Demokratie braucht Lesekompetenz

Über intensives und fortgeschrittenes Lesen von Büchern in Zeiten künstlicher Intelligenz

Wo um Himmels willen bleiben nur die fliegenden Autos, fragte sich der amerikanische Anthropologe David Graeber vor zwölf Jahren. Wie wir alle, die wir in den 1960er-Jahren aufgewachsen sind und Familie Feuerstein geschaut haben, glaubte auch er als Kind, fliegende Autos würden im Jahr 2000 schon zu unserem Alltag gehören. Doch stattdessen, so beklagte er, hätten wir Technologien bekommen, welche die Realität perfekt simulieren können, jedoch keinerlei direkte Auswirkung auf unsere Lebensqualität haben: So könnten wir zwar in Videospielen im Weltraum umherfahren, lebten in der euroamerikanischen Zivilisation aber schlechter als unsere Eltern. Es sei der neoliberale Kapitalismus, fügte er resigniert hinzu, der alles daransetze, uns in Netze zu spinnen, in denen wir passiv, gefangen und kontrolliert für das Kapital bereitstehen, so viel Profit wie möglich aus uns zu schlagen.

Dabei übersah Graeber jedoch, dass einige Werkzeuge, die die Realität simulieren, in Wirklichkeit ein weitaus größeres Wunder darstellen als fliegende Autos. Smartphones haben alle Kommunikationsmedien des 20. Jahrhunderts – Schreibmaschinen, Kameras, Telefone, Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, Fernseher, Radios, Plattenspieler und Tonbandgeräte – zu einem einzigen, universellen Kommunikationsmedium komprimiert, kleiner als ein Taschenbuch. Mehr noch: Mit den richtigen Abos und einem Internetzugang kann ich mit diesem Medium auf das gesamte Wissen dieser Welt zugreifen, auch wenn ich hinter dem Mond lebe.

Natürlich hat Graeber recht, dass viele Menschen diese neue, brillante Technologie ausschließlich für Banalitäten nutzen: für stundenlanges Lästern, Jammern, Intrigieren, Kaufen und Verkaufen – und sich dabei in Netzen verheddern, von den Zaren globaler Online-Imperien geknüpft, um die Aufmerksamkeit der Menschen einzufangen und zu vermarkten. Wer Anfang der 1990er-Jahre glaubte, das Internet würde zum Werkzeug einer globalen Demokratie werden, war nun einmal naiv: Heute leben weniger Menschen in Demokratien als vor dem Ende des Kalten Krieges und der Erfindung des Internets,1 und in einigen traditionell stabilen westlichen Demokratien poltern Populismen, von denen wir noch vor wenigen Jahrzehnten glaubten, sie würden nur noch an den Rändern Europas bestehen.

Woher also dieser zivilisatorische Flop, leben wir doch in einer Zeit, in der jeder Mensch unbegrenzten Zugang zu Wissen und Informationen hat, was, technisch gesehen, die optimalen Voraussetzungen für die Entwicklung der Demokratie schafft?

Ich mache mir keine Illusionen, dass es auf diese Frage eine einfache Antwort gibt. Ich möchte nur auf eine marginale, aber wichtige Tatsache hinweisen: Eine der Voraussetzungen, um aus dieser Bredouille zu kommen, ist, dass wir bei dem ganzen Glanz und Gloria der Bildschirmzivilisation das Lesen längerer und komplexerer Texte nicht aufgeben. Dies werde ich anhand einer wirklich kurzen Übersicht über die Informationsgeschichte der Menschheit illustrieren, die zeigen wird, dass sich der Mensch sozial und kulturell eng verflochten mit Technologien entwickelt, aber nur ein Informationsmedium – das Buch, oder genauer gesagt, der längere, komplexere Text – die Entwicklung des abstrakten und analytischen Denkens tatsächlich wirksam unterstützt.

