C H R O M A

Farbenlehre für Chamäleons

Auszüge aus dem Theaterstück CHROMA Farbenlehre für Chamäleons

Ein großer Schauspieler, der Jahrhundert-Mephisto, stirbt.
Er hat die Bühne für immer verlassen und sich auf Weltreise begeben .
Die erste Station jedoch ist gleich der Tod.
Dort, auf den Philippinen, wo er endlich leben und wohl auch sich ausleben wollte, wird er, der katholisch erzogene, jedoch kaum religiöse Schauspieler, mit echtem, nicht gespieltem Schmerz konfrontiert: in Gestalt von jungen Männern, die sich den Rücken blutig geißeln und sich kreuzigen lassen.
Diese Bilder stellen sich in seinem Kopf beim Sterben ein.
Es gelang mir am Karfreitag 2000, eine Kreuzigung festzuhalten,
in welcher der Schmerz nicht gemalt oder gespielt ist wie im Passionsspiel oder Hollywoodfilm, sondern echt: Die Nägel fahren wirklich ins Fleisch.
In vielen Berichten vom Sterben heißt es, daß das Leben noch einmal abläuft vor unseren Augen, wenn wir sterben. In unserem Gehirn ist alles, was wir erlebt
( und geträumt?) haben, gespeichert.
Als jemand, der auch Filme macht, hat mich diese Vorstellung immer fasziniert.
Nichts fürchtet man mehr als den Tod, am Horizont aber ist der letzte Film. Und darauf bin ich doch gespannt.
Der Tod schneidet den Film des Lebens. Und klebt die entscheidenden Bildfolgen aneinander. Sicher sind die Sequenzen, die man in diesem Zustand sieht, anders belichtet. Eine wichtige Frage ist, ob auch die Perspektiven Einstellungsgrößen Farben Geschwindigkeiten Optiken andere sind…
Das ist der Kern meines Stücks/Filmfragments: Welche Erinnerungen werden sich einstellen: und werden sie dokumentarisch sein oder phantastisch …
Dieser “letzte Film” ist die einzige Ewigkeit, die uns gewiß ist.
Und doch sind es nur wenige Augenblicke des Übergangs.
Wie Blitze, die das Dunkel aufheben, in dem wir zeitlebens verhaftet waren.

MORPHIUM MONOLOG MANILA I

GUSTAF
Das Meer wie es dem Mor-
wie es dem Mond gehorcht
wie es diese südchinesische See gegen diese

diese Küste wieso eigentlich küßte
wie sie warm die See wie im Mutterleib
Muscheln Quallen kein High
ein Schwarm von schwarzen Stichlingen vielleicht
ein Schwarm von schwarzen Stichlingen vielleicht
ein Schwarm von schwarzen Stichlingen vielleicht
die nicht lange hinter roten Blütenfackeln eines tropischen Dornbuschs
aus der Brandung springen

über mich hinweg über mich hinweg über mich hinweg
ein Schwarm schwarzer Stichlinge hinter Purpurblüten
die Dornzweige brechen bluten

Türkisinseln für Augenblau in der blau –
als flöge man
als flöge man aus tiefster See heraus in die Blaugold-
in d-e-r Blaugoldiris der südchinesischen Seele Schwarz
Boys auf Booten mit Bambusauslegern
euch die Schokolade aus der Haut fahren Boote
lecken mit Salsazungen rum im Korallenrot
ein Schwarm schwarzer Stichlinge hinter Purpurzungen
die brechen Ruten die sprechen bluten aus Purpurblüten

Wo ist euer Rumba-Bumba-Rhythmus geblieben
ihr Wogen brandet so sanft so soft gegen mein Geschlecht
des Menschen Los Siehe siebzig Prozent ist Wasser
gehorcht dem Mor- dem Mord dem dem dem Moooo-nd
Und die dünne Kruste Mutter

worin wir suchen graben und gebettet werden auf ewig
verteilt Wind unsere Asche Sonnenkugel
im Zerrspiegel der Smogglocken von fernher Verkehr

