Erinnerung und Zeitgeschichte

Moralischer Anspruch und wissenschaftliche Aufklärung

1. Die Spannung zwischen Wissenschaft und Erinnerung

Zeitgeschichte muß sich schärfer als andere Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft mit einem schwierigen Problem auseinandersetzen: der Spannung zwischen dem rationalen Erklärungs- und Aufklärungsanspruch der Wissenschaft einerseits und den häufig konträr dazu verlaufenden subjektiven Erinnerungen der Zeitgenossen andererseits. Die oft zitierte süffisante Formulierung “der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers” bringt diese Spannung auf den Punkt. Natürlich ist sie in dieser Zuspitzung als pauschale Aussage unsinnig, weil Zeitzeugen immer auch eine wichtige Quelle sind, aber sie verweist auf eine Schwierigkeit, die jeder Fachhistoriker aus einem Seminar mit Senioren oder vom Stammtisch gut kennt. Mit der Behauptung “ich bin dabei gewesen” beansprucht der Zeitzeuge Authentizität und Objektivität, ohne sich in der Regel klar zu machen, wie begrenzt und selektiv sein subjektiver Erfahrungshorizont ist bzw. war. Fatale Züge hat der Einsatz von Zeitzeugen in Fernsehdokumentationen (zumindest in Deutschland) angenommen. Denn häufig werden sie hier entweder zur reinen “authentischen” Illustration benutzt oder Aussagen beanspruchen besonderes Gewicht, weil es sich um bekannte Personen des öffentlichen Lebens handelt.

Professionelle Historiker beanspruchen dagegen – trotz aller Subjektivität von Erkenntnisinteressen – auf Grund der Kenntnis umfangreicherer Quellen, die zur Verfügung stehen, höhere Objektivität i.S. einer umfassenderen Sicht auf Zusammenhänge. Das ist zwar richtig, bedarf aber einer wichtigen Einschränkung: Auch Zeithistoriker (zumindest bei einer engen Definition von Zeitgeschichte als Geschichte der jeweils Mitlebenden) sind Zeitgenossen und (begrenzt) Zeitzeugen. Sie sind somit selber spezifischen Prägungen, Wertmaßstäben, Zeitströmungen, Moden und Vorlieben oder auch Vorurteilen unterworfen wie andere. Dieser Zusammenhang müßte somit von der Zeitgeschichte als Wissenschaftsdisziplin mit reflektiert werden. Das geschieht explizit nur selten. Die generelle Standortgebundenheit des Forschers als erkenntnistheoretisches Problem gilt auch für alle anderen Epochen der Geschichte. In der Zeitgeschichte beeinflussen aber politische und oft auch parteipolitische Positionen die Sicht auf den Forschungsgegenstand zwangsläufig stärker als für ältere Zeitabschnitte.

Gerade weil das durch die Postmoderne geweckte neue Interesse an Gedächtnis, Erinnerung und Musealisierung zeithistorischer Themen schon inflationäre Züge angenommen hat, ist eine systematische Problematisierung wichtig. Es geht um den Konflikt zwischen dem stark moralisch – anklagend oder rechtfertigend – geprägten Duktus der Erinnerung und dem rationalen Anspruch der Forschung auf distanzierte Erklärung und politische Aufklärung, ohne auf Werturteile zu verzichten. Zeitgeschichte begreift sich hier als Antipode zur unreflektierten Erinnerung. Sie hat die Aufgabe der rationalen Kontrolle der Erinnerung und der Disziplinierung des Gedächtnisses. Die Spannung zwischen der objektivierenden Fachwissenschaft und dem Wunsch der Opfer nach klaren Verdammungsurteilen oder der Täter nach Relativierung ist letztlich nicht aufhebbar. Sie bleibt in besonderem Maße ein Spezifikum der Zeitgeschichte und prägt nachhaltig die öffentlichen Debatten.

