"Kultur" statt "Gesellschaft"?

Die aktuelle Diskussion in der Geschichtswissenschaft

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Die Faszination durch “Kultur” scheint heutzutage in vielen Bereichen die Betonung von “Gesellschaft” abgelöst zu haben, wie sie in den 1960er und 70er Jahren vorherrschte. Die Geschichtswissenschaft – und damit ist hier speziell die neuere Geschichte (18. bis 20. Jahrhundert) gemeint – hat diese Reorientierung intensiv mitgemacht. Historiker und Historikerinnen haben durch ihre Hinwendung zu Kultur, Sprache, Symbolen und Weltsichten Tendenzen nachvollzogen, die etwa in Nordamerika und Frankreich schon länger virulent waren; sie haben Theoriedebatten geführt und Forschungsansätze erprobt, die in anderen Disziplinen bereits für Unruhe gesorgt hatten. Nicht zuletzt haben sie Herausforderungen des “Zeitgeistes” aufgenommen und ihre Debatten in die Öffentlichkeit getragen. Polemische oder programmatische Stichworte dieser breiteren Debatte waren linguistic turn, Postmoderne, Dekonstruktion oder kulturelle Wende.2 Modischer Überschwang und grundsätzliche Neuorientierung stehen dabei durchaus Widerständen und Kritik gegenüber. Die starke Betonung einer Analyse politischer Prozesse in aufklärerischer Absicht, die die “neue” Sozialgeschichte der 1960er und 70er Jahre prägte,3 wirkte zunächst als Abwehrfront.4

Fragt man also nach der Karriere des Kulturbegriffs bei den Historikern, läßt sich also sagen: Kultur ist in der Geschichtswissenschaft so aktuell wie lange nicht, und im Fach findet eine intensive Aus-einander-setzung um “Kultur”-Begriffe sowie um Identität und Vorgehen der Kultur-geschichte oder einer – wie manche sagen – “Historischen Kulturwissenschaft” statt. In erstaunlichem Maße ist versucht worden, von etablierten Positionen des Fachs aus diese Debatte zu adoptieren und zu kanalisieren.5 Nach jahrelangen Debatten, die nach dem Muster von Zentrum und Peripherie zwischen Alltags-, Erfahrungs- und Geschlechtergeschichte und der etablierten Disziplin geführt worden sind, ist in den 90er Jahren von älteren, etablierten Fachvertretern beherzt eine “nachholende Modernisierung” eingeleitet worden. Sehr deutlich unter-strichen werden sollte jedoch, daß die “kulturelle Wende” ingesamt keine Sonderentwicklun-g innerhalb des Faches Geschichte oder gar Neuere Geschichte darstellt, sondern daß hier breite, die Sozial- und Geistes-wissenschaften, ja die Gesellschaft insge-samt durchziehende Tendenzen zum Ausdruck kommen.

In diesem Beitrag soll nun zunächst versucht werden, die konzeptuellen und thematischen Verschiebungen zu skizzieren, die mit den erwähnten Schlagworten benannt worden sind. Nachdem drei Merkmale der “kulturgeschichtlichen Wende” identifiziert worden sind, soll nach Gründen für diese inner- und außerwissenschaftlichen Entwicklung gefragt werden. Abschließend sei auf einige Problemfelder hingewiesen, die sich aus der erfolgreichen Durchsetzung der neuen Perspektiven ergeben.

Verschiebungen

Was sind die Kennzeichen dieser fachinternen Neuorientierungen? Sie lassen sich an den Themen, den interdiszi-plinä-ren Allianzen sowie den bevorzugten Forschungsansätzen und Fragestellungen festmachen.5 Bei der Themenwahl ist es zu folgen-reichen Umorientierungen gekommen, die zwei-fellos weiterge-hen. Kulturgeschichte, “intellectual history” und Ge-schlechtergeschichte sind die Wachstumsbranchen geworden. Darin hat die Auf-merksamkeit für symbolische und diskursive Weltaneignung, für Klassifikationen und Logiken, für Deutungs-kämpfe und Distinktionen, für eine Historisierung von Subjektivität und Erfahrung deutlich die Oberhand gewonnen gegenüber den noch vor zwei Jahr-zehnten “heißen” Themen wie soziale Bewegungen, Klassenbildung, Fami-lien-strukturen oder Lebens-standard.

