindselige Haltung gegenüber den Medien im Ersten Golfkrieg. Die Militärs hatten ihre Lektion gelernt, die freie Berichterstattung à la Vietnam gehörte der Vergangenheit an, jetzt galten Zensur und Kontrolle – und diese war dermassen wirksam, dass bis heute kaum jemand Bilder von diesem Krieg gesehen hat. Und auch deshalb hat er sich in unserem Medien-Gedächtnis nicht festgesetzt.

Für den jetzigen Krieg am Golf haben die Militärs ihre Strategie überdacht: um sich die Berichterstatter gewogen zu machen, erfand man die “embedded journalists” – besser “to kill them with kindness” als sie sich zu Feinden zu machen, Und die Journalisten, jedenfalls einige von ihnen, beurteilt man sie nach den Fernsehbildern, fanden das Mitfahren auf den Panzern ganz ähnlich aufregend wie viele ihrer Kollegen damals den Vietnamkrieg. Aus Sicht der Militärs (sie sind schlau genug, damit nicht zu prahlen), war es ein hervorragendes Konzept (was könnte mehr verbinden als die gemeinsam erlittene Gefahr?) – Bilder von den Tausenden von toten Irakern haben wir jedenfalls nie gesehen.

Die Gründe, die einen Fotografen bewegen, sein Handwerk im Krieg auszuüben, sind so verschiedenartig wie die Fotografen selber – dass es nicht ausschließlich idealistische sind, versteht sich von selbst. Schließlich leben die Fotografen/Fotografinnen in einer von den Kräften des Marktes (so zumindest die Ideologie) beherrschten Welt, sie müssen also Bilder produzieren, die ein Bildredakteur haben will. Und Fotografen haben in der Regel eine recht gute Vorstellung davon, was für Bilder der Vorgesetzte auf seinem Schreibtisch sehen will – spektakuläre, außergewöhnliche, sensationelle Bilder sollen es sein.

Das heißt nicht, dass man die Dramatik, die der Vorgesetzte zuhause erwartet, herstellt, sie inszeniert (das kommt vor, ist jedoch nicht die Regel), doch es heißt, dass man sich bei der Sujet-Auswahl, bei der Wahl des Bildausschnitts, des Blickwinkels, so ausrichtet, dass man möglichst spektakuläre Aufnahmen hinkriegt.

Was soll daran falsch sein? Gar nichts. Nur zeigen solche Bilder nicht den Krieg, wie er ist, sie zeigen den Krieg, wie der Bildredakteur glaubt, dass er dargestellt werden soll.

Was für Fotos (und ob groß oder klein, auf der Titelseite oder auf Seite 4, und mit welcher Bildlegende) publiziert werden, wird auf einer Redaktion fernab des Kriegsgeschehens entschieden.

Die Wirklichkeit, die auf solchen Redaktionen hergestellt wird, ist eine Medien-Wirklichkeit, sie hat mit dem wirklichen Leben, das sich nicht dadurch auszeichnet, dass sich Höhepunkt an Höhepunkt reiht, nur wenig Ähnlichkeit.

Zugegeben, sich von den Medien, die dem “if it bleeds, it leads” verpflichtet sind, eine ungeschminkte, wahrheitsgetreue Darstellung des Krieges zu erhoffen, ist eine womöglich etwas naïve Erwartung, denn die Medien haben ganz andere Aufgaben, hauptsächlich die, ihren Eigentümern Vorteile zu verschaffen, also profitabel zu sein. Diesem Ziel – es geht hier ums Geschäft, und da versteht man, das weiß jeder, keinen Spaß – haben sich sämtliche anderen Ziele unterzuordnen.

Das ist heutzutage so selbstverständlich, dass es erwähnt werden muss.

Und was ist mit der Ethik? Diese ist, wie wir wissen, ein weites Feld und reduziert sich hier auf die eine, alles entscheidende Frage: kriegen wir Probleme, wenn wir ein solches Bild veröffentlichen?

