Begrenzte Durchlässigkeit

Personenfreizügigkeit an den Binnen- und Außengrenzen von Habsburgermonarchie und Europäischer Union

Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötzte mich immer wieder neu an dem Erstaunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzählte, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. Man stieg ein und aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Mißtrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien, die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich.

Stefan Zweigs Erinnerungen, die er kurz vor seinem Selbstmord im brasilianischen Exil 1942 verfasste, sind von der Erfahrung mit Flucht und Vertreibung in einem nationalistisch vergifteten Europa geprägt. Gleichzeitig zeugen sie von der Weltfremdheit des begüterten Kosmopoliten. Auch heute erwecken ähnliche Beschwörungsformeln den Eindruck grenzenloser Bewegungsfreiheit. Wenn schon nicht für die ganze Welt, wird von einem zusammenwachsenden Europa gesprochen.

Grundlage für die neue Reisefreiheit bildet der 1985 in Schengen zwischen den Benelux-Staaten, Deutschland und Frankreich geschlossene Vertrag über die schrittweise Abschaffung von Grenzkontrollen, dem unterdessen 13 der EU 25-Staaten angehören. “Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden”, heißt es im Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990.

Die Wirklichkeit stellte sich auch vor 1914 anders dar, als sie Stefan Zweig und manche seiner Zeitgenossen subjektiv empfanden. Während die Passkontrollen zwischen den westeuropäischen Staaten seit den 1860er Jahren sukzessive abgeschafft wurden, waren Aufenthalt und Bewegung innerhalb der Staaten erheblich eingeschränkt. Sie waren an ausreichenden Unterhalt bzw. eine Arbeitsstelle gebunden. Im Fall der Verarmung wurden Arbeitsmigranten in ihr Heimatland abgeschoben. In Ländern, in denen soziale und kommunale Rechte das Heimatrecht in einer bestimmten Gemeinde zur Voraussetzung hatten, gehörte der Schub innerhalb des Landes zu den prägenden Erfahrungen von ArbeitsmigrantInnen. Der tschechische Schmiedegeselle Josef Psenicka, der zur Zeit der Sozialistengesetze 1883 wegen Mitgliedschaft in einem tschechischen Arbeiterverein in Schubhaft genommen wurde, konnte die drohende Abschiebung in seinen Heimatort Leitmeritz/Litomerice gerade noch abwenden. Wie viele andere betrachtete der längst in Wien ansässig Gewordene die Schubdrohung als existenzielle Gefährung. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt er seine Verhaftung: “Am Morgen brachte mich eine Kutsche in Begleitung eines Polizisten ins Polizeigefangenenhaus. Dort waren schon mindestens hundert Personen versammelt. Es wurde nicht gesprochen, keinem wurde gesagt, warum er eingesperrt worden sei, was er verschuldet habe, nur einer nach dem anderen wurde photographiert – wie ein Verbrecher. Wenn der Polizeiwagen voll war, fuhr er zum Bahnhof und die Leute wurden bis an die Grenze geführt – an die Grenze des Landes, aus dem sie einmal gekommen waren – und man schärfte ihnen ein, dass sie bestraft würden, falls sie wieder nach Wien zurückkämen.”

Reisefreiheit und Freizügigkeit stellen sich für unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung gestern wie heute ganz unterschiedlich dar. Für die einen verlieren Grenzen an Bedeutung, andere sehen sich neuen Barrieren innerhalb und zwischen den Staaten ausgesetzt. Grenze wird damit zu einer sozialen Erfahrung, die von der Person des Reisenden oder Migranten, seiner sozialen und finanziellen Lage, vor allem aber auch von seiner Staatszugehörigkeit und der internationalen Rolle seines Heimatlandes abhängen. Die Grenzen, die als Außen- und Binnengrenzen den politischen Raum untergliedern, bilden ein – Verlauf, Charakter, Übergangs- und Kontrollbedingungen wechselndes – Koordinatensystem. Dieses erweckt den Eindruck, dass es zu einem gegebenen Zeitpunkt für alle Beteiligten gleichermaßen wirksam sei. Tatsächlich verbinden die Grenzen Räume, die durch unterschiedlichen Wohlstand sowie ungleiche politische Verfassungen bestimmt sind.

In diesem Beitrag wird die Wechselwirkung zwischen Binnen- und Außengrenze thematisiert. Binnengrenzen sind von der Veränderung der Außengrenze betroffen. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass sie verschwinden: sie verändern lediglich Form und Wirkungsweise. Zur Veranschaulichung dieser These werden die Habsburgermonarchie und die Europäische Union herangezogen.

Außengrenzen

Die Befestigung der EU-Außengrenze erinnert an den Staatswerdungsprozess der habsburgischen Länder. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kam der Staatsgrenze der österreichischen Erblande keine große Bedeutung zu. Stadtmauern, Herrschaftsgrenzen, Konsumsteuer- und Binnenzollgrenzen der Länder bildeten die eigentlichen Machtlinien, deren Überschreitung Kontrolle und Besteuerung unterlag. Für die Festigung zentraler landesfürstlicher Macht sowie zur Vereinheitlichung der Territorien zu einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet waren die zahlreichen Binnengrenzen, Zölle und Mauten zur Fessel geworden. Die Herausbildung der Habsburgermonarchie als Binnenmarktraum begann 1775, als die Zolllinie zwischen den österreichischen und den böhmischen Ländern aufgehoben wurde. 1825/26 erfolgte die Angliederung von Lombardo-Venetien und Tirol, 1850 fiel die Zwischenzolllinie zu Ungarn. Der Liberalisierung im Inneren, die allerdings bloß für den Warenverkehr galt, entsprach der Ausbau der Außengrenze zu einer abgesteckten, kontrollierbaren Linie – ein Konzept von Grenze, dessen absoluter Anspruch den ZeitgenossInnen völlig neu war. “Man müßte für die Unterbringung der Beamten Sorge tragen, Wag- und Packhäuser sowie Magazine errichten. Die auf hunderte von Meilen sich erstreckenden Grenzgebiete seien öde und unbewohnt und das Baumaterial könne nur mit großer Mühe herbeigeschafft werden […], von den Besoldungen für die Beamten ganz abgesehen”, gab ein Gutachter 1762 angesichts der enormen infrastrukturellen und organisatorischen Maßnahmen zur Befestigung von 6600 Grenzkilometern zu bedenken.