Enormes Entwicklungstempo 

Beginnen wir bei null. Vor einigen Millionen Jahren lernten die Vorfahren des Menschen einfache Werkzeuge zu benutzen. Das allein unterschied sie noch nicht von anderen Tierarten, denn auch einige Affen können mit einem Stein auf etwas schlagen, das anschließend ihre Nahrung sein soll. Die Funktion dieser Urwerkzeuge war einfach: Sie steigerten die Körperkraft desjenigen, der sie benutzte. Da diese Werkzeuge simpel waren, wurde das Wissen über ihre Anwendung durch Beobachtung und Übung von Generation zu Generation weitergegeben.

Dann aber geschah vor etwa zwei Millionen Jahren etwas Wundersames. Der Mensch begann symmetrische Faustkeile herzustellen, und parallel dazu wurde sein Gehirn größer. Die Herstellung eines solchen Werkzeuges war nicht möglich ohne verbale Kommunikation zwischen demjenigen, der lernte es herzustellen, und demjenigen, der es bereits beherrschte, weshalb der Beginn der Sprachentwicklung auf etwa diese Zeit datiert wird. Da diese Kommunikation – sozusagen – technische Anweisungen zur Herstellung eines symmetrischen Faustkeils enthielt, war sie komplexer als das Grunzen, Gurren, Zwitschern und Brüllen, mit dem sich andere Tierarten akustisch verständigten. Etwa zur gleichen Zeit lernte der Mensch auch, das Feuer zu nutzen – und das wäre ohne das Lernen mithilfe verbaler Kommunikation ebenso wenig möglich gewesen.2 Wir wissen nicht, warum die Vergrößerung des Gehirns, der Übergang von einfachen zu komplexen Werkzeugen und vom Brüllen zur Sprache nur beim Menschen stattgefunden hat. Es ist nach wie vor eines der größten Wunder der Menschheitsentwicklung. Die Hypothese, dies sei aufgrund klimatischer Veränderungen im Pleistozän geschehen, an die sich der Mensch durch Verhaltensänderungen anpasste, weil die genetischen Veränderungen für solche Anpassungen zu langsam waren,3 beschreibt diese rätselhafte Entwicklung ein wenig detaillierter, führt jedoch keine Ursachen dafür an. Lassen wir diese Frage daher außen vor: Wichtig ist für uns vor allem die Feststellung, dass die Sprachentwicklung beim Menschen schon von Beginn an eng mit der Entwicklung von Werkzeugen verbunden ist. Lassen Sie uns die Hypothese wagen, dass wir zu sprechenden Wesen geworden sind, indem wir Werkzeuge geschaffen haben, die, durch eine Rückkopplung, die wir noch nicht ganz verstehen, indirekt auch uns geschaffen haben.

Vor etwa 100 000 Jahren geschah dann ein weiteres Wunder: die Entstehung der symbolischen Kultur. Zunächst begann der Mensch, Gegenstände mit Ornamenten zu verzieren, vor etwa 70 000 Jahren entstanden dann die ersten Höhlenmalereien. Wie bei der Entstehung der Sprache kennen wir auch hier die Gründe nicht. Für uns ist vor allem wichtig, dass der Mensch mit Höhlenmalereien begann, abstrakte Botschaften zu erschaffen, die von seiner Präsenz und Existenz zeugten, auch wenn er nicht präsent war oder nicht mehr existierte. Dies war ein gewaltiger Sprung in der Entwicklung, da für eine relativ komplexe Kommunikation die unmittelbare menschliche Nähe nicht mehr erforderlich war. Mit anderen Worten waren Höhlenzeichnungen die ersten Informationswerkzeuge, die es dem Menschen ermöglichten, Informationen und Geschichten über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg auszutauschen. Damit war eine grundlegende Voraussetzung dafür erfüllt, dass Menschen begannen, Gemeinschaften zu bilden, die größer waren als die Horden, in denen sie zuvor gelebt hatten. Der Grundstein für die alte Weisheit «Viele Köpfe wissen mehr als einer» war gelegt.

