Die englische Tierschutzguerilla

Freiheit für die Gefangenen von Hundington

Für die einen sind Tiere bloß das Material, das sie für ihre – oft
grausamen und immer lukrativen – Laborversuche brauchen. Die anderen
kämpfen für die Freiheit und Unversehrtheit der geschundenen Kreatur, und
dabei ist ihnen fast jedes Mittel recht. Eine Reportage von der Front
zwischen militanten Tierversuchsgegnern und denen, die solche Versuche
durchführen.

In seinem tadellosen Dreiteiler – reine Synthetik – macht Robin Webb
eher den Eindruck eines gesetzten Rentners als eines durchgedrehten
Tierschützers, wie ihn Brad Pitt in dem Film “Twelve Monkeys”1 darstellt.
Doch der Mann, der mit uns in einem Pub in Nottingham verabredet ist,
bekennt sich als Sprecher der Tierbefreiungsfront (Animals Liberation
Front, ALF), einer im Untergrund operierenden Gruppe, die ständig die
Antiterroreinheiten von Scotland Yard und FBI auf den Fersen hat.

“Die ALF ist unbesiegbar; kein Staat kann eine Idee hinter Gitter
bringen”, erklärt der ehemalige Gewerkschafter, der sich vor 25 Jahren,
als er “eines Morgens an einem Schlachthaus vorbeikam”, zum Veganer2
bekehrte. “Jeder Mensch, der eine Aktion durchführt, um Tiere zu retten
oder das Eigentum derer, die Tiere missbrauchen, zu beschädigen – ob
durch Einschlagen von Fensterscheiben oder durch Brandstiftung, spielt
keine Rolle, solange weder Tiere noch Menschen verletzt werden – jeder,
der so etwas macht, darf seine Aktion im Internet als Aktion der ALF
darstellen. Im Gegenzug leisten wir im Fall einer Verhaftung Beistand.”

Die dezentrale Organisationsform macht es der Polizei schwer, die ALF zu
unterwandern und zu zerschlagen. “Die Irisch-Republikanische Armee (IRA)
besteht ebenfalls aus selbstständig operierenden Zellen. Aber sie
besitzt ein zentrales und insofern identifizierbares Kommando. Die ALF
hat nichts dergleichen. Mich zu verhaften, um mich zum Schweigen zu
bringen, ist nutzlos”, sagt Webb, der 1995 selbst sieben Monate im
Gefängnis verbrachte.

Seit Gründung der Organisation im Jahr 1976 saßen schon rund 200
Aktivisten hinter Gittern. Die Zahl der Aktionen geht in die tausende,
und auch Märtyrer kann die ALF schon vorweisen. Barry Horne zum Beispiel
starb im November 2001 bei einem Hungerstreik im Gefängnis. Er war wegen
eines Anschlags auf ein Pelzgeschäft zu 18 Jahren verurteilt worden.
“Gefallen für die Freiheit derer, die sich nicht selbst verteidigen
können”, wie Robin Webb es formuliert.

Großbritannien war an der “Animal Rights”-Front schon immer einen
Schritt voraus. Die erste Tierschutzvereinigung wurde 1820 gegründet, aus
demselben Jahr stammt das erste Gesetz gegen Misshandlung von Tieren.
Die 1840 gegründete “Royal Society for the Prevention of Cruelty against
Animals” (RSPCA) sammelte voriges Jahr insgesamt 80 Millionen Pfund von
nicht weniger als 300 000 Spendern.3

1963 wurde im Süden Englands die “Hunt Saboteurs Association” (HSA)
gegründet. Damit begann ein Teil der Tierschutzbewegung, in der sich
Menschen aus allen sozialen Schichten engagierten, zu gewaltsamen
Methoden überzugehen. Robin Webb erinnert sich: “Das Ziel war, sich
zwischen Jäger und Gejagte zu stellen, um Letztere zu retten und das
Parlament zu einem generellen Jagdverbot zu bewegen. 1973 begann eine
kleine Gruppe um Ronnie Lee die Autos der Jäger anzuzünden. Später gingen
sie auch gegen Vivisektionslabors und Pelzgeschäfte vor und nannten sich
“Band of Mercy”.

