Die Ich-GmbH

Alternativen zum stahlharten Gehäuse der Verantwortung

2002 wurde die “Ich-AG” zum Unwort des Jahres gewählt, doch ihre Bedeutung geht weit darüber hinaus. Sie ist der Schlüsselbegriff der die letzten anderthalb Dekaden in vielerlei Hinsicht auf den Punkt bringt. Das zum Vorbild individueller Verhaltensmodellierung aufgestiegene, strikt am Gewinnstreben orientierte Unternehmertum findet sich nicht nur in der Figur des Arbeitskraftunternehmers analysiert, sondern wird planmäßig vom aktivierenden Wohlfahrtsstaat produziert, dessen tiefe Eingriffe Eigeninitiative aus dem Tagebau “Individuum” fördern und zugleich dessen Mithilfe bei der eigenen Disziplinierung fordern.

Theoretisch vorbereitet wurde diese Sichtweise des Individuums als Unternehmer seiner Selbst gleichwohl schon Anfang der 1970er Jahre, als der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker seine Theorie des Humankapitals entwickelte, nach der Individuen letztlich als Kapitalisten zu verstehen sind, die unterschiedliche Investitionen in eigene Fähigkeiten und Ausstattungen in der Hoffnung auf eine möglichst hohe Rendite vornehmen. Der tatsächliche Unternehmer, der in Arbeitskräfte, neue Fertigungsprozesse, technologische Innovationen etc. investiert, ist strukturell nicht mehr von diesem unternehmerischen Selbst zu unterscheiden.

Es ist an der Zeit, die Umkehrung der Beziehung von Ökonomie und Individuum ernst zu nehmen. Konnte es der französische Philosoph Gilles Deleuze in den 1990er Jahren noch für die “größte Schreckens-Meldung” halten, dass nun auch Unternehmen eine Seele bekommen sollten, so sind wir längst einen wichtigen Schritt weitergekommen und haben die Seelen zu Unternehmen gemacht. Insofern schlägt auch das Buch The Corporation, mit dem der kanadische Jurist Joel Bakan vor einigen Jahren Aufsehen erregte, noch die falsche Richtung ein, als er mit Kriterien menschlichen Verhaltens am Handeln der Konzerne Kritik zu üben versuchte. Seiner Analyse lag die Beobachtung zugrunde, dass Konzerne als juristische Personen oftmals ähnliche Rechte geltend machen können wie natürliche Personen. Doch sollten Konzerne tatsächlich wie Individuen behandelt werden, und was ließe sich in diesem Fall über sie sagen? Bakan kam zu dem Ergebnis, dass Individuen, die ihre Verhaltensmuster an denen von Konzernen ausrichten würden, am besten in klinischen Kategorien erfassbar wären. Wäre umgekehrt also ein Konzern tatsächlich eine natürliche Person, so müsste man ihn als Psychopathen bezeichnen, der seine Ziele rücksichtslos verfolgt und für den die Bedürfnisse und Interessen anderer keinerlei Bedeutung haben. Doch verkannte Bakan damit, dass es längst zu einer Umkehrung der Kriterien gekommen ist: pathologisiert werden in unserer Gesellschaft vor allem diejenigen, die nicht wie Konzerne handeln.

Kritik wurde hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, von linksliberalen Kommentatoren geäußert, die in dieser besonderen Ausprägung des homo oeconomicus die Ausweitung der kapitalistischen Kampfzone zu beobachten meinen, die individuelle Moralität in Gefahr wähnen oder den Zynismus der Euphemismen geißeln, die auch den urbanen Flaschensammler noch als Unternehmer bezeichnen. Allerdings ist diese Kritik in etwa so wirksam wie die Forderungen nach mehr “Corporate Social Responsibility” und hat denselben Realitätsgehalt wie die ökologischen Kampagnen von British Petroleum, weil sie wie die beispielhaft erwähnte Analyse Bakans das Ausmaß verkennt, in dem sich die Beziehung von Ökonomie und Individuum zusammen mit den verfügbaren Beurteilungskriterien verschoben hat.