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: während meiner eigenen Studien- und Qualifizierungszeit in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren galt in der Sozialgeschichte die Quantifizierung als Maßstab der Wissenschaftlichkeit – sicherlich nicht als der einzige und zweifellos kaum akzeptiert jenseits der Wirtschaftsgeschichte, der Historischen Sozialwissenschaft und der Historischen Demographie, aber doch selbstbewußt und mit Nachdruck vorgetragen. In Frankreich, dessen Historikergruppe um die Zeitschrift “Annales” und die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris damals zu einem bewunderten Modell aufstieg, waren es angesehene Historiker wie François Furet oder Emmanuel Le Roy Ladurie, die die Kliometrie oder serielle Geschichte als Erkenntnismodelle propagierten. Ihre weiteren intellektuellen Entwicklungen (zu Ideen- bzw. Monarchiehistorikern) stellen nur zwei von vielen Beispielen für die hier beschriebenen Verschiebungen dar. Wichtiger scheint eine untergründige Entwicklung: nach einer ersten Euphorie für Quantifizierung, die in Deutschland weniger solide verankert war als etwa in Großbritannien oder den skandinavischen Ländern, verschob sich das Interesse von den Daten zu den Kategorien des Erfassens, Zählens und Sortierens. Statt Schätzmodelle von Arbeitslosenraten im späten 19. Jahrhundert zu erstellen, entstanden nun Arbeiten für die “Erfindung des Arbeitslosen”. Die Auseinandersetzungen um Interessen, Definitionsmacht und Kontrolle der Ergebnisse, die die Entstehung der statistischen Daten bedingen und begleiten, ziehen inzwischen soviel Aufmerksamkeit auf sich, daß die Rekonstruktion der damals beobachteten Sachverhalte (ob nun Unehelichkeit, Heimarbeit, ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung oder Betriebsunfälle) als fast aussichtsloses Unterfangen angesehen werden kann.6

Gerade für jüngere Forscherinnen und Forscher ist spürbar geworden, daß Gegenstandsbereich und Themen möglich geworden sind, die bisher in Randbereiche oder andere Disziplinen abgedrängt waren. Auch hier funktioniert selbstverständlich schon lange das Importgeschäft auswärtiger Einflüsse. Wie in den 1970er Jahren etwa den Anregungen der französischen “Annales” folgend Themen wie Körper, Leiblichkeit, Krankheit, Fortpflanzung und Tod aufgenommen wurden, so sind in den 1980er und 90er Jahren eher anglo-amerikanische Vorbilder für die Bearbeitung von Medien, Konsum, Popular- und Gegenkultur wirksam geworden. Wollte man in den 1980er Jahren etwas über die Geschichte von Gefühlen lesen, z.B. den langfristigen Veränderungen und kulturellen Prägungen von Angst und Furcht nachspüren, mußte man sich einem französischen Religionshistoriker oder einem von ersterem beeinflußten deutschen Germanisten anvertrauen.7 Heutzutage haben solche Themen Zugang in die deutschsprachige Geschichtswissenschaft gewonnen, so daß man etwa neuerdings eine Geschichte der Langeweile als Analyse des Umgangs mit Zeit, Gefühlen und Geschlechter-hierarchien im langen 19. Jahrhundert lesen kann.8

Die geschichtswissenschaftlichen Innovationen in der Nachkriegszeit lassen sich weiterhin am Leitfaden ihrer bevorzugten Nachbardisziplinen nachzeichnen. Während die klassischen Verbindungen mit der Philosophie, der Germanistik, aber auch der Rechtswissenschaft an Strahlungskraft einbüßten, defi-nierte sich die neue Sozialgeschichte oder Gesell-schafts-geschichte in den 1960er und 1970er Jahren in erster Linie durch ihre Orientierung an den systematischen Sozial-wissenschaften. Während in Frankreich Geographie, Ökonomie und Demographie, weniger die Soziologie die “nouvelle histoire” beeinflußten, waren in England, Amerika und Deutschland soziologische und politikwissenschaftliche Modelle ausschlaggebend. Die Schwerpunktverschiebungen, die sich in Frankreich durch die Orientierung an der struktura-len Anthropologie und in England und den USA an der Sozial- und Kulturanthropologie (d.h. der Ethnologie) in den 1970er Jahren ankündigten, fanden auch in Deutschland Interesse und in einzelnen Forschungsgruppen Nachahmung.