Drei Jahre später legten sich die klandestin operierenden Gruppen das
Kürzel ALF zu. “Damals entstanden überall Befreiungsfronten, in
Lateinamerika ebenso wie in Irland. Die ALF erklärte die kurzfristige
Gewaltanwendung im Dienst der gerechten Sache zum legitimen Mittel. In
Großbritannien hatten ja auch die Bewegung für die Abschaffung der
Sklaverei und die Suffragetten, die frühen Frauenrechtlerinnen, zu
Mitteln der Gewalt gegriffen. Das Wort Alf, was ja auch die Kurzform von
Alfred ist, erschwert im Übrigen das Abhören von Telefongesprächen.”

Mit ihren Anschlägen und Drohungen wollen die ALF-Aktivisten die Kosten
für Sicherheitsmaßnahmen so weit in die Höhe treiben, dass die
“Ausbeutung der Tiere” sich über kurz oder lang nicht mehr rentiert.
Mehrere hundert Aktivisten sind bereit, dafür gegen geltendes Recht zu
verstoßen. Ihre bisherigen Aktionen sprechen eine deutliche Sprache. Sie
schlugen die Fensterscheiben von Metzgereien ein und attackierten
Fischgeschäfte, um Hummer davor zu bewahren, in kochendes Wasser geworfen
zu werden. Sie zündelten in Schlachthäusern und Pelzgeschäften und
bedrohten Zirkus- und Zoobetreiber. Maskierte Kommandos befreiten Nerze
aus ihrem Zuchtgehegen, obwohl sie wussten, dass diese Raubtiere das
Kleinwild der Umgebung dezimieren würden. Sie verwüsteten
Vivisektionslabors und Zuchtfarmen, belästigten die Angestellten zu
Hause, warfen ihnen die Fensterscheiben ein, beschädigten ihre Autos und
steckten Kühllastwagen von Schlachthäusern in Brand. Für ähnliche
Aktionen in den Vereinigten Staaten und Nordeuropa übernahm die ALF
ebenfalls die Verantwortung.

Die Aktionen der Gruppe können aber auch ein deutlich höheres
Gewaltniveau erreichen. Im Oktober 1999 entführten bewaffnete Männer den
Journalisten Graham Hall, der im Auftrag des Fernsehsenders Channel 4 an
einer Recherche über die ALF-Aktivisten arbeitete. Mit einem rot
glühenden Eisen brannten sie dem Reporter die Initialen ALF auf den
Rücken. Im Februar 2000 wurden nach Bombendrohungen gegen die Aktionäre
von Huntingdon Life Sciences, Europas größtem Auftragslabor für
Tierversuche, tausende HLS-Angestellte aus der Londoner City evakuiert.
Anfang 2001 wurden HLS-Direktor Brian Cass und ein leitender Angestellter
der Firma von einem maskierten Kommando überfallen. Ein Tierzüchter und
ein sechsjähriges Mädchen wurden durch einen Bombenanschlag verletzt.
Anderen Menschen, die direkt oder indirekt für das Leid von Tieren
verantwortlich waren, wurde mit Mord oder der Entführung ihrer Kinder
gedroht. Und wieder andere wurden in Briefen an die Nachbarschaft und an
Bekannte der Pädophilie bezichtigt.

Zwei “Ökokrieger”-Gruppen, die “Animal Rights Mobilization” (ARM) und
das “Justice Department” (JD), befürworten ausdrücklich Gewalt gegen
Menschen, die Tiere quälen. Wahrscheinlich sind es immer dieselben
Tierschützer, die bei der einen Aktion als ALF, bei einer anderen als ARM
oder JD auftreten. 2 000 Manager von britischen Unternehmen, deren
Tätigkeit auf Kosten von Tieren geht, ließen ihre Firmen schon aus dem
Handelsregister streichen, weil sie um ihr Leben fürchteten.