Seitdem legte die Entwicklung des Menschen und der Informationswerkzeuge rasant an Tempo zu. Von den ersten Höhlenmalereien bis zur Entstehung der Schrift dauerte es nur noch gute 70 000 Jahre. Etwa 7000 Jahre nach der Entstehung der Schrift erfand der Mensch dann die Möglichkeit, Texte mithilfe von Druckpressen maschinell zu reproduzieren. Danach dauerte es nur noch 500 Jahre bis zur Erfindung der mechanischen Wiedergabe von Bild und Ton. Etwa 100 Jahre später kamen Personal Computer und das Internet auf, und gut 30 Jahre später die künstliche Intelligenz. Parallel dazu wurden die Medien zur Speicherung von Wissen immer leistungsfähiger. Antike Schriftrollen konnten mehr Text speichern als Tontafeln, ein handgeschriebener Kodex mehr als eine Schriftrolle und ein gedruckter Kodex mehr als eine handschriftliche Abschrift desselben Textes. Auch die Preise für solche Medien sanken: Kostete zu Gutenbergs Zeiten ein Exemplar einer gedruckten Bibel noch so viel wie ein Haus in Mainz,4 entspricht der Preis eines gedruckten Buches heute dem eines günstigen Mittagessens. Computer und Smartphones (also Computer im Taschenformat) sind zwar teuer, berücksichtigt man jedoch die Kommunikationsmöglichkeiten, die sie eröffnen, und die Menge an Informationen, auf die sie zugreifen können, scheinen die Kosten verschwindend gering.

Infolgedessen ist auch der Zugang zu Informationen immer einfacher geworden. Mussten Gebildete der Antike und des Mittelalters noch von Bibliothek zu Bibliothek pilgern, um an alle wichtigen Werke ihrer Zeit zu gelangen, so ist das Grundkonzept der Bibliothek von Alexandria – das gesamte Wissen der antiken Welt an einem Ort zu bündeln – mit der Entwicklung von Universitäten ab dem 18. Jahrhundert das Konzept jeder Universitätsbibliothek. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Gebildeten mussten meine Verwandten, die vor etwa 120 Jahren als erste der Familie einen Universitätsabschluss erwarben, aus dem slowenischen Hinterland nur an einen einzigen anderen Ort pilgern, meist nach Wien, manchmal auch nach Prag oder Paris, wo ihnen der Großteil des Wissens auf dem Gebiet, das sie studierten, in Universitätsbibliotheken zur Verfügung stand; nur dort konnten sie auch die Menschen treffen, die ihnen halfen, sich Wissen anzueignen und es zu teilen. Ich habe es noch einfacher, kann ich doch, zumindest theoretisch, mit Laptop und Internet über meine akademische Identität von überall zu nichtigen variablen Kosten auf (fast) das gesamte Wissen dieser Welt zugreifen und obendrein mit jedem und jeder kommunizieren. ChatGPT und DeepL helfen mir Sprachbarrieren auf eine Art und Weise zu überwinden, die vor 50 Jahren noch unvorstellbar war.

Kognitives Exoskelett: Ein Medium zwischen Weisheit und Wahnsinn

Kurzum, die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte immer günstigerer und leistungsfähigerer Informationswerkzeuge, mit denen der Mensch immer mehr Informationen und Wissen außerhalb seines Kopfes speichert. Zugleich nehmen immer mehr Menschen an der Entwicklung und dem Konsum dieses Wissens und dieser Informationen teil, unabhängig von sprachlichen und kulturellen Einschränkungen. An dieser Stelle wollen wir diese Werkzeuge zusammenfassend als kognitives Exoskelett bezeichnen. Da mit seinem Wachstum und der Zunahme an Zugangspunkten zu diesem das menschliche Wissen in allen Bereichen gewachsen ist, ist damit auch die Entwicklung vieler anderer Technologien verbunden, mit denen wir unsere physischen Grenzen drastisch überwunden haben: Nur 2000 Jahre nach der Erfindung der Alphabetschrift fliegen wir ins Weltall und können genügend Nahrungsmittel produzieren, um dreißigmal mehr Menschen zu ernähren als noch vor 1000 Jahren.