Der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz, der diesen interdisziplinären Austausch maßgeblich beeinflußt hat, unter-strich bereits 1980, daß die Neuordnung der Disziplinenbeziehungen durch Veränderungen in allen Humanwissenschaften angestoßen wurde. Die Abwendung der Soziologie vom naturwissen-schaftlichen Ideal, die Kritik an deterministischen und funktionalistischen Erklärungen bei der Beschreibung von Gesellschaften und der “interpretive turn” in den Sozialwissenschaften allgemein führten zur Destabilisierung der Fächergrenzen und zum Verschwimmen ihrer Darstellungs-Genres.9 Literaturwissenschaft und Sprachphilosophie gewannen nun Orientierungsfunktion; Phänomenologie und Hermeneutik erlebten ihr Comeback. Geertz skizzierte in diesem Artikel dann mit wenigen Strichen drei Modelle für die Repräsentation gesellschaftlicher Prozesse, die sich quer durch die Disziplinen verbreiteten: das Spiel, die Theaterbühne und der Text. Unter ihnen hat die Textanalogie den Sieg davongetragen.

Von der Tendenz, bisher dominante Methoden, Konzepte und Erklärungen in Zweifel zu ziehen, ist sicher beson-ders die theoriegeleitete Sozialgeschichte der 1960er/70er Jahre betroffen. In Westdeutschland verband sich ihr Programm in erster Linie mit der Erforschung der Modernisierung; ihre theoretischen Fluchtpunkte waren mit Karl Marx und Max Weber die Meisterdenker der Moderne. Wenn die Auseinandersetzung auf beiden Seiten des Atlantiks zuerst mit denen gesucht wurde, die in der Arbeiter-, Frauen- oder Mentalitätsgeschichte bereits theoretisch reflektierte und methodisch innovative Modelle geliefert hatten, so muß dies nicht heißen, daß die dekonstruktive Hinterfragung sich nur auf die Sozialgeschichte richten muß. Die Französische Revolution oder die histori-sche Repräsentation des Holocaust sind bereits Beispiele für klassische Themen der politischen und Ideengeschichte, die in das Gravitationsfeld postmoderner Debatten geraten sind. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sich Forschungsgegenstände wie Kalter Krieg, nationalistische Bewegungen oder Kolonialismus auch hierzulande noch lange von solchen radikalen Fragestellungen freihalten können.

Daß ein einziger Kulturbegriff den gemeinsamen inhaltlichen Nenner dieser Verschiebungen darstellt, scheint wenig plausibel. Vielmehr scheint sich das “Kulturelle” in der kulturellen Wende auf eine Erwartungshaltung, eine Art von Herangehensweise, eine grundsätzliche Fragerichtung zu beziehen. Kulturwissenschaftliche Ansätze legen Wert auf Prozesse und Akteure der Sinnproduktion; sie sind mehr am Weg als am Ergebnis interessiert; ihre zentrale Neugier gilt Konzepten wie Bedeutung, Identität, “agency”, Konstruktion oder Verhandlung. Eine Reihe von Protagonisten und Beobachtern haben hierin mit Recht auch eine Rückkehr des Subjekts verortet. Dabei ist jedoch mitzudenken, daß der Begriff des Subjekts in der poststrukturalisitische Kritik und in der gender-Debatte entscheidende Brechungen und Historisierungen erfahren hat.

Gründe

Stellt man die Frage nach den Gründen für diesen Wandel, rührt man nicht nur an innerwissenschaftliche Faktoren – das wäre die schnelle Antwort – sondern auch an veränderte gesellschaftliche Orientierungen und Werte, die schwer zu gewichten sind. Mehr noch: die offenbar horizontale Verbreitung dieser Wende zur Kultur in verschiedenen Wissenschaften und anderen Lebensbereichen provoziert die Frage, was für Faktoren (generationelle, politische, interessenbezogene, ideengeleitete usw.) überhaupt als zurechenbar anerkannt wären. Denn der Verweis auf den “Zeitgeist” kann ja nur eine Geste der Verlegenheit sein, die das eigentliche Problem erst sichtbar werden läßt: Die Wandlungen der intellektuellen Agenda, der sozialen Wahrnehmungen und politischen Visionen seit den 1970er Jahren zu erklären, bedeutete ja, über ein Instrumentarium sozio-kultureller Analyse zu verfügen, um die der Streit ja gerade geht. Könnte man eine plausible Story davon schreiben, wie sich weite Bereiche der Sozial- und Geisteswissenschaften sowie der Selbst-beschreibung der Gesellschaft insgesamt kulturalisiert haben, dann hätte man ein gutes Stück auf dem Weg zu einer “new cultural history” der letzten Jahrzehnte geschafft.