“Da die Verletzung des sechsjährigen Mädchens ihrer Sache geschadet hat,
achten die Extremisten inzwischen darauf, dass niemand verletzt wird”,
meint Mark Matfield, der Leiter der Tierversuchslobby “Research Defense
Society” (RDS). Er weiß, dass er eine potenzielle Zielscheibe der
Tierschützer ist. “Sie wollen mit ihren Aktionen eher einschüchtern;
getötet haben sie bis jetzt noch niemanden.” Die einzigen Todesopfer
dieses Kampfs kamen aus den eigenen Reihen: neben Barry Horne, der seinen
Hungerstreik nicht überlebte, zwei “Jagdsaboteure” und eine Frau, die
gegen den Export von lebenden Tieren demonstrierte. Alle drei wurden in
den 1990er-Jahren durch Fahrzeuge überrollt.

In den 30 Jahren ihres Kampfs hat die Tierbefreiungsbewegung
bemerkenswerte Siege errungen: In ganz Großbritannien sieht man heute
kaum noch einen Pelzmantel; mehrere Farmen, die Hunde und Katzen für
Tierversuche züchteten, wurden in den Bankrott getrieben; im Januar
dieses Jahres musste die Universität Cambridge ein neurologisches
Forschungsprojekt einstellen, das scheußliche Versuche mit Menschenaffen
durchführte.4

Mel Broughton, ein Tierschutzveteran und Freund von Barry Horne, der
gerade eine vierjährige Gefängnisstrafe wegen Sprengstoffbesitzes
absitzt, koordinierte via Internet die groß angelegte Kampagne “Stop
Primate Experimentation at Cambridge” (Speac). Innerhalb von drei Jahren
musste das Versuchslabor zur Festung ausgebaut werden, was die Kosten von
24 auf 32 Millionen Pfund ansteigen ließ. Daraufhin warf der
Verwaltungsrat der Universität das Handtuch – zum Leidwesen von Tony
Blair, der die britische Forschung in Gefahr sieht, zum Leidwesen auch
von Mark Matfield, der von einem “schwarzen Tag für die Patienten”
sprach.

Als Nächstes hat sich der radikale Tierschützer Broughton ein ähnliches
Forschungsprojekt an der Universität Oxford vorgenommen. “Mit einer
Demonstration im Jahr können die leben”, sagt Broughton, “aber nicht mit
einem ständigen Druck auf ihre Aktionäre und Vertragspartner.” Der
Baustoffgroßhändler Travis Perkins zog sich, kurz nachdem die
Tierschützer ihn angesprochen hatten, von dem Oxfordprojekt zurück.

Doch der Hauptfeind der Ökoguerilleros ist eine stacheldrahtbewehrte
Zitadelle, auf die sie seit vier Jahren ihre Offensive konzentrieren. Das
größte europäische Vivisektionslabor Huntingdon Life Sciences (HLS), das
sie manchmal mit einem Konzentrationslager vergleichen, arbeitet noch
immer. “Ich glaube an das, was ich tue”, sagt HLS-Chef Brian Cass, den
die Tierschützer schon seit 20 Jahren im Visier haben. “Der Nutzen von
Tierexperimenten für die Patienten ist unbestreitbar.” 70 000
Versuchstiere verschleißt das Forschungszentrum jährlich im Auftrag der
Industrie in aller Welt. “85 Prozent davon sind Fische und kleine
Nagetiere”, erläutert ein HLS-Manager. “Lediglich ein Prozent unserer
Versuchstiere sind Hunde und Affen.” Das sind freilich immer noch 700
Tiere.