Dieses generelle Problem der Spannung zwischen Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichte nur als Alternative zu verstehen, führt jedoch, wie Konrad Jarausch zu Recht betont hat, in eine Sackgasse, gerade wenn das Ziel der historischen Wissenschaft nicht nur die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit, sondern auch öffentliche Aufklärung in der Gesellschaft ist. Denn – so Konrad Jarausch – “eine die lebendige Erinnerung ignorierende Geschichtswissenschaft läuft Gefahr, der Öffentlichkeit durch die Autorität der Wissenschaft ihre Sprachregelung aufzuzwingen, ohne die Bevölkerung wirklich überzeugen zu können”. Das zähe Weiterleben von unreflektierten Erinnerungsbeständen ist damit vorprogrammiert. Läßt sich dieses Dilemma lösen? Bestenfalls partiell. Zumindest sind auch diffuse Erinnerungen von der Forschung ernster zu nehmen und selber zu thematisieren und zu analysieren. Die gesellschaftliche Durchsetzung eines kritischen Geschichtsverständnisses kann nur durch eine explizite Erörterung und Kritik populärer Erinnerungen gelingen. Trotz aller Defizite hat die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Hinblick auf den Nationalsozialismus hier einige Erfolge zu verbuchen. Für die DDR scheint mir der Befund trotz eines wahren Booms an Forschungen noch keineswegs eindeutig.

Zwei Beispiele zur Illustration:

1. Die apologetischen Memoiren von ehemaligen Hitler-Generälen in den 1950er Jahren trafen in der Bundesrepublik auf eine gesellschaftliche Mentalität, die nach Exkulpation verlangte und die NS-Verbrechen einer kleinen Clique von Parteifunktionären und der SS zuschob. Die These von der “reinen Weste” der Wehrmacht führte daher lange Zeit ein zähes Leben, obwohl die Fachwissenschaft sie längst widerlegt hatte. Die enorme öffentliche Erregung über die Hamburger Ausstellung “Verbrechen der Wehrmacht” läßt sich nur vor diesem Hintergrund erklären. Sie rührte auch in den 1990er Jahren noch an einen zählebigen, tief sitzenden Mythos. Die Wissenschaft hat in einem langwierigen Aufklärungsprozeß dazu beigetragen, daß dieser Mythos auch in der breiteren Öffentlichkeit aufgebrochen worden ist.

2. Für die DDR ist die Situation komplizierter, weil nur ein Drittel des Landes direkt vom SED-Regime betroffen war. Die Spaltung der Erinnerung ist hier zudem noch vielfältiger, weil die DDR 40 Jahre existierte, weil verschiedene Generationen sehr unterschiedliche Erfahrungen machten und zudem ein erheblicher Teil von Westdeutschen aus der DDR geflohen war (bis zum Mauerbau 1961 rund 2,7 Millionen). Der Streit um die “richtige” Interpretation der DDR-Geschichte begann besonders heftig unmittelbar nach ihrem Ende. Der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission der Mehrheitsparteien und ihren Ergebnissen setzte die postkommunistische PDS eine “alternative Enquete-Komission” entgegen, die zwar nicht simple Apologie betrieb, aber doch eine deutliche Nähe zum alten Regime erkennen ließ. Der Bundestags-Kommission warf sie ein einseitiges Bild von der DDR vor. “Die Ostdeutschen” sind aber kein einheitliches Kollektiv. Dennoch gibt es in der gegenwärtigen Krisensituation unverkennbar wachsende Spannungen, die auch auf unterschiedlichen west- und ostdeutschen Erfahrungen und deutlich differierenden politisch-sozialen Prioritätensetzungen beruhen (z.B. hat soziale Gleichheit in Ostdeutschland einen klar höheren Stellenwert als politische Freiheit).