Bis zu einem gewissen Grade sind die Symptome der skizzierten Verschiebungen auch ihre Gründe: a) die innerfachliche Erschöpfung der bisher erfolgreichen Analysemodelle, d.h. in der neueren Geschichte besonders des Modells der historischen Sozialwissenschaft; b) die Einflüsse aus dem westlichen Ausland, insbesondere aus Frankreich, Großbritannien und den USA, wo ähnliche Debatten schon länger und mit größerer Wirkung in der Forschungspraxis gelaufen sind; c) die Orientierung an Nachbarwissenschaften, die die “kulturelle Wende” bereits intensiver mitmachten, wie etwa die Ethnologie oder die anglo-amerikanischen cultural studies. Die Erfahrung, daß die Untersuchungs- und Erklärungsansätze der vorherigen Jahre an Plausibilität verlieren, kommt nicht über Nacht. Letztlich ist ihr eine jahrzehntelange Umschichtung und Ausdifferenzierung an den Grenzbereichen der Sozialgeschichte vorausgegangen: Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Mikrogeschichte, Geschlechtergeschichte usw. sind die Stichworte für eine allmähliche Auffächerung und Profilierung alternativer Sichtweisen und empirischer Arbeitsbereiche.10.  Dies sieht im Rückblick konsequenter aus als es war; sicher stand das Zusammenfließen dieser Strömungen zu einer “kulturellen Wende” den einzelnen Richtungen nicht auf die Stirn geschrieben. Hinzu kommt die breite Wiederentdeckung der deutschen kulturkritischen und kulturwissenschaftlichen Tradition, die am Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts blühte. Die Bemühungen um den zeitgenössischen Kontext und die heutige Relektüre der Werke von Max Weber, Georg Simmel, Ernst Cassirer oder Aby Warburg (u.a.) haben zweifellos ähnlich anregend gewirkt wie manche Aneignungen französischer Debatten durch amerikanische Zwischenglieder.11 Nur gilt für solche Vorgänge des Transfers und der Zirkulation von Ideen dasselbe wie etwa für die Untersuchung massenkultureller Prozesse: die Rezeption steht im Mittelpunkt einer Kulturanalyse. Wenn sie nicht funktioniert, gibt es auch die Einflüsse nicht. Unterschwellige Hinweise auf die zeitliche oder nationale Priorität dieser alten Kulturwissenschaft gegenüber der heutigen französischen-amerikanischen Diskursgemeinschaft wirken deshalb eigenartig deplaziert.

Hans-Ulrich Wehler, einer der Hauptvertreter der Gesellschaftsgeschichte, hat sich nie gescheut, den wissenssoziologischen Zirkel mit kraftvollen Hypothesen zu durchbrechen. Für ihn sind alle diese Richtungen mit politischen Erfahrungen und sozialen Wahrnehmungen in der gesellschaftllichen Umwelt ihrer Träger verbunden; vor allem nennt er:

– die Enttäuschung über die Abstraktheit und Kühler der Struktur- und Prozeßanalyse, über die Grenzen der Großtheorien,
– die Enttäuschung über die Vernachlässigung subjektiver Handlungschancen und Erfahrungshorizonte,
– die Schwächung des Fortschrittsglaubens und die Zweifel am Projekt der westlichen Modernisierung,
– die Attraktivität der Idee, daß Kultur ein eigenständiges, Veränderung und Eingreifen ermöglichendes Handlungsfeld in hochkomplexen Gesellschaften sein kann,
– die Hinwendung zu postmateriellen Werten in den Nachkriegs- und Nachboomgenerationen,
– die Erfahrung kulturell und religiös vielfältiger und konfliktreicher Gesellschaften.12

Interessant ist, daß es sich weitgehend um Thesen zur Veränderungen von Wahrnehmungen und dominierenden Sichtweisen handelt, zwar bezogen auf die grob umrissene Gruppe der akademischen Jugend (die in Deutschland ja nicht selten bis Mitte Vierzig reicht). Eine Kulturanalyse der “kulturellen Wende” müßte die genannten Faktoren zweifellos ernst nehmen; sie dürfte sich aber nicht mit einer wissensoziologischen oder interessenpolitischen “Ableitung” von intellektuellen Positionen aus sozialen Positionen zufriedengeben, sondern müßte sich auf paradoxe, kontraintuitive Spiel von Vermittlungen einlassen. Denn es war ja nicht zuletzt die Irritation darüber, wie wenig politisches Bewußtsein und “reale Lage” der Arbeiter in den Nachkriegsgesellschaften zusammenpaßten, die z.B. in England die Entwicklung eines “kulturellen Marxismus” angestoßen hat. 13