Doch das Wachstum des kognitiven Exoskeletts an sich ist keine Garantie für den zivilisatorischen Fortschritt: Es dient nicht nur der Verbreitung von Wissen, sondern auch der Verbreitung von Unsinn und Vorurteilen, und kann unter ungünstigen Umständen auch zerfallen. So implodierte die Antike in das deutlich un-sinnigere finstere Mittelalter, und das liberale Europa taumelte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wie ein Kontinent voller Schlafwandler, in den Ersten Weltkrieg, aus dem die drei großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hervorgingen. Die Entwicklung des Buchdrucks beschleunigte nicht nur die Entwicklung der Wissenschaft und der Renaissance, sondern ermöglichte in ganz Europa auch Hexenverfolgungen, die erste Massenhysterie, in der Tausende von Menschen starben. Im 17. Jahrhundert bildete der Buchdruck die Grundlage für den ersten echten ideologischen/religiösen Krieg in Europa mit verheerenden Folgen, und die audiovisuellen Medien waren das wichtigste Propagandawerkzeug des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Bolschewismus; diese Ideologien forderten Dutzende Millionen Todesopfer.

Auch heute, so scheint es, sind wir in einer ähnlichen Dualität gefangen. Einerseits blicken wir mit Weltraumteleskopen in die Anfänge des Universums, entschlüsseln das menschliche Genom und tüfteln an der Quantenmechanik, andererseits stecken einige von uns geistig immer noch im frühen Mittelalter. Die Überzeugung, die Erde sei flach, der Glaube an Geheimbünde, welche die Welt kontrollieren, Politiker, die im Namen der einen oder anderen Ideologie, durchdrungen von religiösem Fundamentalismus, die Welt in blutige Kriege verwickeln (damit meine ich natürlich die Hamas, Benjamin Netanjahu und Wladimir Putin, die scheinbar alle den Populismus-Grundkurs bei Slobodan Milošević besucht haben), die Zunahme populistischer Bewegungen, die genau jene Totalitarismen relativieren, die im 20. Jahrhunderts fast Europa begraben hätten, als könne man aus dem Zerfall Jugoslawiens nichts lernen – all das zeigt, dass wir Menschen trotz des immensen Wachstums des Hirn-Exoskeletts immer noch nicht verstehen, wie menschliche Gesellschaften funktionieren und warum wir so fühlen und denken, wie wir es tun. Trotz all unseres Wissens sind wir also immer noch ziemliche Idioten.

Doch woher kommt diese Doppelwirkung des kognitiven Exoskeletts?

Lassen Sie uns zwei Hypothesen wagen. Erstens gibt es zumindest in den letzten 500 Jahren einen ziemlich eindeutigen Zusammenhang zwischen den Wachstumsschüben des Exoskeletts und dem Verständnis dessen, was der Mensch ist: Wenn die Erfindung des Buchdrucks zu der Erkenntnis führte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, so fiel die Erfindung der Dampfpresse mit der Erkenntnis zusammen, dass wir nicht die Krone der Schöpfung, sondern das Ergebnis der Evolution sind, und die Erfindung der Elektrizität und der damit verbundenen Kommunikationswerkzeuge mit der Erkenntnis, dass wir oft nicht Herr unserer eigenen Gedanken und Gefühle sind. Darüber hinaus veränderte sich mit der Erfindung neuer Informationstechnologien auch das Vokabular und damit die Art und Weise, wie die Menschen ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken. Carlo Rovelli zeigte beispielsweise, dass die Alphabetschrift zur Metapher wurde, mit der Demokrit seine Theorie über die Existenz von Atomen formulierte. Wörter für Farben – die mit ihren symbolischen Bedeutungen ebenso Informationswerkzeuge sind – tauchten in der Antike erst auf, als die Menschen lernten diese herzustellen, und so entstanden ganz neue Möglichkeiten, Gefühle auszudrücken.5 Ohne die Bibliothek als Metapher wäre es schwer, die Theorie des menschlichen Genoms in Worte zu fassen. Der elektrische Schaltkreis ist zu einer Metapher für die Funktionsweise der Neuronen im Gehirn geworden6 und die Computerschnittstelle zu einer Metapher für die Funktionsweise der menschlichen Wahrnehmung und des Bewusstseins.7 Wikipedia und Youtube sind zu Metaphern für die Beschreibung der Funktionsweise des Gedächtnisses geworden.8 Yuval Harari erklärt den Unterschied zwischen Demokratie und Totalitarismus anhand der Funktionsweise von Informationsnetzwerken; und so weiter.