1996 konnte sich die Journalistin Zoé Broughton als Assistentin bei HLS
einschmuggeln. Unter ihrem weißen Kittel versteckt trug sie eine winzige
Kamera. Im März 1997 sendete Channel 4 das Ergebnis ihrer sechsmonatigen
Recherchen unter dem Titel “Ein Hundeleben”. Die Öffentlichkeit konnte
mit ansehen, wie Laborangestellte unter den gleichgültigen Blicken ihrer
Kollegen Beagles schlugen, um sie für eine Blutabnahme gefügig zu machen.
Es war Wahlkampf, und die Labour-Regierung beschloss, HLS-Aktien aus dem
Portfolio staatlicher Pensionsfonds zu streichen, während einige Kunden
des Großlabors ihren Vertrag kündigten. Zwei Angestellte wurden entlassen
und vor Gericht gestellt, und die Behörden entzogen der Firma für sechs
Monate die Genehmigung, Tierversuche durchzuführen. Das Management wurde
ausgewechselt, Brian Cass, zuvor Leiter des Covance-Labors, zum neuen
Chef ernannt.

Wir durften den Betrieb besichtigen. Bei unserem Rundgang hatten wir den
Eindruck, dass die Hunde nicht schlecht behandelt werden: Sie kommen
angelaufen und lassen sich streicheln. Einer zitterte jedoch, als wir auf
ihn zugingen. Die Käfige sind sauber, jeweils zwei stehen beieinander,
damit die Hunde sich nicht isoliert fühlen. Die Beagles haben jeden Tag
eine halbe Stunde Auslauf, wenn auch nur auf einem Gang. Von den
Laboranten werden sie gut behandelt, was allerdings eine höchst relative
Aussage ist. Denn täglich werden ihnen über das Tierfutter oder über eine
Inhalationsmaske irgendwelche Stoffe verabreicht. Und am Ende werden sie
ausnahmslos getötet und seziert, um Post-mortem-Untersuchungen
durchzuführen. Zudem konnten sie zeit ihres Lebens nie über ein Feld
rennen. “Natürlich haben sich die Tiere dieses Leben hier nicht
ausgesucht”, meint einer der Wissenschaftler, der nach dem Skandal von
1997 zu HLS kam. “Aber wir behandeln sie, so gut es geht. Klinischer
Stress würde die Testergebnisse ohnehin nur verfälschen. Hier macht es
niemandem Spaß, Hunde als Versuchstiere zu benutzen, aber bei manchen
Untersuchungen gibt es keine Alternative.”

Ein anderer Forscher erklärt: “Wir arbeiten daran, Zwergschweine an
Stelle der Hunde zu verwenden, aber wir wissen eben mehr über den Beagle,
der seit den Sechzigerjahren in der Forschung eingesetzt wird.” Und ein
Abteilungsleiter fügt hinzu: “Die Verwendung von Schweinen ließe sich der
Öffentlichkeit zwar leichter vermitteln, aber dieser Ansatz ist
wissenschaftlich derzeit noch nicht haltbar.” Dagegen versucht Firmenchef
Cass, das Leiden der Tiere zu relativieren: “Jedes Jahr werden in diesem
Land 750 Millionen Tiere getötet, damit die Menschen ihr Fleisch essen
können, für Versuchszwecke dagegen nur 3 Millionen. Die ganze Problematik
hat doch starke kulturelle Konnotationen: In Korea zum Beispiel werden
Hunde verzehrt, in Großbritannien dagegen spenden die Leute mehr Geld für
das Gnadenbrot alter Rennpferde als für Waisenkinder. Außerdem sind die
Bedingungen für Tierversuche bei uns besser als in Frankreich!” Seit 1997
sind in Großbritannien Tierversuche für die Entwicklung von
Schönheitsprodukten verboten; in Frankreich wurde das bislang von der
Kosmetikindustrie verhindert.

Allerdings verlautet aus zuverlässigen Quellen, dass HLS nach wie vor
äußerst grausame Versuche durchführt. So sollen 2003 halogenierte
Kohlenwasserstoffe an Hunden getestet worden sein, obwohl dies seit 15
Jahren verboten ist.5 Außerdem gibt es diverse Berichte über Versuche für
ein neues Knochenmedikament im Auftrag einer japanischen Firma, bei
denen 37 Hunden die Pfoten gebrochen wurden.