Zurück zum generellen Problem. Hans Günter Hockerts hat für den zur Diskussion stehenden Zusammenhang von zeithistorischer Wissenschaft und Erinnerung die begriffliche Trias “Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft” als typologisierenden Zugang vorgeschlagen. Dabei meint Primärerfahrung die selbst erlebte Vergangenheit, Erinnerungskultur die Gesamtheit eines nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs von Geschichte in der Öffentlichkeit mit unterschiedlichsten Mitteln und zu verschiedenen Zwecken. Daß “Geschichte als Waffe” eingesetzt wird, ist zwar keine Besonderheit von Zeitgeschichte, aber doch ein besonders häufiges und für die politische Kultur aller Länder interessantes Phänomen. Fachwissenschaftliche Interventionen stoßen bei der politisch beliebten Instrumentalisierung von Geschichte schnell an Grenzen. Häufig hat sich auch die Fachwissenschaft selbst für politische Instrumentalisierung einspannen lassen, z.B. im Hinblick auf die Kriegsschulddebatte in der Weimarer Republik. In allen kommunistischen Staaten hatte Geschichte stets eine wichtige Legitimationsfunktion und die Wissenschaft sollte dafür die Basis liefern. Ein erheblicher Teil der deutschen “Ostforscher” akzeptierte – aus Überzeugung oder Opportunismus – die Untermauerung der nationalsozialistischen Expansion durch historische Argumente. Ein großer Teil der polnischen Westforschung – um ein weiteres Beispiel zu geben – rechtfertigte nach 1945 den Besitz der neuen Westgebiete mit der unsinnigen These von der “Rückkehr in die urpolnischen Gebiete”. Historiker haben also oft eine politische gewünschte Geschichtspolitik bedient.

Konstitutiv für die Wissenschaft ist, daß sie Standards eines “systematischen, regelhaften und nachprüfbaren Wissenserwerbs” entwickelt hat. Zudem kann und soll sie ihre Prämissen möglichst explizit offenlegen. Strittig bleiben dennoch Verknüpfungen, Einordnungen, Gewichtungen – und diese lassen sich selten allein mit fachwissenschaftlichen Kriterien entscheiden. Hier hat die zu Recht geforderte Multiperspektivität ihren legitimen Platz. Es kann zwar nicht die von Historikern immer wieder erwartete “Objektivität” geben, weil kein Fixpunkt außerhalb der Zeit existiert. Wohl aber muß intersubjektive Überprüfbarkeit der Forschungsergebnisse im wissenschaftlichen Diskurs als Kontrolle und Korrektur dienen. Daher ist die ständige kritische Debatte in einer offenen Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Eine wichtige Funktion der freien Geschichtswissenschaft dürfte zudem unstrittig sein: den öffentlichen Gebrauch der Geschichte kritisch zu begleiten. Erinnerungsvielfalt heißt nicht, alles für erlaubt zu erklären: Die Fachkompetenz kann dazu beitragen, daß Pluralität nicht zur Beliebigkeit verkommt (Hockerts) und daß Legenden entschieden entgegen getreten wird. Dafür Öffentlichkeit und Akzeptanz zu gewinnen, ist schwierig genug, wie schon die oben genannten Beispiele zeigen.

Gegen die mittlerweile inflationär gewordene Redeweise vom “kollektiven Gedächtnis” oder “kollektiver Erinnerung” hat Reinhard Koselleck, einer der prominentesten Vertreter der Theorie der Geschichte, bedenkenswerte Skepsis angemeldet. Denn wer kollektive Erinnerung sucht, setzt ein kollektives Handlungssubjekt voraus, das sich auch kollektiv erinnern kann. Damit tauchen jene Handlungsträger auf (Klasse, Volk, Nation, Partei, Verband, Familie), welche “die Vielfalt persönlicher Erinnerungen verschlucken und als kollektive Einheit wieder von sich geben”. Koselleck plädiert für das Vetorecht der je persönlichen Erfahrungen, die sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperren. Und es gehöre zu der oft vergeblich beschworenen Würde des Menschen, daß er einen Anspruch auf seine eigene Erinnerung hat. Sekundäre Erinnerungen, die nicht mehr auf Primärerfahrungen beruhen, reichen demgegenüber weiter zurück, sind nicht mehr unmittelbar erfahrungsgesättigt und in besonderem Maße für Deutungen und Nachbesserungen offen – ein weites Feld für Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Kosellecks “Vorschlag zur Behutsamkeit” lautet: “Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen.” So wie es immer überindividuelle Voraussetzungen der eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, nationale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen möglicher Erinnerungen. Diese wirken dann als Schleusen, durch die hindurch die persönlichen Erfahrungen gefiltert werden.