Risiko und Scheitern

Dagegen wollen wir an dieser Stelle versuchen, den Imperativ “Handle unternehmerisch! ” ernst zu nehmen und zu Ende zu denken. Der unablässig “mehr Verantwortung” vor sich hin trällernde Backgroundchor der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, der das Unternehmertum mit seinen positiven Konnotationen eines heroischen Wagemuts gepaart mit einer nüchtern kalkulierenden (Selbst-) Disziplin gegen die “Finanzhasardeure” beschwört, liefert dafür die ideale Vorlage. Die persönliche Geschichte der Ikonen des goldenen Zeitalters kapitalistischen Unternehmertums ist oftmals die von wiederholten und grandiosen Fehlschlägen, an deren Ende dann jedoch der durchschlagende Erfolg stand. Doch der Mythos von Pioniergeist und Risikofreudigkeit im Angesicht der Möglichkeit fatalen Scheiterns ist nur ein Teil der Geschichte des Unternehmertums im 20. Jahrhundert. Denn bei aller individueller Bereitschaft, Risiken einzugehen und sich den Launen des Marktes auszusetzen, konnten doch die “Kosten” im Falle des Scheiterns derart dramatisch bis hin zur Existenzgefährdung ausfallen, dass viele potentielle Unternehmer unvermeidlich abgeschreckt wurden.

Zur politisch gewollten Förderung des Unternehmertums wurde deshalb die Rechtsform der Gesellschaft mit beschränkter Haftung entwickelt, wobei hier Deutschland, in dem die entsprechenden Rechtsnormen schon seit 1892 gelten, eine internationale Vorreiterrolle einnimmt. Die der GmbH zugrunde liegende Logik ist klar, hält man sich die Ausgangslage potentieller Unternehmer_Innen vor Augen, die über eine innovative Idee verfügen, bei der jedoch ob der Undurchsichtigkeit des Marktes gerade bei radikalen Neuerungen nicht zu ermitteln ist, ob sie sich als profitabel erweist. Ein mehr oder weniger großes Risiko bleibt bestehen, und der Profit des Unternehmers ist schließlich auch eine Dividende auf die Bereitschaft, dieses Risiko einzugehen. Doch nur Hasardeure würden ihre gesamte Existenz auf den Markterfolg eines Produktes setzen. Die GmbH lässt sich nun als Anreiz verstehen, dennoch unternehmerisches Risiko einzugehen, indem diese Rechtsform das private Vermögen der Gesellschafter im Falle der Insolvenz unangetastet lässt und nur das Geschäftsvermögen zur Tilgung von Schulden herangezogen wird. Seit 2008 liegt die Mindesteinlage für sogenannte Mini-GmbHs bei nur noch 12.500 Euro, das englische Recht ermöglicht – auch in Deutschland – sogar die Bildung von “Limiteds”, deren Haftungskapital bis auf nur ein englisches Pfund reduziert werden kann.

Die wirtschaftspolitische Stoßrichtung dieser juristischen Regelungen liegt auf der Hand: Geht Risiken ein! Im Falle des Markterfolges profitiert nicht nur Ihr, sondern auch all jene Marktteilnehmer_Innen, deren Bedürfnisse nun besser befriedigt werden. Im Falle des Scheiterns schützen wir Eure Existenz und ermutigen Euch – unbelastet von persönlichen Schulden – ein neues unternehmerisches Projekt anzugehen.

Das Prinzip einer beschränkten Haftung

Wenn es nun zutrifft, dass Individuen wie Unternehmen handeln sollen, dann ergeben sich aus dieser Konstellation zwei mögliche Schlussfolgerungen: Zum einen kann man das Prinzip der beschränkten Verantwortlichkeit bzw. Haftung mit Bezug auf Unternehmen in Frage stellen. Den ordnungspolitischen Vordenkern von Walter Eucken bis Wilhelm Röpke war die GmbH suspekt, da sie eben den Zusammenhang zwischen Risiko, Gewinn und Haftung verwässerte. Wer nun allerdings etwa die Boni-Regelungen von Banken und Konzernen als Illustration dieser Sorge anführt, sollte bedenken, dass diese Regelungen im 19. Jahrhundert eingeführt wurden, um die Manager stärker an das Unternehmen zu binden – insofern waren sie die damalige Antwort auf den auch heute wieder ohrenbetäubend lauten Ruf nach mehr Verantwortlichkeit. Schwerwiegender jedoch ist gegen die Vorstellung eines immer engmaschigeren Netzes von Verantwortung einzuwenden, dass schon die Neoliberalen des frühen 20. Jahrhunderts wussten, dass der Erfolg am Markt im Wesentlichen auf Zufall beruht. Wie etwa Friedrich von Hayek nicht müde wurde zu wiederholen, bräuchte man vom Wettbewerb getriebene Märkte nicht, wenn diese nicht zu unvorhersehbaren Ergebnissen führten. Warum aber sollten wir das Netz der Verantwortlichkeiten zum stahlharten Gehäuse ausbauen, wenn das doch nur den glücklichen Erben und Gewinnern der Marktlotterie nutzt?