Allen Widerständen zum Trotz setzten Maria Theresia und Josef II. die Verlegung der Grenzkontrolle an die Außengrenzen des Staates durch. Auf jeden Grenzkilometer kamen im 19. Jahrhundert im Durchschnitt 2,2 Grenzwachen. Ihre Aufgabe lag in der Verhinderung von Schleichhandel und der Übertretung der Finanzgesetze; zudem galt es, “den Eintritt von verdächtigen, mit den erforderlichen Ausweisen nicht versehenen Leuten” in das Land sowie “den Austritt der Militärausreißer, der Auswanderer oder anderer hiezu nicht befugter Personen” in das Ausland zu unterbinden. Eine Flut von Gerichtsakten und kaiserlichen Entschließungen zeugt davon, dass die Autorität des Staates an der Grenze permanent herausgefordert wurde: durch Reisende ohne Legitimation, große und kleine Schmuggler, die Importverbote, Zollvorschriften und Preisunterschiede umgingen, gewaltsame Proteste gegen die Ausfuhr von Getreide, durch Deserteure und “illegale” Auswanderer. Anspruch und Realität klafften oft weit auseinander: so desertierten um 1830 jährlich 3000 – 4000 Soldaten aus der k .k. Armee.

Gemeinsam ist den habsburgischen und den Brüsseler Grenzbauwerken der fortifikatorische Charakter. Die eingesetzte Technik ist wohl unvergleichbar. Es zeigt sich aber, dass noch so große technische Perfektion, wie sie das Schengen-System aufweist, unerwünschte Grenzübertritte nicht wirksam verhindern kann. In der Habsburgermonarchie symbolisierte die Außengrenze die “Haut des Staates” (Ratzel 1892), ohne die staatliche Souveränität nicht denkbar war. In der EU markiert sie den Anspruch des in Formation befindlichen Regionalblocks, nach außen mit einer gemeinsamen Grenzlinie aufzutreten. Es geht darum, Territorium abzustecken, im österreichischen Fall das unter zentralstaatlicher Hoheit stehende Staatsgebiet, im EU-Fall das Gebiet der zur Union gehörigen Nationalstaaten.

Territorialisierung geht mit territorialer Konsolidierung und Erweiterung einher.

Die österreichischen Herrscher betrieben Gebietstausch, um die flächenhafte Abrundung ihres Herrschaftsgebietes voranzutreiben. Gleichzeitig betrieben sie auf diplomatischem und militärischem Wege die Erweiterung des Staatsgebiets. In der Zeit, als die Staatsgrenze linienhaft ausgebaut wurde, kamen Galizien (1772/1795), die Bukowina (1775), Venetien (1797), Dalmatien und Westistrien (1797) sowie Salzburg (1815) unter habsburgische Herrschaft. 1878 erfolgte die Besetzung von Bosnien-Herzegowina. Auch der bollwerkartige Ausbau der EU-Außengrenze fiel in eine Periode der Erweiterung, die 1995 mit der Aufnahme Österreichs, Schwedens und Finnlands begann und sich 2004 durch die Aufnahme von Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Malta und Zypern fortsetzte. Die lineare Fortifikation der Außengrenze bezog sich weder im habsburgischen noch im EU-Fall auf eine spezifische Linie. Während die territoriale Begrenzung Form annahm, blieb die Reichweite des Territoriums offen. Die Inkorporierung bzw. Aufnahme neuer Gebiete bewirkte eine ständige räumliche Expansion. Dabei kam den Neuerwerbungen vorübergehend eine Pufferrolle zu, in der sie als Grenzzone gegenüber der Außenwelt fungierten. Der Expansion der Habsburgermonarchie nach Ost- und Südosteuropa standen im 18. Jahrhundert territoriale Verluste im Norden (Schlesien) und im Westen (Österreichische Niederlande, Vorlande) des Reiches gegenüber; im 19. Jahrhundert verabschiedeten sich die Lombardei und Venetien, Ungarn erreichte eine Autonomie. Dass weder die wirtschaftlich entwickelten böhmischen noch die anderen slawischen Länder eine vergleichbare Selbständigkeit durchsetzen konnten, entfachte den Nationalitätengegensatz, an dem die Habsburgermonarchie schließlich zerbrach. Die Europäische Union kennt bisher – mit Ausnahme von Grönland, das 1985 seinen Austritt per Volksabstimmung durchsetzte – nur Zugewinne an Mitgliedern. Die Erweiterung gerät auch im Fall der EU in Widerspruch mit der Vertiefung und kann sich der Herausbildung einer europäischen Suprastaatlichkeit entgegen stellen.