Vielleicht ist dies ein Ansatz, um dem strukturellen Dilemma zwar nicht zu entkommen, aber angemessen mit der unvermeidlichen Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Erinnerungen umzugehen. Auf diese Weise könnte es einen gemeinsamen Rahmen und auch eine begrenzte Schnittmenge zwischen kollektivem Gedächtnis und individuellen Erinnerungen geben, zugleich aber einen breiten Spielraum für die Vielfalt der Erinnerungen. Eine differenzierte zeithistorische Forschung müßte somit diese Erinnerungsbestände in ihre primär aus anderen Quellen gewonnenen Ergebnisse zu integrieren versuchen.

Explizit ist die Diskussion um kollektive Erinnerungen erst spät in der Zeitgeschichte zum Zuge gekommen. In Deutschland ist die Entwicklung der Zeitgeschichte primär aus dem inneren und äußeren Zwang zur “Vergangenheitsbewältigung” zu verstehen. Das gilt in ganz unterschiedlicher Weise für beide Staaten. Die Westintegration der Bundesrepublik wäre angesichts der Dimensionen der NS-Verbrechen ohne ein Mindestmaß an materieller Wiedergutmachung und moralisch-politischer Auseinandersetzung nicht möglich geworden. Diese gehörte trotz aller Defizite und Skandale von Anfang an zum Gründungskonsens der Bundesrepublik. Auch in der Institutionalisierung der Zeitgeschichte fand dieser Wille zur Aufarbeitung der Vergangenheit seinen Ausdruck (Gründung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte 1952). In der DDR bildete der Antifaschismus das zentrale Element der Staatsdoktrin. Daß er politisch instrumentalisiert wurde und in der Kritik der Vergangenheit sehr selektiv ausfiel, ist nach 1990 zu Recht breit diskutiert worden. Massenhafte traumatische Erfahrungen der Deutschen bei und nach Kriegsende wurden zugleich aus dem offiziellen Geschichtsbild ausgespart. So wurde das Jahr 1945 ausschließlich als “Befreiung” kanonisiert, die fürchterlichen Gewalterfahrungen mit der Roten Armee verschwiegen. Das Thema Flucht und Vertreibung wurde als politisch beschlossene “Umsiedlung” verharmlost und schnell zu den Akten gelegt. Hier zeigt sich nachdrücklich, wie unzureichend und unwirksam ein Geschichtsbild bleibt, das zentrale Erfahrungsdimensionen ausblendet oder negiert.

Der britische Sozialhistoriker Richard Evans hat in seinem Buch Fakten und Fiktionen eingehend die Grundlagen historischer Erkenntnis erörtert und die produktiven Herausforderungen postmoderner Autoren für die Geschichtswissenschaft konzediert. So ist uns längst die Gewißheit abhanden gekommen, “objektiv” Vergangenheit darstellen zu können. Evans hat dennoch ein energisches Plädoyer für historische Wahrheit als regulative Idee und für den Versuch einer angemessenen Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit formuliert. Evans war 2000 Gutachter in dem Aufsehen erregenden Prozeß gegen den Holocaust-Relativierer David Irving in London. Das Urteil gegen Irving fand vor allem in der britischen Presse ein enormes Echo und wurde als Sieg der historischen Wissenschaft über die – leider bis heute relativ große – Gemeinde der europäischen Rechtspopulisten mit revisionistischen Geschichtsbildern gefeiert.

In der Zeitgeschichte wird für jedermann besonders unmittelbar erfahrbar, wie die Gegenwart die Geschichte immer wieder einholt. Dadurch verschieben sich Perspektiven und Maßstäbe u.U. radikaler und schneller als für andere Epochen. So haben sich durch die Revolution von 1989 und das Ende des Kommunismus in Europa die Determinanten unserer Interpretationen und historischen Urteile gravierend gewandelt. Die zeitgebundenen und nicht nur interessegeleiteten Grenzen historischer Erkenntnis und sozialwissenschaftlicher Prognosefähigkeit sind uns 1989 auf drastische Weise vor Augen geführt worden. Das kann zu heilsamer Bescheidenheit mahnen, führt aber nicht die Suche nach Wahrheit als regulative Maxime ad absurdum.