HLS behauptet, jedes Pharmaprodukt müsse nach geltendem Recht vor der
Vermarktung an zwei Säugetierarten – in der Regel Ratte und Hund –
getestet werden, um unerwünschte Nebenwirkungen beim Menschen
auszuschließen. Die tatsächliche Gesetzeslage ist komplexer. Eine Quelle
aus dem britischen Innenministerium kommentiert den Medicine Act von
1968, der als Konsequenz des Contergan-Skandals6 beschlossen wurde: “Die
gesetzlichen Regelungen schreiben keine Tierversuche vor, wenn
verlässliche Informationen auch auf anderem Wege erzielt werden können.
Es besteht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Tierversuche als eine
Etappe notwendig sind, um wirksame und sichere Produkte für den Menschen
zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.” Hier ist von hoher
Wahrscheinlichkeit und nicht von wissenschaftlicher Gewissheit die Rede.
Und Vivisektionsgegner verweisen auf Arzneimittel, die beim Menschen
Nebenwirkungen, beim Tier jedoch keine zeigen, und umgekehrt.7

Robert Combes, wissenschaftlicher Leiter des “Fund for the Replacement
of Animals in Medical Experiments” (Frame) sucht mit seinem
Forschungsteam nach Ersatzlösungen, die Tierversuche mittelfristig
überflüssig machen könnten. Finanziert wird die Stiftung sowohl von
Tierschutzorganisationen als auch von Pharmaunternehmen. Dies ist für die
ALF Grund genug, Frame zu einer “legitimen Zielscheibe” zu erklären. Die
Rede von der Notwendigkeit von Tierversuchen zeugt im Grunde von
“wissenschaftlichem Konservativismus”, meint Combes: “Die
Grundlagenforschung ist an Alternativen nicht interessiert. Das enorme
Potenzial von Computersimulationen wird nicht einmal ansatzweise
ausgeschöpft.” Notwendig seien Tierversuche vor allem aus
wirtschaftlichen Gründen: “In Japan und in den Vereinigten Staaten sind
Tierversuche zwingend vorgeschrieben.” Die oben zitierte Quelle aus dem
britischen Innenministerium bestätigt: “Die Unternehmen wollen ihre
Erzeugnisse in mehreren Wirtschaftsregionen verkaufen, entsprechend
verfahren sie mit ihren Tests.” Combes nennt noch einen anderen Grund:
“Tierversuche sind leichter durchzuführen; da hat die Suche nach
Alternativen keine Priorität, außerdem ist sie unterfinanziert.”

Die Pharmaindustrie wirbt für die “traurige Notwendigkeit” von Versuchen
an lebenden Tieren, hält aber die Taschen zu, wenn in Alternativen
investiert werden könnte. HLS spendet an Frame nur einen symbolischen
Obolus, weiß diesen Beitrag jedoch medial in Szene zu setzen. Gesundheit
ist ein lukratives Geschäftsfeld, und HLS wie die Unternehmen, deren
Aufträge das Labor durchführt, unterliegen der Logik des Profits, die da
heißt: weltweite Vermarktung zu möglichst geringen Kosten bei
gleichzeitiger Rechtssicherheit im Fall von unvorgesehenen Folgen für die
Gesundheit des Menschen und die Umwelt.