Zusammenfassend können wir davon ausgehen, dass die Entwicklung der Informationstechnologien die Komplexität des Wortschatzes, des Empfindens und der Wahrnehmung der menschlichen Situation in der Welt erhöht. Ich glaube, dass diese Hypothese relativ bald mithilfe künstlicher Intelligenz getestet werden kann.

Doch – und das ist unsere zweite Hypothese – haben sich neue Informationstechnologien und die damit verbundenen Veränderungen in der Sprache und im Denken nur dann durchgesetzt, wenn die passenden, nennen wir sie gesellschaftlichem Wandel zugeneigten Umstände dafür existierten. Die Griechen der Antike konnten zum Beispiel einfache analoge Computer bauen, doch das Wissen darüber verschwand, weil sie in den Gesellschaften ihrer Zeit kein alltäglich notwendiges und nützliches Werkzeug waren.9 Im Gegensatz dazu explodierte der Buchdruck im 15. Jahrhundert geradezu, weil die neu entstehende Marktwirtschaft mit ihrem dezentralen Charakter ein ideales Umfeld für seine Entwicklung bot, während zeitgleich veränderte Produktions- und Handelsformen immer mehr schreib- und lesekundige Menschen erforderten. In ähnlicher Weise fiel die Entwicklung audiovisueller Medien mit der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung zusammen und beschleunigte sie zugleich. Darüber hinaus lehrt uns die Geschichte des Buchdrucks, Verlagswesens, Bibliothekswesens, Radios, Fernsehens, Telefons, Telegrafen und des World Wide Web auch, dass sich mit der Entwicklung des kognitiven Exoskeletts die Zahl der Zugangspunkte zu diesem erhöht und denjenigen eine Stimme gibt, die davor keine hatten. Dies ist ein weiteres Moment, das etablierte politische, wirtschaftliche und soziale Beziehungen aufweicht.

Ein solches Zusammentreffen entsprechender sozialer Umstände, technologischer Entwicklungen und Veränderungen im Denken, Empfinden und dem menschlichen Selbstbild ist nach wie vor selten, aber potenziell umso zerstörerischer: In der Natur menschlicher Gesellschaften liegt scheinbar auch, dass manchmal alles Ständische und Stehende verdampft und alles Heilige entweiht wird, wie ein weiser Mann vor fast zweihundert Jahren bemerkte. Zuflucht in vereinfachten Antworten zu suchen – die Hexen sind an allem schuld! die Juden sind an allem schuld! die Klassenfeinde sind an allem schuld! – scheint angesichts solcher sozialen und psychologischen Umwälzungen beinahe eine normale menschliche Reaktion zu sein.

Aber sie ist keinesfalls die einzig mögliche. Es gibt auch eine andere, demokratische Antwort auf solche Herausforderungen, und die ist eng mit dem Lesen von Büchern verbunden. Doch woher kommt diese ungewöhnliche Verbindung?