Probleme

Die Kritik an dem, was hier zur raschen Verständigung postmoderne Herausforderung und kulturelle Wende genannt worden ist, füllt inzwischen Bände. Offenbar sind in der Debatte wunde Punkte berührt worden, denn die Vehemenz der Zurückweisungen steht zumindest in England, Frankreich und Deutschland in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Stärke der neuen Positionen.14 Es sollen deshalb hier drei Problembereiche angesprochen werden, die nicht als Gegenargumente, sondern als interne Hindernisse verstanden werden können. Der erste betrifft das Fehlen eines (oder einiger weniger) verbindenden Kulturbegriffs. Persönlich erscheint der entstandene Pluralismus positiv, wogegen die Forderung nach einer umfassenden Kulturtheorie auch die Drohung einer Schließung und neuen Hegemonie in sich trägt. Andererseits sieht man, daß unterhalb des unbestimmten Firmenschildes “Kulturwissenschaft” doch vieles einfach weiterläuft, was gute alte Ideen-, Literatur- oder Hochkulturgeschichte war. Wie kann man zu Querverbindungen und transdisziplinären Gesprächen kommen? Gemeinsame Rätsel könnten dafür wichtiger als gemeinsame Theorien sein.

Damit zusammen hängt die Frage nach der Kausalität. Ist Kultur eher zu verstehen als ein Bedeutungsgewebe, das sozusagen jeden Tag neue geknüpft werden muß, oder ist es auch eine Art von Instanz oder “Potenz”, die andere Prozesse in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft erklären kann? Und umgekehrt: Gibt es überhaupt andere Bereiche, auf die zur Erklärung kultureller Innovtionen z.B. rekurriert werden kann?

Die Debatte zwischen der Gewichtung von “Struktur” und “Handlung”, Diskurs und “agency” ist weiterhin offen. Je nach dem wie man in ihr Stellung nimmt, verändert sich aber entscheidend das, was für eine historische Studie untersuchenswert und in einer Darstellung erzählenswert ist. Soll man die Konstruktion von Identitäten in den Vordergrund stellen, also Weltsichten und Diskurse eher als determinierende Mächte begreifen, oder soll man die Freiheit der täglichen Aneignung, Umdeutung und Verweigerung solcher Angebote bei den Alltagsmenschen betonen?

Mit dem Abstand nur weniger Jahre ist bereits sichtbar, daß manche der heftigen Aufbrüche und prinzipiellen Forderungskataloge, wie sie mit dem linguistic turn und der kulturellen Wende aufkamen, weniger Konsequenzen auf die Geschichts-wissenschaft gehabt haben als in den 1980er und frühen 1990er Jahren erhofft oder befürchtet. Umgekehrt sollte man jedoch hinter den modischen Gezeiten nicht die grundlegenden Verschiebungen verkennen, die die Praxis von historischer Forschung und Geschichtsschreibung in Zukunft ebenso prägen werden wie dies die erprobten Routinen und Koventionen der Disziplin weiterhin tun. Die verspätete und dann intensive Rezeption sowohl der postmodernen Herausforderungen als auch der kulturellen Wende in Deutschland hat zur dauerhaften Unterminierung alter Gewißheiten geführt. Durch das Zusammenspiel beiden Debatten sind erkenntnistheoretische Positionen sowie die Hierarchien von Themen und Wichtigkeiten nachhaltig erschüttert worden. Welche Methoden, Gegenstände oder Orte/Länder Vorrang vor anderen haben, kann nicht mehr unbefragt vorausgesetzt werden. Welche Kategorien uns die Welt ordnen helfen, ist ein fruchtbares Feld von empirischen Studien und kritischen Debatten geworden. Gerade auch in räumlicher Hinsicht wird dies deutlich: seien diese Räume nun geographisch, virtuell oder imaginiert, in jedem Fall verschieben sich Zentrum­Peripherie-Beziehungen, wollen neue Orte anerkannt werden, interessiert bei Grenzen stärker ihre Durchlässigkeit als ihre Trennungskraft. Die aus dem postkolonialen Diskussionszusammen-hang übertragene Aufforderung zur decolonization of the Western mind hat in der deutschen Historikerzunft erst begonnen zu wirken – aber sie hat begonnen.