Österreich umgab das gemeinsame Zollgebiet, das 1775 in Angriff genommen wurde, mit Einfuhrverboten und hochprotektionistischen Zollmauern. Dies entsprach dem merkantilistischen Bemühen, Importe hintanzuhalten und die einheimische Wirtschaft zu fördern. Ihren philosophischen Ausdruck fand der volkswirtschaftliche Gedanke in Johann Gottlieb Fichtes Werk “Der geschlossene Handelsstaat” (1800). Auch als im 19. Jahrhundert die Abschottung abnahm und der Außenhandel liberalisiert wurde, spielte sich der Großteil der wirtschaftlichen Transaktionen innerhalb der Donaumonarchie ab. Auf den Außenhandel entfielen im Jahr 1913 nur 8 Prozent der Geschäfte.

Die Europäische Union, die den Waren- und Kapitalverkehr unter ihren Mitgliedern völlig liberalisiert hat, vertritt zwar im internationalen Handel verbal eine Freihandelsphilosophie. Gemäß der Wettbewerbsregeln von GATT und WTO verlangt sie freien Marktzugang, Nichtdiskriminierung und Anwendung von Meistbegünstigungsregeln. Tatsächlich hat die Außengrenze jedoch eine deutlich protektionistische Wirkung, die den Merkantilismus der Nationalstaaten auf den Regionalblock überträgt. Auch in der EU wird der überwiegende Teil des Waren- und Kapitalverkehrs mit den anderen Mitgliedsstaaten abgewickelt, während Drittstaaten am Binnenmarkt benachteiligt sind. 1997 entfielen 62 Prozent des Außenhandels und mehr als die Hälfte der Direktinvestitionen auf EU-Mitglieder.

Im Personenverkehr stellt sich die Sache anders dar. Ebenso wie sie die einheimische Industrie vor ausländischer Konkurrenz schützte, praktizierte die Habsburgermonarchie zwischen 1780 und 1867 eine Politik, die die Bevölkerung als Humankapital ansah und Auswanderung generell verbot. Umgekehrt ließ die Regierung Einwanderung zu und bemühte sich, Techniker, Facharbeiter und Investoren aus anderen europäischen Industrieregionen anzuwerben. Erst im Staatsgrundgesetz von 1867 wurde die Auswanderung liberalisiert, und Österreich-Ungarn entwickelte sich zu einer der wichtigsten Entsenderegionen für die Überseemigration. In der Europäischen Union spielt die Auswanderung – außer bei Spitzenkräften in der Forschung und Entwicklung der fortgeschrittenster Technologien – keine Rolle. Hingegen stellt Einwanderung von Nicht-EU-Angehörigen einen der sensibelsten Politikbereiche dar, den die Nationalstaaten bisher nicht an die Unionsebene abgegeben haben. Die Staaten der Europäischen Union sind begehrte Einwanderungsländer. WanderarbeiterInnen stellen im Billiglohnbereich und bei der Saisonbeschäftigung ein unverzichtbares Arbeitskräftepotential dar. Dazu kommt das Interesse der Unternehmer an gut ausgebildeten Fachkräften. Die Staatsgrenze dient als Filter, der je nach Konjunktur, Arbeitsmarktlage und Interessensabwägung zwischen Arbeiter- und Unternehmervertretung die Bedingungen für die Ausländerbeschäftigung festlegt.

Binnengrenzen in der Habsburgermonarchie

Moderne Staatsmacht erforderte auch im Inneren des Staates eine Territorialisierung der Herrschaft, das heißt die Zurückdrängung der herrschaftlichen Verfügungsgewalt und den Aufbau einer einheitlichen Verwaltung, die der Zentralmacht direkten Zugriff auf die Untertanen und ihre Steuerkraft erlaubte. Ein wesentliches Instrument stellte dabei die staatliche Verwaltungsgliederung dar, wie sie Mitte des 18. Jahrhunderts in Angriff genommen wurde. Flächenhaftigkeit, Hierarchie und klare Kompetenzzuteilung bildeten die Voraussetzung, die Bevölkerung bestimmten Räumen zuzuordnen, Aufenthalts- und soziale Rechte zu definieren und Regeln für das Betreten bzw. Verlassen dieser Räume festzulegen. Während die Entlassung und Aufnahme in den Untertanenverband, die mit der Übersiedlung in die Jurisdiktion einer anderen Grundherrschaft notwendig wurde, bis 1848 ein Recht der Herrschaftsämter blieb, das anschließend auf die politische Gemeinde überging, ging die Erteilung von Pässen ab 1750 auf den Staat über. Vor 1750 verstehen wir unter einem Pass eine Vielzahl von Dokumenten, ausgestellt von unterschiedlichen Instanzen, die Reisenden Schutz versprachen. Untertanen durften das Gebiet ihrer Herrschaft grundsätzlich nur mit deren Einverständnis verlassen. Passpflicht entstand erst, als der Staat das Recht zur Ermächtigung und Kontrolle von Reisenden den staatlichen Behörden übertrug. Er schuf ein gesetzliches Instrumentarium und legte die Zuständigkeit der Behörden fest. Grundlage der Passgesetze bildete die administrative Gliederung des Raumes. Ein Pass war nötig, sobald eine Person die Grenzen ihres Kreisamtsbezirkes überschritt; je weiter der Radius und je höher der Status des Reisenden, desto höher die Instanz, die mit der Passausstellung betraut war. Ausgenommen von der Passpflicht für Binnenreisen waren lediglich Adel und Klerus; umgekehrt unterlagen diese bei Auslandsreisen besonders strikter Überwachung, zielten die Passbestimmungen doch darauf ab, “nützliche von unnützen Reisen zu trennen” (Dekret M. Theresia 1752).