Die Revolution von 1989 hat nicht nur die politische Landkarte, sondern auch die “Erinnerungspolitik” völlig verändert. Warum erst danach die breite Diskussion um eine Holocaust-Denkmal einsetzte und nun in Berlin eine konkrete Form gefunden hat, bleibt für mich allerdings immer noch schwer erklärlich. Für den bereits angesprochenen Komplex “Flucht, Vertreibung, Zwangsmigration” stellt sich die Situation jedoch anders dar. Ob die heftige Auseinandersetzung um ein “Zentrum gegen Vertreibungen” in unmittelbarem Zusammenhang mit der Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas steht, ist strittig. Die Thematik hat jedoch durch das Ende der DDR und durch die gründliche und kritische Diskussion in Polen, aber auch durch den Zerfall Jugoslawiens eine neue Aktualität gewonnen. Auf die Debatte um das Zentrum will ich hier nicht näher eingehen.

Bei allen Differenzen sowohl auf polnischer wie auf deutscher Seite sollte es über ein zentrales Element der Diskussion aber Konsens geben: Es muß sichergestellt sein, daß die europäische Dimension des Themas im Mittelpunkt steht und nicht Bilateralismus das Gerüst eines Dokumentationszentrums abgibt. Dazu gehört auch die umfassende Einbeziehung der nationalsozialistischen Vorgeschichte der Vertreibungen von 1945. Damit wird eines der schlimmsten Kapitel der leidvollen Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugleich “anschlußfähig” gemacht an die bitteren Erfahrungen, mit denen die Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auf dem Balkan konfrontiert wurde. Das schon aus dem Ersten Weltkrieg stammende Schlagwort der “ethnischen Säuberung” hat uns im Fernsehzeitalter drastisch wieder vor Augen geführt, wohin die Idee des homogenen Nationalstaats führen kann. Es ist evident, daß hier die Synthese von traumatischen subjektiven Erinnerungen und wissenschaftlicher Erörterung größerer Zusammenhänge unerläßlich ist.

2. Das Postulat der “Historisierung” der jüngsten Vergangenheiten

Die Forderung Martin Broszats nach Historisierung des Nationalsozialismus, die seinerzeit vielen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist auch zu einem zentralen Element der seit 1990 intensivierten Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen geworden. Deren lange Dauer und die inneren Wandlungsprozesse haben es sicherlich erschwert, aus dieser Phase nachträglich einen historischen “Betriebsunfall” zu machen, wie das für den Nationalsozialismus lange Zeit in Deutschland geschah. Analog gibt es jedoch Tendenzen in der Historiographie und der öffentlichen Diskussion, die vier Jahrzehnte nach 1945 primär als Besatzungsgeschichte durch die sowjetische Vormacht zu verstehen und so aus der “eigentlichen” nationalen Geschichte zu verbannen. Ohne Frage ist die Interpretation als Besatzung ein wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil. Die Historisierung der jüngsten Geschichte muß breiter ansetzen. Am Beispiel der DDR-Geschichte dazu einige Hinweise.

Eine Historisierung ist hier bereits viel früher als für den Nationalsozialismus gefordert und praktiziert worden. Historisierung zielt zum einen auf Einordnung in größere zeitliche und systematische Zusammenhänge, zum andern auf ein komplexes Bild, in dem die düsteren und verbrecherischen Seiten des politischen Systems mit den alltäglichen, banalen, bequemen und auch vorteilhaften Seiten einer Diktatur zusammen gesehen werden. Stefan Wolles Formulierung “die heile Welt der Diktatur” spricht genau diesen Zusammenhang an. Das bedeutet keine Verharmlosung, sondern bildet eine wichtige Voraussetzung für ein umfassendes Verstehen von Vergangenheit. Eine moralische Relativierung des Diktaturcharakters der DDR mag angesichts der gegenüber dem Nationalsozialismus nicht vergleichbaren Verbrechensdimensionen zwar naheliegen, und Beispiele dafür gibt es genügend. Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und DDR sind zwar durchaus legitim, wenn sie nicht pauschal erfolgen, sondern genau die Vergleichsebenen angeben (z.B. im Hinblick auf kollektive staatliche Organisationsformen von Jugend oder die politische Instrumentalisierung von Geschichtswissenschaft). In der Regel fördern sie aber mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten zu Tage und der Erkenntniswert bleibt begrenzt, weil die Dimensionen und auch die zeitliche Dauer kaum vergleichbar sind.