Ein neuer New Deal: Das Bücherlesen als Training für analytisches Denken

Die Antwort ist vielschichtig. Tatsächlich denken und kommunizieren wir auf unterschiedliche Weise, aber wenn uns die Worte fehlen, ist unsere Kommunikationsfähigkeit radikal eingeschränkt. Ab diesem Punkt ist die Analogie relativ einfach: Je mehr Worte ich beherrsche und je mehr ich in der Lage bin, meine Gedanken in komplexen Sätzen zu artikulieren, desto kompliziertere und komplexere Dinge kann ich mit meinen Mitmenschen diskutieren, desto komplexer und produktiver sind auch meine Interaktionen mit dem kognitiven Exoskelett – und umso unwahrscheinlicher ist es, dass ich turbulente Zeiten nur in vereinfachten, paranoiden Antworten interpretieren kann.

Da kein anderes Medium so viele verschiedene Worte und komplexe Sätze enthält wie anspruchsvollere literarische Texte, ist das Lesen von Büchern ein hervorragendes Training für das Erlernen dieser Art von Textfähigkeiten. Und mehr noch. Kein anderes Medium ermöglicht uns so intensives Einfühlen – oder gedankliches Polemisieren – mit Menschen, die anders sind, als belletristische Werke. Beim Lesen müssen wir die Dynamik der Handlung, die Figuren und ihre Beziehungen im Kopf wiedergeben, während sie uns bei Hörbüchern, Filmen und Fernsehserien auf dem Silbertablett serviert werden. Hinzu kommt, dass visuelle und akustische Medien unsere Aufmerksamkeit mit immer neuen Reizen einfangen, während beim Lesen alles, was geschieht, nur in unserem Kopf stattfindet. Dafür sind eine höhere Konzentration und mehr Selbstdisziplin erforderlich, zugleich bietet es uns aber auch – weil wir die Lesedynamik selbst bestimmen – mehr Raum zum Nachdenken. Folglich sind längere Texte der Teil des kognitiven Exoskeletts, der das effektivste Training für die Entwicklung von einem größeren Wortschatz, analytischem Denken, Konzentration, Selbstdisziplin, Ausdrucksfähigkeit und Selbstreflexion bietet sowie das Vermögen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und die Regeln der Logik zu verstehen. So ein Lesen haben wir Autor:innen des Ljubljana-Manifests als intensives Lesen und fortgeschrittene Lesekompetenzen definiert.10

Natürlich sind nicht alle Bücher – und nicht jedes Lesen – an sich gut. Buchautor:innen und -leser:innen waren auch Soziopathen wie Hitler, Stalin und Mao. Sie schlossen die Gesellschaften, in denen sie lebten, meisterhaft in eine einzige, riesige analoge Gedankenblase voller Verschwörungen, Hass und Vorurteile ein und waren, kurz gesagt, Meister der vereinfachten Antworten. Diese zwangen sie der gesamten Gesellschaft auch dadurch auf, dass sie durch staatliche Zensur alle Informationen, Texte und Ansichten vertrieben, die die Konsistenz ihres ideologischen Universums in Frage stellen könnten. Intensives Lesen und fortgeschrittene Lesekompetenzen kann es also nur dort geben, wo es möglich ist, sich zwischen verschiedenen Gedankensystemen zu bewegen. Intensives Lesen, fortgeschrittene Lesekompetenzen und Demokratie sind Schwestern im Geiste.