In der Fremde ohne Pass angetroffen zu werden, war ein Delikt, das die Abschiebung in die Heimatgemeinde nach sich zog. Die Abschiebung stand in engem Zusammenhang mit dem Heimatrecht, das neben dem Recht auf Aufenthalt in einer bestimmten Gemeinde insbesondere den Anspruch auf Armenversorgung beinhaltete. Erworben wurde die Zuständigkeit oder das politische Domizil, wie das Heimatrecht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts meist genannt wurde, durch Geburt bzw. Abstammung; im Fall der Übersiedlung erlangte man eine neue heimatrechtliche Zuständigkeit in der Regel nach einer Aufenthaltsdauer von 10 Jahren. Während Heimatrechtsfragen lange Zeit hauptsächlich im Zusammenhang mit Bettlern und Vagabunden virulent wurden, kam der Festlegung der Zuständigkeit jedes einzelnen Menschen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts grundsätzliche Bedeutung zu: er/sie sollte erfasst und räumlich verortet werden. Da der Anspruch auf Armenversorgung im Fall der Bedürftigkeit nur in der Heimatgemeinde einlösbar war, endete die Verarmung in der Fremde oft mit der Abschiebung in die Heimatgemeinde. Damit war eine klare Grenze zwischen “einheimisch” und “fremd” gezogen, die mit der Heimatgemeinde auch einen räumlichen Bezug hatte.

Generell war die Genehmigungspolitik der staatlichen Behörden bei der Ausstellung von Reisepässen von dem Ziel geleitet, Reisen, die der Auswanderung oder der Rekrutierungsflucht Vorschub leisteten oder keinem nützlichen Zweck dienten, zu unterbinden. Von praktischem Erfolg konnte die besondere Wachsamkeit der Behörden aber schon deshalb nicht gekrönt sein, weil die wachsende Nachfrage nach Taglöhnern und Hilfskräften eine restriktiven Passpolitik nicht sinnvoll erscheinen ließ. Seit den 1820er Jahren hatte sich die Zahl der MigrantInnen, die auf der Suche nach Arbeit die Kreisgrenzen überschritten und daher um einen Reisepass ansuchen mussten, beträchtlich erhöht. Dies hing einerseits damit zusammen, dass die landarme Bevölkerung ländlicher Regionen zunehmend darauf angewiesen war, das örtliche Einkommen durch Verdienst aus Wander- und Saisonarbeit zu ergänzen. Umgekehrt erforderten Stadtwachstum, Infrastrukturausbau sowie die marktorientierte Landwirtschaft der agrarischen Intesivregionen ein hohes Ausmaß an saisonal bzw. vorübergehend verfügbaren Arbeitskräften. Die Ausstellung der dafür notwendigen Reisedokumente konnte und sollte nicht verhindert werden. Zum explosionsartigen Ansteigen der Zahl der Reisen trug schließlich auch der Eisenbahnverkehr bei. Die zunehmende Unkontrollierbarkeit der Reisenden führte im Februar 1857 zur Aufhebung der Binnenpässe. Während zwischen 1750 und 1857 Passerteilung, Entlassung und Klärung der heimatrechtlichen Zuständigkeit gleichermaßen dazu beitrugen, Ortsveränderungen der Untertanen in Evidenz zu halten, fand nun eine Verlagerung auf das Heimatrecht statt.

Mit der Abschaffung der Grundherrschaft ging die armenrechtliche Zuständigkeit 1849 an die politische Gemeinde über. Die Möglichkeit, das Heimatrecht nach einer gewissen Dauer des Aufenthalts in einer Gemeinde zu erlangen, wurde durch das Heimatgesetz von 1863 allerdings erheblich erschwert. Nicht mehr der zehnjährige Aufenthalt, sondern nur die ausdrückliche Aufnahme in den Gemeindeverband berechtigte eine zugewanderte Person zur Armenversorgung. Damit besaß das Gros der Zuwandernden an seinem neuen Aufenthaltsort keine soziale Absicherung. Im Fall von Arbeitslosigkeit oder Verarmung hatten sie die Abschiebung in die Heimatgemeinde zu gewärtigen. Deutlich zeigt dies die sich öffnende Schere zwischen faktischer und heimatberechtigter Bevölkerung am Beispiel der Stadt Wien. Im Jahr 1830 waren 69,8 Prozent der Wiener Bevölkerung in der Stadt heimatberechtigt. 1850 lag der Anteil bei 57,5 Prozent, 1869 bei 44,6 Prozent, 1880 bei 35,2 Prozent und 1890 bei nur 34,9 Prozent. 65 Prozent der in Wien anwesenden Personen waren 1890 im Fall der Verarmung konkret von Abschiebung bedroht.

Die Verschärfung der Heimatrechtsgesetzgebung folgte unmittelbar auf die Aufhebung der Binnenpässe. Indem Neuzugezogenen am Aufenthaltsort die Erlangung des Heimatrechts praktisch verunmöglicht wurde, stellte das Heimatgesetz nun das zentrale Instrument dar, das gewährleisten sollte, dass die erhöhte Freizügigkeit der StaatsbürgerInnen zu keiner unkontrollierten Zuwanderung in die Ballungsräume führte. Der Kontrollvorgang hatte sich damit von den Abwanderungs- in die Zuwanderungsorte verlagert. Die Kontrollmacht wurde auf die Zielgruppe der BinnenmigrantInnen beschränkt. Aufgrund der Abschiebungsgefahr lebten zugewanderte Arbeitskräfte im Vergleich mit Einheimischen nicht nur in erheblicher Rechtsunsicherheit. Wollten sie ihre Existenz nicht gefährden, mussten sie auch niedrigere Löhne und ungünstigere Arbeitsbedingungen hinnehmen und durften auch in politischer Hinsicht nicht auffällig werden. Das Heimatrecht wirkte also nicht nur im Fall der Abschiebung, sondern machte die zugewanderte Arbeitskraft zu einer besonders angepassten.