Für die Tierschutzguerilla gegen Vivisektion ist HLS inzwischen zum
symbolischen Feind geworden, den es stellvertretend für die ganze Branche
zur Strecke zu bringen gilt. Die weltweite Kampagne gegen Tierversuche,
SHAC (Stop Huntingdon Animal Cruelty), veröffentlicht auf einer Webseite8
die Namen von Unternehmen, die mit HLS zusammenarbeiten, und ruft die
Öffentlichkeit zum Handeln auf – durch Mail- und Fax-Schreiben,
Telefonrundrufe, Mahnwachen vor den HLS-Büros mit Fotos von zerstückelten
Hunden. Leitende Angestellte – die Adressen des Personals zirkulieren im
Internet – müssen mit unangenehmen nächtlichen Besuchen rechnen. Dabei
kann es schon mal zu Gewalt gegen Sachen und Personen kommen. Anders als
die ALF ruft SHAC offiziell nicht zu rechtswidrigen Handlungen auf,
obwohl der Leiter der Initiative, Greg Avery, bereits mehrmals angeklagt
war und rechtskräftig verurteilt wurde.

Wir trafen ihn auf der Londoner Oxford Street beim Unterschriften- und
Spendensammeln für SHAC. “Die Schließung von Hillgrove” – die Zuchtfarm
für Laborkatzen wurde 1999 in den Bankrott getrieben – “hat uns gezeigt,
dass wir unsere Ziele erreichen können, indem wir auf die Aktionäre
einwirken.” Die Fonds-Gesellschaften Barclays, HSC, Oracle, Merill Lynch
und andere stießen ihre Kapitalanteile an HLS ab, weil sie die dauernde
Belästigung leid waren und ihr Personal schützen wollten.

Als sich nach anhaltenden Pressionen im Januar 2001 auch die “Royal Bank
of Scotland” zurückzog, wurde HLS in letzter Minute durch einen
US-Investor, die Stephens Group, vor dem sicheren Bankrott bewahrt. Um
dem SHAC-Kollektiv den Wind aus den Segeln zu nehmen, zog sich HLS ein
Jahr später vom Londoner Aktienmarkt zurück und ließ sich an der New
Yorker Technologiebörse Nasdaq notieren, wo die Aktionäre anonym bleiben
können. Dann aber gerieten Deloitte & Touche, die Wirtschaftsprüfer von
HLS, ins Visier – und verzichteten auf ihren Kunden. Wenig später zog
sich auch die Versicherungsgesellschaft Marsh & McLellan zurück; seitdem
muss HLS vom britischen Staat direkt versichert werden. Die japanischen
Kunden des Labors verfolgt SHAC nicht nur in London, sondern auch in
Tokio, in Schweden, in der Schweiz und in Italien.

In der Nacht zum 25. September 2003 verwüstete in Kalifornien ein
Bombenanschlag der “Revolutionary Cells” die Niederlassung eines
japanischen HLS-Kunden. Prompt reiste der britische Wissenschaftsminister
Lord Sainsbury nach Tokio, um die Pharmaindustrie zu beruhigen. An der
Londoner Börse sprach man von “Investitionsterrorismus”, der die
Forschung gefährde, und setzte für Informationen, die zur Ergreifung der
Täter führen, eine Belohnung aus. Die Financial Times schrieb: “Eine
kleine Aktivistengruppe hat Erfolg, wo Karl Marx, Baader-Meinhof und die
Roten Brigaden scheiterten.”

Rund 100 000 Pfund kam HLS nach Angaben von Firmenchef Cass eine
gerichtliche Verfügung zu stehen, die Demonstrationen in unmittelbarer
Nähe der Firmengebäude und des Wohnsitzes von HLS-Angestellten
untersagte. Kunden des Unternehmens unternahmen ähnliche Schritte.
Seither nimmt sich die SHAC-Initiative “sekundäre Ziele” vor, die sich
die Gerichtskosten von 20 000 Pfund nicht leisten können. Die Zahl
gewalttätiger Aktionen ist in der Zwischenzeit deutlich angestiegen, im
ersten Quartal 2004 waren es 46.

Die Folge war, dass 22 Unternehmen innerhalb von vier Monaten ihre
Verträge mit HLS kündigten, bis hin zu dem Taxiunternehmen, das lediglich
Kunden und Mitarbeiter des Unternehmens bediente. Mark Matfield zählt
insgesamt 400 Personen, die er in einer Initiative von SHAC-Opfern zu
organisieren sucht. “Einige leiden an nervösen Störungen. Ganze Familien
fühlen sich terrorisiert.” Der konservative Abgeordnete von Huntingdon,
Jonathan Djanogly, verlangt schärfere Maßnahmen analog zum Kampf gegen
Hooligans: “Diese Terroristen greifen die Grundfesten unserer Demokratie
an.”