Die eigentliche methodische Herausforderung für die historische Forschung liegt jedoch in der Aufgabe, die DDR – und für andere Länder gilt das ebenso – nicht primär von ihrem Ende und auch nicht von ihren vermeintlich guten Anfängen einer sozialistischen Alternative in der Tradition der europäischen Aufklärung zu interpretieren. Vielmehr müssen gerade die kommunistischen Staaten auch gewissermaßen “aus der Mitte heraus” mit einem für die Zeitgenossen noch offenen Entwicklungspotential rekonstruiert und verstanden werden. Unterschiedliche Entwicklungsphasen und generationsspezifische Wahrnehmungen sind hier wichtig. Strukturanalyse und Erfahrungsgeschichte erweisen sich aus einer solchen Sicht als zwei notwendige und komplementäre Seiten einer Medaille. Andernfalls bleibt es bei der Dichotomie plakativer genereller Anklage oder nostalgischer, selektiver Erinnerung und einem Geschichtsbild, das Zeitgenossen kaum wirksam zu vermitteln ist, da es zentralen eigenen Erfahrungen widerspricht.

Aufarbeitung von Vergangenheit im Sinne von “Historisierung” bedeutete daher mehr, als lediglich die verbrecherischen und repressiven Seiten einer Diktatur aufzuhellen. Der “strukturelle Opportunismus”, die begrenzte Bereitschaft zum Mitmachen, um in Ruhe gelassen zu werden oder Karriere machen zu können gehören ebenso dazu wie die Bestimmung von individuellen Spielräumen, die Bereitschaft zum Neinsagen, zur Verweigerung und Opposition. An der langen und kontroversen Diskussion der vielfältigen Formen des Widerstandes im “Dritten Reich” und in der DDR ist die Bedeutung einer solchen Aufarbeitung von Vergangenheit für die demokratische politische Kultur eines Landes gut ablesbar. Für andere Staaten und Gesellschaften dürfte das ähnlich gelten.

Für viele europäische Länder gibt es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine brisante Konkurrenz der Erinnerungspolitik. In Deutschland ist sie nach dem Ende der DDR besonders scharf hervorgetreten. In der Arbeit von Gedenkstätten (wie z.B. Sachsenhausen) läßt sich häufig kaum zwischen den Verbänden der Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus vermitteln. Opfer der SED befürchten eine Verharmlosung der zweiten deutschen Diktatur. Das führte vor wenigen Wochen zu einem Antrag im Bundestag, das Gedenken an die Opfer beider Diktaturen zu einer gesamtstaatlichen Aufgabe von Bund und Ländern zu machen. Dieser Antrag löste kurzzeitig heftige Kontroversen aus, die in der Argumentation an den Historikerstreit von 1986/87 erinnerten. Hier zeigt sich erneut die Gemengelage von moralischen Ansprüchen der Opfer, Differenzierung in der Historiographie und politischer Auseinandersetzung um Geschichtspolitik.