Der Verlust von Selbstverständlichkeiten sorgt auch für Unsicherheit, ja für Abwehrreaktionen. Wollen Historikerinnen und Historiker weiter in die Öffentlichkeit oder die Schule hinein wirken, werden sie nicht nur Verwirrung stiften und Relativismus verbreiten können. Allerdings werden die in der Mediengesellschaft groß gewordenen Generationen kaum noch mit den Rezepten von gestern zu gewinnen sein. Es sind nicht einige theoretisch subversive Autoren, sondern es sind Kräfte in unserer gesellschaftlichen Umwelt, die den Wahrheitsbegriff etwa in den neuen Medien zum Problem werden lassen, die die Möglichkeiten von Darstellung, von narrativer, bildlicher oder intermedialer Repräsentation des Vergangenen vervielfachen, oder die die Entsorgung, den Verbrauch und die Verfälschung von Geschichtsbildern jeden Tag vorführen.15 Diese Kräfte formen die Kultur am Übergang zum nächsten Jahrhundert; ihnen gegenüber wird man auch in den Geschichtswissenschaften versuchen müssen, im Sinne von Baudelaire “absolut modern”, d.h. zeitgenössisch zu sein.

Motto der amerikanischen Künstlerin Jill Baroff (geb. 1954) in der Ausstellung "Zeichnen ist eine andere Art von Sprache", Akademie der Künste, Berlin, 21.2.-25.4.1999. 

Als Übersichten vgl. Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993; Ute Daniel, "Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. Teil I u. II", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 195-218 und 259-278; Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesell-schaft. Beiträge zur Theorie-debatte, München 1997; Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998; vgl. zum letzteren das Review Symposium in dem Internet-Diskussionsforum "H-Soz-u-Kult": http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/symposiu/symposiu.htm

Paul Nolte, "Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine 'lange Generation'", in: Merkur 53 (1999), S. 413-432.

Jürgen Kocka, "Die Sozialgeschichte der neunziger Jahre", in: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 40 (1993), S. 1125-1129; Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998 (der Foucault ebenso heftig bekämpft, wie er Bourdieu empfiehlt).

Die nächsten Passagen folgen im wesentlichen der von Martina Kessel und dem Autor verfaßten Einleitung "Geschichte ohne Zentrum", in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994, S. 12f.

Karin Hausen, "Wahrnehmungs-Wirklichkeiten. Quellenkritische Anmerkungen zu Studien über Heimarbeit aus den 20er Jahren", in: L¹Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 9 (1998), S. 216-231. 

Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. Bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Reinbeck 1985; Christoph Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1987.

Martina Kessel, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001.

Clifford Geertz, "Blurred Genres: The Refiguration of Social Thought", in: ders., Local Knowledge, New York 1983, S. 19-35, bes. S. 22f.; vgl. Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaft "kaputtdenken". Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Weinheim 1995.

Winfried Schulze (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994; Alf Lüdtke, "Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder ­ es hat noch kaum begonnen", in: WerkstattGeschichte 17 (1997), S. 83-91

Otto Gerhard Oexle, "Auf dem Weg zu einer Historischen Kulturwissenschaft", in: C. König/E. Lämmert (Hrsg.), Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999, S. 105-123; als Überblick über Methoden und Ergebnisse: Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930, Köln 1994.

Hans-Ulrich Wehler, Rückblick und Ausblick oder: arbeiten, um überholt zu werden? (= Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge 6), Bielefeld 1996.

Dennis Dworkin, Cultural Marxism in Postwar Britain. History, the New Left, and the Origins of Cultural Studies, Durham 1997. 

Gérard Noiriel, Sur la " crise " de l¹histoire, Paris 1996; Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/New York 1998; Wehler, Herausforderung.

Mark Poster, Cultural History and Postmodernity, New York 1997, bes. S. 31-34.

Published 10 November 2005
Original in German
First published by Siegfried Fröhlich (Hrsg.), Kultur. Eine interdisziplinäres Kolloquium zur Begrifflichkeit, Halle (Saale): Landesamt für Archäologie 2000,117-124.

Contributed by Magyar Lettre Internationale © Christoph Conrad / Halle (Saale) Landesamt für Archäologie / Eurozine

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