Rechtlich gesehen, war die “zwangsweise Entfernung aus polizeilichen Rücksichten” keine Strafe, sondern “eine Vorkehrungsmaßregel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Säuberung des Landes von verdächtigen und bestimmungslosen Vagabunden”. Sie erfolgte entweder mittels “Wegweisung” oder mittels Schub (Abschiebung). Die Wegweisung, die nur bei “unbedenklichen Individuen” in Frage kam und voraussetzte, dass diese über Mittel zur Heimreise verfügten, schrieb dem Betroffenen per Zwangspass eine “gebundene Marschroute” vor. Die Abschiebung hingegen, die bei schwierigeren Fällen zur Anwendung kam, bedeutete die zwangsweise Beförderung unter Begleitung von Wachorganen; als Reisedokument fungierte der so genannte Schubpass. Je nach Entfernung fand der Transport zu Fuß, per Fuhrwerk bzw. – im Eisenbahnzeitalter – per Bahn statt; der “Schübling” ging “in Eisen” oder “am Strick”, was im Schubpass vermerkt wurde.

Um die Jahrhundertwende war die erstarrte Fassung des Heimatgesetzes mit den Erfordernissen des Arbeitsmarktes in Widerspruch geraten. Aus der Selektions- und Disziplinierungsfunktion war eine Fessel geworden. Daher erfolgte 1896 die Novelle des Heimatgesetzes. Sie legte als Beginn des Ersitzungsrechtes den 1.1.1891 fest. Nach zehnjähriger Aufenthaltsdauer konnte das Heimatrecht am Wohnort erworben werden. Aufgrund der Novelle stieg der Anteil der in Wien Heimatberechtigten 1910 auf 55,6 Prozent der Stadtbevölkerung. Die Reform trug der Tatsache Rechnung, dass sich die Zuwanderung vom Land in die Großstädte stabilisiert hatte; anstelle der Spaltung der Arbeitsmärkte entlang der Herkunft gab sie grünes Licht für die Integration der Zugewanderten. Wer an seinem Aufenthaltsort über kein Heimatrecht verfügte, war im Ernstfall jedoch weiterhin von Abschiebung gefährdet.

Binnengrenzen in der Europäischen Union

Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 ging es primär um wirtschaftliche Fragen der Integration, die mit der Zollunion (1968) sowie der in Maastricht (1991) in Angriff genommenen Wirtschafts-und Währungsunion entscheidend vorangetrieben wurde. Gleichzeitig wurden in den EWG-Vertrag (ab 1992 EG-Vertrag) auch Regelungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit aufgenommen und in umfangreichen Verordnungen konkretisiert (EWG VO 1612/68; EWG VO 1408/71). Diese gewährleisteten, dass EG-Angehörige in anderen EG-Staaten Arbeit annehmen konnten und in diesem Fall auch ihre sozialen Ansprüche geregelt waren. Als ein wesentliches Element des Binnenmarktes, der in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA 1986) und im Vertrag von Maastricht (1991) als Raum ohne Binnengrenzen konzipiert wurde, stellte neben der Freiheit des Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs der freie Personenverkehr und der Abbau der Binnengrenzen innerhalb der EU dar. Der einheitliche Binnenraum wurde nicht als gemeinschaftliches, sondern als zwischenstaatliches Projekt einer kleinen Gruppe von Staaten (Benelux, Deutschland, Frankreich) geschaffen, die im luxemburgischen Ort Schengen 1985 das “Schengener Regierungsüberkommen” schloss, das den Abbau der Grenzkontrollen zwischen diesen Staaten vorsah. Es folgte 1990 das Schengener Durchführungsabkommen (SDÜ), das 1993 in Kraft trat und das in den Folgejahren mit Ausnahme von Großbritannien und Irland sämtliche Mitgliedsstaaten unterzeichneten. Dem Schengener Abkommen gehören weiters Island und Norwegen an, die keine EU-Mitglieder sind, mit Dänemark, Finnland und Schweden jedoch die Nordische Passunion bilden.

Der Abbau der Grenzkontrollen stellte die integrative Seite des Schengener Vertragswerks dar. Ihre Kehrseite war Errichtung gemeinsamer Außengrenzen, die effektiver gegen “illegale” Zuwanderer abgeschottet werden sollten, sowie die Ausweitung von Pass- und Aufenthaltskontrollen im Inneren der Staaten – die so genannte Schleierfahndung. Beides erforderte eine verstärkte Zusammenarbeit im sicherheits- und justizpolitischen Bereich, die im Vertrag von Maastricht als “dritte Säule” der Europäischen Union verankert wurde. Der Schengen-Vertrag selbst blieb ein zwischenstaatliches Abkommen, das im Vertrag von Amsterdam (1999) jedoch in den EG/EU-Vertrag einbezogen wurde.