Der Anspruch auf Aufklärung über die Geschichte vergangener Diktaturen bleibt unbequem. Das haben nahezu alle früheren Dissidenten ebenso erfahren wie die wenigen, die sich im nationalsozialistischen Deutschland verweigert haben oder gar organisierten Widerstand geleistet haben. Die Durchsetzung der Legitimität des Attentats vom 20. Juli 1944 in der Öffentlichkeit und in der Bundeswehr hat lange gedauert. Die Feiern in diesem Jahr haben gezeigt, daß sich im Geschichtsbewußtsein der Gegenwart tatsächlich viel geändert hat, wenn man von einigen unverbesserlichen Rechtsradikalen absieht. Die moralische Maxime der Dissidenten der 1980er Jahre in Osteuropa und der DDR vom “Leben in Wahrheit” muß ebenfalls mit dem Drang zum Vergessen und zur “Normalisierung” kämpfen. Die meisten sind im politischen Leben der Zeit nach der Revolution von 1989 marginalisiert worden. Aber ihr Mut in der Vergangenheit und ihr Insistieren auf Einbeziehung in die kollektive Erinnerung bleiben unvermindert aktuell. Wolfgang Eichwede hat diese antikommunistischen Bürgerrechtler als “Kinder der Aufklärung” charakterisiert. Sie haben Europas Freiheitsgeschichte fortgesetzt und die schwierige Verwirklichung einer Zivilgesellschaft, die ihnen vorenthalten wurde, auf die Tagesordnung gesetzt. Dies ist die andere Seite der Erinnerung. Die Geschichtswissenschaft kann solche Positionen nicht einfach übernehmen, sondern muß sie mit der “Normalität” und relativen Akzeptanz von Diktaturen “verrechnen” und ausbalancieren. Diese mühsame, aber notwendige “Historisierung” ist in manchen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks weit vorangekommen, in anderen wächst die Neigung zur Verdrängung und Relativierung. Offensichtlich verschieben sich in sozialen Krisensituationen die Erinnerungsbestandteile. In Deutschland erleben wir momentan einen rasanten Aufschwung der PDS, die mit dem historisch und emotional tief verwurzelten Argument der sozialen Gerechtigkeit populistisch auf Stimmenfang geht.

Was kann Geschichtswissenschaft mit einem aufklärerischen Anspruch angesichts solcher Konstellationen tun?

Jedes “Lernen aus der Vergangenheit” ist schwierig und in einem naiven Sinne ohnehin unmöglich. Wer jemals einen Schulbuchtext verfaßt oder am Drehbuch für einen Film beratend mitgearbeitet hat, weiß, wie verzweiflungsvoll der Zwang zur Komplexitätsreduktion oder die Abhängigkeit vom filmischen Material alle hochgespannten Ambitionen zunichte machen.

“Historisierung” ist ein Vorgang, der überall stattfindet im Umgang mit “normaler” Vergangenheit. Die Präsenz dieser Vergangenheit läßt nach, mit der zeitlichen Entfernung wird eine unmittelbare Betroffenheit geschwächt. Die Debatte um Historisierung des Nationalsozialismus setzte aber bei einer Vergangenheit an, “die nicht vergehen will” (Ernst Nolte). In ihrem Mittelpunkt stand und steht die Singularität des Holocaust. Das Verhältnis von Moralität und Historizität erhält damit eine besondere Brisanz. Ob bei diesem Thema eine Synthese von distanzierender Objektivierung und subjektiver Aneignung, von Urteil und Verstehen möglich ist und was das für die Geschichtskultur bedeutet, wird kontrovers diskutiert. Broszat hat betont, daß Historisierung gerade nicht eine Entmoralisierung, sondern eine überzeugendere und wirksamere Moraliserung des Verhältnisses zu diesem Teil der Vergangenheit bedeutet. Auch für den Stalinismus dürfte das eine zentrale Frage für die Zeitgeschichte sein.

Es betrifft anthropologische Grundsatzfragen und unterstreicht, wie dünn der Firnis der modernen Zivilisation ist, auf dem wir uns alle bewegen. Hier kann die vielleicht wichtigste und auch politisch wirksame Lehre aus der Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit liegen. Für die individuelle unbequeme Erinnerung hat Friedrich Nietzsche pointiert eine oft zitierte Sentenz formuliert: “‘Das habe ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ’Das kann ich nicht getan haben’, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.” Zeitgeschichte als Wissenschaft und als Teil der Geschichtskultur kann und sollte dazu beitragen, daß dieses “Nachgeben” nicht auch gegenüber einer unbequemen, aber notwendigen kollektiven Erinnerung geschieht.

Vortrag gehalten auf der Konferenz “Erinnerungskultur und Geschichtspolitik: Litauer, Polen, Deutsche” in Vilnius am 3.-4.9. 2004

Published 11 March 2005
Original in German

Contributed by Kulturos barai © Christoph Kleßmann/Kulturos barai Eurozine

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