Cirrusgewölk blitzgelb goldäugige Moskitos
Der Puls der Stadt mein Arm voll Spritzen
ein Schwarm Strichjungen über mich hinweg
Malariagefahr in Manila Zauberwort
Zauberort die Mündung in der Unterwelt
im schwarzen Vergessen Cocytus Fluß voller Unrat
Lethe für Krethi und Plethi aus Europa und USA am Ufer tote Katzen
Rings um den Friedhof Schlamm der Slums Jenseits
der Sonnenkristalle im Prisma Glassplitter auf Gemäuerweiß

schießt ein Gecko unter einer Grabplatte aus brüchigem Marmor hervor
im Schatten eines versiegten Springbrunnens
Der feuchtheiße Nachtwind ist schwanger von Kinderscheiße
eine Frau stillt ihr Balg hinterm Dornstrauch mit blutiggebissener
Brust vor der Kirche Huren wie Harpyien
Mit Frauenperücke und kurzem korallenroten Kleid kommt
ein Junge auf mich zu und bietet sich I’m a bitch feil
Das bin ja ich

MEPHISTO
Du hast mich gerufen!

GUSTAF
Ich, ich komme mir entgegen.

MEPHISTO

So bist du gewesen vor dreißig Jahren.

GUSTAF
Ich habe immer nur mich als jungen
gesucht in Jungen.

MEPHISTO
Der Junge im korallenroten Kleid
bin ich.
Du hast mich gerufen.

GUSTAF
Nicht, daß ich wüßte!

MEPHISTO
Zweige, die bluten,
wenn sie brechen.

GUSTAF
Ruten, die sprechen…

MEPHISTO
…hören Selbstmörder nur.

GUSTAF
Ich bin auf Weltreise:
Manila, Tokyo, New York…

MEPHISTO
Die erste Station der Tod:
das jüngste Gericht.

GUSTAF theatralisch:
O, ich werde als Engel glänzen,
die Goldposaune im Munde
mir zur Grablegung blasen.

MEPHISTO
Du wirst als Jedermann in die Grube fahren,
als Faust.

GUSTAF
Meine Paraderolle aber war Mephisto.

MEPHISTO
Hab ich uns je enttäuscht?

GUSTAF
Ich hab dich geschaffen, nicht du mich!

MEPHISTO
Warum hast du kein Gesicht –
ohne Maske?!

GUSTAF
Und warum glauben die Leute, ich wäre du?

MEPHISTO
Wenn ich dir auf der Straße begegnen würde,
ich würde dich nicht erkennen.

GUSTAF
Du bist nur eine Stimme in meinem Kopf!

MEPHISTO
Dann hör auf mich!

GUSTAF
Hör auf!
Gib mir mehr Zeit!

MEPHISTO
Meine Zeit kommt erst,
wenn du tot bist.

GUSTAF
Dich gibt es nicht –
ohne mich!

MEPHISTO
Kein Theater!
Der letzte Film: Der Tod hält alles fest.

GUSTAF
Er tanzt auf meiner Hochzeit.

MEPHISTO
Er hat die Fackel deines Herzschlags
in der Faust.

GUSTAF
Was wird aus mir?

MEPHISTO
Weiß der Teufel –
auch nicht, Gustaf.

GUSTAF
Und wenn doch nur d-u stirbst?

MEPHISTO
Bist d-u vergessen –
für immer!
Gib auf, Gustaf! Gib dich hin:
Du wirst, mein Freund, für deine Sinnen
In diesen Stunden mehr gewinnen
Als in des Lebens Einerlei.
Was dir die zarten Geister singen,
Die schönen Bilder, die sie bringen
Sind nicht ein leeres Zauberspiel…
Er kichert höhnisch.
Dunkel.

MORPHIUM MONOLOG MANILA II

GUSTAF
Eineinhalb Pillen Phanodorm zertrümmert und in Wasser gelöst
und der Mensch Blei auf der Brust Blei im Blut
schläft endlich ein
Wer ist man im Schlaf
Tänzer des Todes
Mein Fleisch immer mehr Maske…

MEPHISTO
Meine Maske immer mehr Fleisch!

GUSTAF
…die Knochenkapsel zu verhüllen Vorhang auf
Vorhang zu Spiegel Spiegel an der Wand
Langsam kommt der Tod ins Land

MEPHISTO
Meine Zeit kommt!