Die zweite Schlussfolgerung ist dagegen jene, die dem Imperativ des unternehmerischen Handelns gemäß davon ausgeht, dass sich das Prinzip einer beschränkten Haftung auf unternehmerischer Ebene durchaus bewährt hat und dass die darin liegende Freiheit dann auch den Individuen zugutekommen sollte. Solange man nicht die oben beschriebene Verkehrung der Kriterien, unter denen Ökonomie und Individuum zueinander sich verhalten, insgesamt infrage stellen will oder kann, scheint die logische Konsequenz zu sein, den Unternehmer_Innen ihrer Selbst Haftungsbeschränkungen einzuräumen, die denen von wirklichen Unternehmen gleichen. Auf eine Formel gebracht: Ich-GmbH statt Ich-AG. Denn falls Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen tatsächlich Humankapitalisten sind, so stehen auch sie letztendlich vor der risikobehafteten Entscheidung, welche Investitionen sie vornehmen sollen, und es ist wirtschaftlich durchaus wünschenswert, dass sie hierbei Risiken eingehen, beispielsweise in Form von hochspezialisierten Ausbildungen für Tätigkeiten in Nischensektoren, die gerade im deutschen Mittelstand weitverbreitet sind. Allerdings birgt das die Gefahr des Scheiterns etwa durch technologische Innovationen oder andere Marktvolatilitäten. Der deutsche Sozialstaat hat sich im Laufe der letzten Jahre immer mehr dahingehend neu ausgerichtet, die Möglichkeit solchen Scheiterns mit Strafe zu bedrohen, nämlich durch die Hartz-IV Gesetzgebung, ihre verschärften Zumutbarkeitsregelungen, geringere Regelsätze etc. Als letzter Ausweg bietet sich schließlich noch die Privatinsolvenz, welche jedoch an umfangreichere Bedingungen geknüpft ist als bei GmbHs und darüber hinaus die Betroffenen keineswegs in gleichem Maße “vom Haken lässt” wie im Fall der Geschäftsinsolvenz. Die Botschaft ist auch hier klar: Wer Risiken eingeht und dabei scheitert, muss mit sozialer Stigmatisierung und sozio-ökonomischer Exklusion rechnen, ein Bedrohungsszenario, dessen Abschreckungswirkung bis tief in die Mittelschicht reicht. Dass die Angst vor dem sozialen Absturz Produktivität und Innovation anspornt, ist sicher nicht auszuschließen – ob es nicht andere bessere Möglichkeiten gibt, dies zu erreichen, aber wäre die richtige Frage.

Wir sind der Meinung, dass etwa ein Arbeitsmarktregime nach dem Vorbild der dänischen “Flexicurity” Pate für die Vorstellung der Ich-GmbH stehen könnte. Hier werden Arbeitnehmer_Innen zu risikoreichen Humankapitalinvestitionen und allgemeiner Produktivität gerade mit dem Verweis ermuntert, dass sie im Falle des Verlustes des Arbeitsplatzes – was in Dänemark leicht möglich ist – eben nicht mit Bestrafung sondern mit generösen Transferleistungen (finanziell, aber auch in Form von Fortbildungen oder Umschulungen) über lange Zeithorizonte hinweg rechnen können. Weiterhin nach mehr Verantwortung zu schreien, um ja keine ernsthaften Veränderungen vornehmen zu müssen, bleibt allerdings einfacher.

Published 21 November 2011
Original in German
First published by Polar 11/2011 (German version)

Contributed by Polar © Thomas Biebricher, Frieder Vogelmann / Polar / Eurozine

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