Auch der amerikanische Verteidigungsminister (Verteidigung?) Donald Rumsfeld wird sich wohl diese Frage gestellt haben, als zu entscheiden war, ob die Fotos der beiden toten Söhne von Saddam Hussein veröffentlicht werden sollten. Dass sie schließlich der Öffentlichkeit vorgeführt wurden (unter tatkräftiger Mithilfe des größten Teils der Medien, die sich bereitwillig in den Dienst dieser Propaganda stellten), widersprach zwar den Genfer Konventionen, die das Zurschaustellen von Kriegstrophäen verbieten, doch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), der Garant dieser Konventionen, verhielt sich so neutral wie immer (“Wir sind aber nicht sicher, ob die beiden toten Brüder als Kriegstote gelten”, so die Pressesprecherin Antonella Notari zu Spiegel online, denn über ihren Status in der irakischen Armee sei nichts bekannt) – die USA, die zu den wichtigsten Geldgebern des IKRK gehören, haben dies sicher wohlwollend zur Kenntnis genommen

Doch zurück zur Ethik: die Frage, ob man etwas darf oder nicht, ist nämlich trotz der Leute, die sich darüber stehend glauben, von einiger Bedeutung. Nicht weil sie manchmal in von der Kirche unterhaltenen Akademien Gegenstand gescheiter Ausführungen ist, sondern weil der Mensch in einer Welt der grenzenlosen Unübersichtlichkeit einfach angewiesen ist auf ein paar praktische Richtlinien. Nein, nein, wir brauchen keine neuen, die, die wir kennen, genügen vollauf. Diese hier zum Beispiel: “was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.”

Dem Magazin Town war das offenbar zu wenig konkret. Es wie seine Fotografen und Redakteure während des Vietnamkrieges an, Bilder die folgende Szenen darstellten, nicht zu veröffentlichen: “severed heads floating in a river, a face with gouged eyes, a hand hanging from a piece of string, a Vietcong suspect being tortured by a soldier who has a comic-strip balloon making him say: ‘That’ll teach you to talk to the press.'”

“Vom Journalismus über den Kommerz zum Kannibalismus” hat der Journalist Ernst Müller-Meiningen jr. den Rahmen charakterisiert, in dem letztlich darüber entschieden wird, was uns medien-mässig zugemutet wird. Und zugemutet wird uns ein Potpourri, das einen Außerirdischen, zum ersten Mal auf diesem Planeten zu Besuch, wohl verwundert sich die Augen reiben liesse. In den Worten von Erich Kästner:

“Fabian sass in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter:
Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal in städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz lässt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von einhundertvierzigtausend Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chicago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.”

Unter diesem “täglichen Pensum”, unter diesem “nichts Besonderen” sind manchmal auch Fotos zu finden, von denen wir glauben, dass sie nicht hätten gemacht werden dürfen. Und die, nachdem wir sie gesehen, uns nicht mehr los liessen. Und die, weil sie uns nicht mehr los liessen, unser Bild von der Welt veränderten.

Kevin Carter ist 1994 für sein Bild eines sudanesischen Mädchens, das, auf dem Weg zu einer Essensausgabe, von einem abwartenden Geier beobachtet, zusammengebrochen war, mit dem Pulitzerpreis für Fotografie ausgezeichnet worden. “Many have asked about the fate of the girl. The photographer reports that she recovered enough to resume her trek after the vulture was chased away. It is not known whether she reached the center”, ist bei Greg Marinovich nachzulesen.

Als Hisaye Nakajimaa in Tokyo wenige Monate später erfuhr, dass Kevin Carter sich das Leben genommen hatte, schrieb er der Tageszeitung “Asahi Shimbun” diesen Brief: “I can hardly believe that I was the only person who felt it too harsh to criticize Mr Carter for not having saved the girl before taking the picture. I cannot stop praying that Mr Carter have a peaceful mind in the heaven. He left us with a picture that exposed us to a scene that is too sad to be passed by.”
Hätte er doch nur, nachdem er das Bild geschossen, dem Mädchen geholfen.
Die Originalfassung dieses Artikels erschien erstmalig im Januar 2004 in www.gazette.de

Published 13 September 2004
Original in German
First published by www.gazette.de

© Hans Durrer www.gazette.de Eurozine

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