GUSTAF
Auf dem Sterbebild meiner Mutter Christus
Von Grünewald Nein Gelb die See kocht
Es ist gelb wie lauter Löwenzahn
der in die Luft fliegt Ich weiß
Ist weiß wieder wie ein Gestirn
Wie ein Gehirn das in die Luft fliegt
und so gegen den Himmel denkt als hätt
der Himmel die Erde sanft geküßt

MEPHISTO singt in der Melodie des Schumann-Liedes:
Daß sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müßt…

GUSTAF
In der Heimat hinter den Blitzen rot Vater
Mutter die sind lange tot und wenn
Und wenn man träumen müßt mit Gewürm noch
unter der Schädeldecke
Seh ich dich Mutter

MEPHISTO
Ich werde nie vergessen,
was ich an dir hab besessen.

GUSTAF
Blei auf der Brust Blei im Blut
Vorhang auf Vorhang zu
Komm mich holen
Aus dem Licht heraus

MEPHISTO
Ins Licht hinein!
Weil mirs beliebt, so bin ich nun bereit,
zu helfen dir durch diese Zeit.

Er wirft Gustaf aus dem Bett.

Was juckts dich, Mann, Natur sei, wie sie sei:
Deftig:
Natur war nichts seit je als Sauerei!
Er stößt ihn in Richtung Rampe. Doppelsinnig, wie Hexen prophezeien:
Die R-a-m-p-e ist der neuen Zeit nun Zeichen!

GUSTAF
Über Leichen?

MEPHISTO
Du gehst – gesteh es nur im Herzen und
von Reue keine Spur! – auch über Leichen
Den Weg, den ich dir just gewiesen, steil
Bergan, den Gipfel wacker zu erstürmen.
Und überschaust die ungeheuren Weiten,
Die Reiche der Welt und all die Herrlichkeiten
Und siehst auf den und den und den und die
Herab als auf der Erd Gewürm und Vieh!
Dunkel.

MORPHIUM MONOLOG MANILA III

GUSTAF
Diese See diese Sonne riecht Grün Entengrütze rings
um Erlenstrünke Fünf Finger in die Finsternis
des Wassers getaucht Silbergrau der Wind
ein riesiger Fisch ohne Augen am Ufer Kolkraben
abgezauste Gräten wie ich Blitze des Glutrots
des wildgezackten Kopfs Jenseits meines Kiefers
meines Kiefernwalds übersetzt die Flügelspannweite
eines Graureihers mein Landgut ehedem jüdischer Besitz
in Kiefergold o Gott der Himmel ist eine Mundhöhle aus Glut
des Todes Gebiß Blitze jetzt zu krönen jetzt nein jetzt nein jetzt
Schwarz des Himmels aus der Bruchnaht glüht die andere See
der Seelen die tauchen auf in Türkisblau
In Smaragdgrün mein Leben Schlangengelb alles
Höllenotternschwarz als ob es allzu süß erlischt da
Adern Wogenzungen überzucken
überzuckern mich mit Gischt Ich habe Blut geleckt Rhythmus
in unterirdischen Adern Magma Mein Atem mein Scheitern
der süßeste Samen des Schlafmohns ist Asche
Mein Kopf seine Kapsel die Sehnsucht
die zerfließt ist die Nacht die bleibt
noch auf im Meer Licht

LAUTSPRECHER: Wind im Schilf
JUNGE/STIMME
Hoppe, Hoppe Gründgens,
wo sind denn eure Kindgens?

JUNGEN/STIMMEN
Die ha-,ha-, haben keine Kindgens,
und das hat seine Gründgens!

GUSTAF
Einige Jungs rings umher im Schilf Sie wissen
Um ihre Macht über mich lange Ruten im Wasser
Faul und geil auf lecken Kähnen Urin stinkt im Gegenlicht ihre Körper
Ringen im Sand Krebsrot gegen Grünspan auf griechischen
Statuen Reptilien im Unterzeug
spucken sie oft aus Wut sich gegenseitig ins Gesicht
verlieren den ersten Honigseim ihrer Körper
Noch einmal dreizehn sein und todtraurig
den Schal der Mutter als Strick in der einen Faust
und ihren Pelz die Fuchsaugen Bernstein über der Brust
war ich augenglückskurz mit Weißglut in fuchsäugiger Iris
Oedipus und mein erster Same Schoß
schoß so heiß wie Blut aus der Wunde
So kalt wie Hagelschloßen
aus dem Himmel die Apfelblüte
jenes Paradieses auf die andere
Faust

LAUTSPRECHER: Wind im Schilf.
Lichtwechsel.