Der Abbau von Mobilitätsbarrieren zählt zu den meist verwendeten Schlagwörtern des schier unübersehbaren Schrifttums, das im Auftrag der EU-Kommission produziert wird. Grenzen zu überwinden, wird dabei als ein Ziel angesehen, das keine Interessen kennt und allen Beteiligten, unabhängig von ihrer regionalen oder sozialen Zugehörigkeit Wohlstandsgewinne verschafft. Stimmen, die die polarisierenden Effekte der EU-Integration aufzeigen, sind demgegenüber rar. Es entsteht dadurch ein Wir-Gefühl, das die nationale in eine EU-europäische Identität transformiert. Das “Andere” befindet sich jenseits der Schengengrenze, die von außen abweisend sein mag. Von innen gesehen fungiert sie als Schutzwall, dessen Außenschutz unerläßlich ist, damit sich im Inneren “der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ” herausbilden kann, der im Vertrag von Amsterdam dekretiert wurde.

In der Habsburgermonarchie dauerte es fast 100 Jahre, bis der Abschaffung der Binnengrenzen im Warenverkehr (1775) die Abschaffung der Binnenpässe im Reiseverkehr (1857) folgte. Selbst dann band das Heimatrecht die Menschen in sozialrechtlicher Hinsicht an ihre Heimatgemeinde. Die Europäische Union mit ihren vier Freiheiten erscheint als das regelrechte Gegenteil. Im Folgenden sollen Reisefreiheit, Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit am Arbeitsmarkt einer nähreren Überprüfung hinsichtlich der postulierten Grenzenlosigkeit unterzogen und mit den habsburgisch-österreichischen Verhältnissen verglichen werden.

Reisefreiheit
Die Schengen-Staaten bilden de facto eine Passunion, die die zwischenstaatlichen Grenzkontrollen aussetzt und Einreiseerlaubnisse und Visaentscheidungen gegenseitig anerkennt. Reisen innerhalb des Vertragsgebietes – bis zu einer Dauer von drei Monaten – sind also grenzenlos möglich – für EU-Angehörige wie für Drittstaatenangehörige, die bei der Einreise in das Schengengebiet einer besonderen Kontrolle unterzogen werden. Ein Recht auf unkontrollierte Einreise in einen der Schengener Staaten besteht damit freilich nicht. Der Wegfall der Grenzkontrollen bedeutet nicht, dass nationale Grenzen wegfallen. Sie können von einzelnen Staaten bei Bedarf jederzeit aktiviert werden: anlassbezogen oder personenbezogen, zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten etc. Grenzkontrollen sind zudem nicht auf die Übertrittsorte beschränkt, sondern können überall stattfinden. Wenn Globalisierungsgegner zu einer internationalen Großdemonstration aufrufen, wenn umstrittene Staatsoberhäupter zu Besuch kommen, ein AKW-Transport die Umweltschützer oder ein sportliches Großereignis die Fans mobilisiert, werden die Schengen-Bestimmungen von den betroffenen Staaten außer Kraft gesetzt, sprich: Grenzkontrollen aktiviert. Zu den Personengruppen, die “der Staatssicherheit gefährlich werden könnten” (Formulierung aus dem Polizeihandbuch von Barth-Barthenheim aus dem Jahr 1829) und präventiv an der Einreise gehindert werden dürfen, gehören heute “Fußballrowdys”, “Globalisierungsgegner” und allerlei politische Aktivisten. Sie können durch polizeiliche Meldeauflagen, Reisebeschränkungen und Aufenthaltsverbote in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt werden.

Aufenthaltsfreiheit
EU-Angehörige, die ihre Lebensinteressen in ein anderes EU-Land verlegen möchten, genießen prinzipiell Niederlassungsfreiheit (EWG-Vertrag 1957). Diese ist allerdings an bestimmte Bedingungen gebunden. Der oder die Betreffende muss über Einkommen oder Unterhalt verfügen, krankenversichert sein und darf keine Gefahr für Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darstellen. Wenn ein EU-Bürger diese Bedingungen nicht erfüllt, riskiert er Ausweisung; er oder sie wird an die Staatsgrenze transportiert. Eine schärfere Form gegen die Anwesenheit eines Ausländers stellt das Aufenthaltsverbot dar. Es wird nur bei Straftaten oder Verwaltungsübertretungen verhängt, deren Wiederholung droht. Im Gegensatz zur Ausweisung, die nach dem Verlassen des Staatsgebiets erlischt, haben Aufenthaltsverbote eine bestimmte Gültigkeitsdauer.

Freizügigkeit am Arbeitsmarkt
wird für EU-Angehörige nur durch das Marktangebot und die unternehmerische Aufnahmeentscheidung eingeschränkt. Beim Zugang zur Beschäftigung ebenso wie bei den Arbeitsbedingungen gilt hingegen das Nichtdiskriminierungsgebot: ein EU-Staatsangehöriger, der in einem anderen Mitgliedsstaat arbeitet, ist genau so zu behandeln wie die Staatsgehörigen dieses Staates selbst. Auf diesem Gebiet entfalten EU-Kommission und nationale EU-Stellen umfangreiche Aktivität: nicht einmal die indirekte Bevorzugung von einheimischen Staatsbürgern, etwa durch bestimmte Anforderungen an Sprach- und Umgebungskenntnisse, wird toleriert. Zahlreiche Diskriminierungen wurden bereits vor den Europäischen Gerichtshof gebracht und erfolgreich beeinsprucht.