Die Tierbefreiungsbewegung dagegen sieht ihre Aktionen als Einsatz für
eine “partizipative Demokratie”, die der Trägheit der repräsentativen
Demokratie entgegenwirkt. Tierschutzaktivist Mel Broughton meint hierzu:
“Bevor New Labour 1997 an die Regierung kam, versprach die Partei den
Tierschützern wiederholt Gesetzesänderungen. Die Zusagen wurden nicht
gehalten. Barry Horne hungerte sich zu Tode, um Blair an sein
Wahlprogramm zu erinnern. Die Politiker sind mit den Wirtschaftsbossen
viel zu eng verbandelt und deshalb nicht mehr handlungsfähig. Nur die
direkte Aktion von unten kann sie zum Handeln bewegen.”

Tatsächlich haben die Aktionen der Tierschützer auf die politischen
Entscheidungsprozesse einen Einfluss, der gegen die Interessen der
Pharmalobby gerichtet ist. Auch Mark Matfield räumt ein, dass “ihre
legalen Demonstrationen die öffentliche Debatte bereichert und dazu
beigetragen haben, dass Großbritannien 1986 das weltweit strengste Gesetz
über Tierversuche verabschiedete”. London will nun die Strafverfolgung
von Ökokriegern verschärfen und verspricht gleichzeitig die Einrichtung
eines nationalen Forschungszentrums, das Alternativen zu Tierversuchen
entwickeln soll.

Angesichts des englischen Mehrheitswahlrechts, das dem Wähler nur die
Wahl zwischen den etablierten, im Parlament vertretenen Parteien lässt,
finden sich Teile der öffentlichen Meinung im politischen System nicht
repräsentiert. Insofern zeigen die Aktionen der Tierschützer – solange
sie gewaltfrei bleiben -, dass es durchaus möglich ist, Bewegung in die
parlamentarische Demokratie zu bringen.

Regisseur Terry Gilliam ließ sich bei "Twelve Monkeys" (mit Bruce Willis und Brad Pitt) von Chris Markers Kurzfilm "La Jetée" inspirieren.

Vier Millionen Briten sind Vegetarier, rund 250 000 Veganer, die überhaupt keine tierischen Erzeugnisse zu sich nehmen oder verwenden. Sie essen weder Fleisch noch Eier, Milch, Butter oder Käse und tragen auch keine Lederschuhe oder Wollpullover.

Über 121 Millionen Euro.

Den Affen werden ohne Betäubung, bei geöffneter Schädeldecke Elektroden ins Gehirn gepflanzt, um die Funktionsweise neuronaler Zusammenhänge zu studieren - sechs Stunden am Tag, fünf Tage in der Woche. Die Befürworter rechtfertigen solche Versuche mit der Artverwandtschaft von Mensch und Affe, die Gegner halten sie gerade deswegen für ethisch nicht vertretbar.

The Observer, 20. April 2003.

Das als Contergan vermarktete Arzneimittel löste 1957 einen gigantischen Skandal aus. Das als Schlaf- und Beruhigungsmittel gebräuchliche Medikament führte, wenn es von schwangeren Frauen eingenommen wurde, zu schweren Missbildungen bei den Kindern. Die Vivisektionsgegner sehen darin einen Beweis für die Nutzlosigkeit von Tierversuchen, die Befürworter bedauern, dass man das Medikament nicht ausreichend getestet hatte.

Alternativen zur Vivisektion - Zellkulturen, Computersimulationen usw. - werden unter www.experimentation-animale.org beschrieben.

Published 30 August 2004
Original in French
Translated by Bodo Schulze

© Le Monde diplomatique Eurozine

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