LICHT: ROT
Gustaf kniet am Grab seiner Mutter.

GUSTAF
Es kamen dir, Mutter,
Lichtgewitter aus der Brust:
Noch als dir
Die Totenglocke schlug.
Wo früher Gott von Lust sprach,
Glühte der Dornbusch.
Schau mich Blutkristall an
Auf der Distel dornigem Haupt:
Mich tötet das Gold
Der Blitze, Mutter,
Des Gewölkes Dohlengrau.
Wie ich nur gestohlen hab
Dir Augenblau und Glück.
Blinde Kornblumen
Bleiben, Mutter, mir
Auf deinem Grab zurück.
Er legt einen Strauß blauer Blumen aufs Grab.

MEPHISTO mit Frauenkleidern und weißer Perücke als seine Mutter:
Mein Sohn! Mein großer Sohn!

GUSTAF
Mutter!

MEPHISTO lacht:
Mutter wäre stolz auf uns.

GUSTAF
Wie, du Ungeheuer?
Du Spottgeburt aus Dreck und Feuer!

MEPHISTO
Komm, komm an meine Brust!
Komm, saug des Himmels Lust.
Mephisto besitzt plötzlich Brüste.
Gustaf saugt daran

GUSTAF
Und jetzt Blut bergauf die See
kommt auf mich herab die küßte
mich im Grab mein Lieb Gericht
Gottes Gericht der Würmer Träumen
um den Himmel nicht zu versäumen
In Zeiten des Sturms der da
weht vom Herzen der Finsternis her
Dunkel.

MORPHIUM MONOLOG MANILA IV

GUSTAF
Sauerstoff umgibt uns
Nichts sonst als der Pesthauch
Meiner Lunge Brodem
des Nichts Elexier im Herzen
tobt Gestein in dem der Orkan zu ahnen
Der Städte Golgatha Sterne
die stürzen und die Sonnen im Schädel
Kein Licht umgibt uns
das Jetzt die Ahnen schlagen Funken
die Augen tot in den Höhlen
des Jüngsten Tags
verblutet die Finsternis der Blitzzyklus
Letzte Fetzen Silber seines Lichts
Es ist das Gehirn Gottes
Der Himmel küßt die Erde

MEPHISTO
Ich küsse dich.
Und der schwarze Vogel
im Blut singt sein letztes Lied.
Durch die Kugel
aus dem Lauf deines Lebens getroffen,
fliegt er mir
aus der Sonne entgegen:
Dein Herz,
es wird pochen
in meiner Brust.

GUSTAF
Mutter es wird das Gehirnweiß schwarz
Kein Stein bleibt es wird schwarz
wie der verkohlte Kopf Hitlers
der sich als Pilz in den Himmel
kein Stein bleibt Leben
vergebens sich vergehn
am Nichts den knochigen Arsch
des Todes ficken Schlangenfraß
im Rachen der Hölle Feuertrauben
so süß im Blut Aschenbrot
Verloschen die blauäugigen Goldnetze
der Sinne im Herzen der großen Finsternis erst
hörst du das Leid der Welt
Pfauen schreien
Mephisto zieht sich das korallenrote Kleid an.
J-e-t-z-t
Gretchen im korallenroten Kleid
Nein es ist der Junge ich jetzt in Manila
in der Kirche ringsherum Huren
wie Harpyien Ministrant spielen
ich Priester wie mit meiner
Schwester im Beichtstuhl
sind seine Lippen unkeusch
purpurn und schön geschwungen
Und seine Zunge will Gott
sei mir Sünder gnädig
kommunizieren.

Die hier abgedruckten “Morphium Manila Monologe I-IV” sind dem Theaterstück Chroma. Farbenlehre für Chamäleons von Werner Fritsch entnommen. Der Abdruck ist mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags erfolgt.

Published 16 August 2002
Original in German

© FKO Verlag GbR, Suhrkamp Verlag eurozine

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