Wir sollten also nicht verzagen: Wenn wir annehmen, dass diejenigen recht haben, die beklagen, der Aufstieg des Populismus unserer Zeit würde immer mehr an die 1930er-Jahre erinnern, dann können wir genau dort auch einen Lösungsansatz finden. Nationalsozialismus, Stalinismus und Faschismus waren nicht die einzigen möglichen Antworten auf die soziale, wirtschaftliche, kulturelle und mediale Krise jener Zeit. Es gab auch eine demokratische Antwort, die in den USA entwickelt wurde und New Deal genannt wird. Neben den vielen sozialen Maßnahmen, die Bernie Sanders wie einen harten Republikaner hätten aussehen lassen, haben die Autoren des New Deal noch etwas anderes verstanden: Ungeachtet der explosionsartigen Verbreitung von Radio und Kino – den neuen Medien jener Zeit – sind die Grundlage einer Demokratie Bürger:innen, die in der Lage sind, über neue, bisher unbekannte gesellschaftliche Probleme analytisch nachzudenken und Kompromisse zu schließen, statt der Demagogie vereinfachter Antworten auf den Leim zu gehen. Nur eine ausreichend große kritische Masse von Menschen mit solchen Fähigkeiten garantiert, dass wir durch Dialog und die Suche nach Kompromissen zu einer Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik finden, welche verhindert, dass wir angesichts informationeller, technologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen abermals in neue Formen der Hexenjagd abgleiten.

Solche Fähigkeiten – einst verstanden die Amerikaner auch das – entwickeln sich nur in einem anspruchsvollen, doch zugleich zugänglichen Bildungssystem und durch das Lesen längerer, komplexer Texte, weshalb der New Deal auch Investitionen in Bildung und Bibliotheken bedeutete. Heute ist dies in einigen westlichen Gesellschaften in Vergessenheit geraten, und wir drängen intensives Lesen und fortgeschrittene Lesekompetenzen an den Rand der Kultur und aus den Lehrplänen von Schulen und Universitäten.

In Zeiten künstlicher Intelligenz erscheint das umso weniger vernünftig. Im Gegensatz zu früheren Informationstechnologien, die lediglich das kognitive Exoskelett vergrößerten und die Zahl der Zugangspunkte zu diesem erhöhten, kann die künstliche Intelligenz selbständig neue Inhalte schaffen. In der Wissenschaft kann sie zum Beispiel jahrelange Laborarbeit auf wenige Monate verkürzen und in riesigen Datenmengen nach Mustern suchen, die wir mit dem menschlichen Gehirn allein nicht erkennen würden. Zweifellos verspricht sie neue Erkenntnisse und Entdeckungen sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften. Da sie aber auch auf Kommando Texte schreiben und übersetzen, Filme und audiovisuelles Material erstellen kann und dabei lügt, ohne rot zu werden, ist sie auch ein ideales Werkzeug für die Verbreitung von Wahnsinn, Lüge und Vorurteil. Mehr noch: Sie kann meisterhaft vortäuschen, ein Mensch zu sein, wenn wir mit ihr chatten.

Die Leichtigkeit, mit der Inhalte produziert werden und menschliche Nähe simuliert wird, sowie die Veränderungen in Wissen und Wortschatz, ziehen uns mit einer noch nie erlebten Kraft den Boden unter den Füßen weg. In Kombination mit dem weltweiten Demokratieschwund und immer größerer sozialer Ungleichheit bringt uns das an einen brandgefährlichen Punkt in der Geschichte, der geradezu nach vereinfachten Antworten schreit; schon ein kurzer Blick aus der Vogelperspektive zeigt, dass sie in (fast) allen entwickelten Ländern den Wählern angeboten werden.

Ich glaube daran, dass die Menschheit auch diese Herausforderung letztlich meistern wird. Doch bin ich mir nicht sicher, ob das allen Kulturen gelingen wird: Die Gesellschaften, die verstehen, dass das vermeintliche Dilemma zwischen Bomben, Brot und Büchern in Wahrheit gar keines ist, lassen sich an einer Hand abzählen.

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Published 29 October 2025
Original in Slovenian
Translated by Liza Linde
First published by Razpotja 3/2024(Slovenian original); Wespennest 1/2025 (German version); Eurozine (English version)

Contributed by Razpotja & Wespennest © Miha Kovač / Razpotja / Wespennest / Eurozine

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