Beschäftigung ist mit sozialen Rechten in Hinblick auf Arbeitsbedingungen, Unfall- und Krankenversorgung, Arbeitslosigkeit und Alterssicherung verbunden, die in den einzelnen Mitgliedsstaaten gesetzlich geregelt sind. Die nationalen Gesetze gelten grundsätzlich auch für die Angehörigen eines anderen EU-Staates. EU-Angehörige genießen die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie Staatsbürger. Begeben sie sich in einen anderen Mitgliedsstaat, können sie – bereits nach einem Beschäftigungstag – Versicherungsvorzeiten ebenso wie Versicherungsleistungen mitnehmen. Alle diese Bestimmungen gelten auch für Familienangehörige. Damit die unterschiedlichen Lohnkosten und nationalen Sozialstandards bei der Entsendung von Arbeitskräften in einen anderen EU-Staat nicht gegeneinander ausgespielt werden, setzte Deutschland 1996 die so genannte Entsenderichtlinie durch, nach der Subkontraktoren und Leiharbeitsfirmen die Tarife und die Sozialgesetzgebung am Arbeitsort zu befolgen haben.

Soweit die normative Seite. Eine praktische Einschränkung der Freizügigkeit stellt Arbeitslosigkeit dar. Erworbene Arbeitslosengeldzeiten gelten im Prinzip nur für den Arbeitsort, der Bezug ist an die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt gebunden, kann also nicht ins Ausland mitgenommen werden. Eine viel fundamentalere Einschränkung stellt die Umgehung der Sozialversicherung durch freie Dienstverträge und Scheinselbständigkeit dar, die keinen oder nur beschränkten Zugang zu sozialen Leistungen eröffnen. Wo kein Anspruch auf Leistungen besteht, kann auch nichts ins Ausland mitgenommen werden.

Sozialhilfe
Sozialhilfeleistungen sind freiwillige öffentliche Leistungen, die nicht auf einem Beschäftigungsverhältnis und der damit verbundenen Sozialversicherung beruhen. Sie dienen zur allgemeinen Sicherung des Lebensbedarfs (Unterhalt, Krankenhilfe, Hilfe für werdende Mütter …) bzw. in besonderen Lebenslagen und werden subsidiär zu sonstigen Unterstützungszahlungen aus der Sozialversicherung oder zur familiären Unterstützung gezahlt. Niveau und Anspruchsberechtigung klaffen aufgrund unterschiedlicher nationaler Traditionen und Entwicklungsniveaus in den einzelnen EU-Staaten weit auseinander. Während in den Agrarstaaten Südeuropas traditionell die Familie im Vordergrund stand, verfügen die west-, zentral- und nordeuropäischen Industriestaaten über differenzierte Systeme, in denen Kommunen und Länder meist eine größere Rolle spielen als der Zentralstaat. Dementsprechend variieren die Leistungen und die Anspruchsberechtigung, die grundsätzlich immer nur dann gegeben ist, wenn alle anderen Stricke gerissen sind. Sie gelten dort, wo jemand lebt und können nicht – wie etwa Renten – an einen anderen Ort mitgenommen werden. Gleichzeitig ist es ausgeschlossen, dass jemand in einen anderen EU-Staat übersiedelt, um das dort höhere Niveau der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Dies setzt der Mobilität von SozialhilfebezieherInnen klare nationale Grenzen.

Ein fließender Übergang zwischen Sozialversicherungsleistungen, auf die ein Anspruch besteht, und freiwilligen subsidiären Unterstützungen, besteht im Fall der Unterstützung, die Langzeitarbeitslose nach dem Auslaufen des – je nach Dauer des Beschäftigungsverhältnisses auf maximal ein Jahr befristeten – Arbeitslosengeldes erhalten. Der Anspruch und die Höhe leiten sich aus dem früheren Beschäftigungsverhältnis und der Einzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen ab. Zur Auszahlung kommt es aber nur, wenn keine anderen Unterhalts- oder Versorgungsquellen bestehen, z.B. aus eigenem Vermögen oder durch Familienangehörige. Dennoch besteht auf Notstandshilfe oder Arbeitslosenhilfe, wie die Fortzahlung des Arbeitslosengeldes in Österreich bzw. in Deutschland genannt wird, ein Rechtsanspruch. Wenn die Regierung Schröder mit der Agenda 2010 die Arbeitlosenhilfe mit der Sozialhilfe (zu einem neuen “Arbeitslosengeld II”) zusammenführt, degradiert sie den Arbeitslosen zum Sozialhilfebezieher. Die Überführung in die Sozialhilfe macht Arbeitslose von einer freiwilligen Unterstützungsleistung abhängig, die in jedem Land unterschiedlich gehandhabt wird.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Während der habsburgische Binnenmarkt von 1775 nur den Warenverkehr betraf, umfasste der EU-Binnenmarkt von 1992 den Waren-, den Kapital- und den Personenverkehr gleichermaßen. Binnengrenzen im Reiseverkehr standen schließlich auch in Cisleithanien der staatlichen Integration im Wege. Als Passkontrollen im Binnenreiseverkehr aufgehoben wurden, fand in der Habsburgermonarchie gleichermaßen wie in der Europäischen Union eine Verlagerung ihrer Funktion auf andere Ebenen statt. In der Habsburgermonarchie hob man die Binnenpässe im Jahr 1857 auf und ersetzte die Kontrolle der Binnenmigration durch ein Heimatrecht, das den Anspruch auf Armenversorgung an die Heimatgemeinde band; im Fall der seit der Jahrhundertmitte massiv in die Städte Zuwandernden, die dort aufgrund des Heimatgesetztes von 1863 kein Heimatrecht erlangen konnten, bedeutete das die Abschiebung der sozialpolitischen Verantwortung in die Abwanderungsgebiete, die Entlastung der Zuwanderungszentren und die Spaltung der urbanen Wohnbevölkerung in Menschen mit unterschiedlicher Aufenthaltssicherheit. In der EU wurde die Kontrollfunktion der nationalen Binnengrenzen an eine verstärkte Zusammenarbeit im Polizei- und Justizwesen, den Ausbau der Kontrollen an der EU-Außengrenze sowie die Einführung der elektronischen Erfassung von Drittstaatsangehörigen beim Betreten des EU-Gebiets ersetzt. Hierbei geht es vorrangig um die Abschottung des EU-Gebiets gegenüber unerwünschter Zuwanderung von außen.

In Habsburg-Österreich diente die Passkontrolle von Binnenreisen, die mit der Errichtung der Kreisämter als Stützpfeiler einer flächendeckenden staatlichen Administration Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde, nicht nur der Selektion, sondern sie ermöglichte überhaupt erst den staatlichen Zugriff auf die Untertanen, die solcherart zu Staatsbürgern wurden. Mit der Verdichtung der Binnenmobilität, insbesondere im Zusammenhang mit der Errichtung von Eisenbahnen seit 1840, stießen die Binnenpässe an ihre organisatorischen Grenzen. Mit fast 100jähriger Verspätung gegenüber dem Warenverkehr, so schien es, hatte die Freizügigkeit der Bewegung auch den Personenverkehr erreicht: das Staatsgrundgesetz von 1867 gestattete “die Freizügigkeit der Person und des Vermögens” und “die freie Wahl von Aufenthalt und Wohnsitz” innerhalb des Staatsgebietes, also der im Reichsrat vertreteten Königreiche und Länder (Cisleithanien). Unmittelbar auf die Liberalisierung der Binnenreisen folgte auch die Aufhebung der Passkontrollen an den Außengrenzen zahlreicher europäischer Staaten. Mit Ausnahme Russlands und des Osmanischen Reichs war Europa quasi zu einem Reisegebiet zusammengewachsen.

Von einer vergleichbaren Reisefreiheit sind wir heute weit entfernt. In diesem Sinne hatte Stefan Zweig 1942 Recht. Zwischen 1957 und 1993 wurde auch in der EG/EU der Reiseverkehr an den Binnengrenzen kontrolliert. Mit der Schaffung des Binnenmarkts und der angestrebten, auch räumlichen Flexibilisierung der Arbeitsmärkte erwiesen sich durchgängige Passkontrollen an den Grenzen der Einzelstaaten als ineffizient: wie die Eisenbahn hatte die Erhöhung der Reisefrequenz diese obsolet werden lassen. Schengen-, EU- rechtlich bzw. verfassungsrechtlich garantierte Reisefreiheit wird jedoch konterkariert durch andere Gesetze, die dem Staat Kontrolle und Reisebeschränkungen erlauben (Schutz der öffentlichen Sicherheit, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Verhütung von Straftaten etc.). Der Schwerpunkt der Kontrolle liegt jedoch an der Außengrenze: diese wird zum Bollwerk gegen “illegale” Migration hochgerüstet.

Ausweisung und Aufenthaltsverbot in der Europäischen Union folgen dem Muster der Habsburgermonarchie. Der cisleithanischen “Wegweisung” entspricht die “Ausweisung”, der “Abschaffung” das “Aufenthaltsverbot”. In Habsburg-Österreich wurde bei der Anwendung dieser Maßnahmen, ebenso wie beim Schub, kein Unterschied zwischen In- und Ausländern gemacht; sie zielten sogar primär auf Staatsbürger ab, die an ihrem Aufenthaltsort “passlos”, “erwerbslos” oder “subsistenzlos” angetroffen wurden. In der Europäischen Union hingegen wird deutlich zwischen EU-Angehörigen und Drittstaatsangehörigen differenziert. Die Instrumente der “Wegweisung” und des “Aufenthaltsverbots” gelten für Angehörige anderer EU-Staaten, die über keinen gesicherten Unterhalt verfügen oder als potenzielle Straftäter angesehen werden. Der Aufenthalt von Drittstaatsausländern hingegen ist durch ein – je nach Staat unterschiedliches – kompliziertes System von Niederlassungsquoten, Arbeitsmarktquoten sowie Voraussetzungen der allmählichen Aufenthaltsverfestigung geregelt. Ist eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, drohen “Zurückweisung an der Grenze” oder “Abschiebung” aus dem Land.

In Hinblick auf die sozialen Rechte der unselbständigen Beschäftigten gehören Habsburgermonarchie und Europäische Union unterschiedlichen Epochen an. Stand erstere am Ende des 19. Jahrhunderts am Beginn der Phase sozialstaatlicher Regulierung, steht heute die Privatisierung der damals geschaffenen System der sozialen Sicherheit auf der Tagesordnung. 1887/88 wurde in Cisleithanien die Arbeiterunfall- und Krankenversicherung eingeführt. Die Versicherungspflicht war auf Industrie- und größere Gewerbebetriebe beschränkt. Dies bedeutete, dass um 1900 von den 28 Millionen EinwohnerInnen Cisleithaniens nur zehn Prozent krankenversichert waren; eine Ausweitung der Versicherungspflicht auf andere Berufsgruppen sowie die Renten- und Arbeitslosenversicherung kam erst nach dem Ersten Weltkrieg auf die Tagesordnung. Wo die sozialen Rechte der ArbeiterInnen durch ein Beschäftigungsverhältnis begründet waren, konnten sie vor Ort in Anspruch genommen werden. Wo sie jedoch nur durch das Heimatrecht begründet waren, das eine subsidiäre Form der Armenversorgung miteinschloss, galten sie nur für Personen, die in der Gemeinde ihres Aufenthaltsortes heimatberechtigt waren. Wer mittellos war und kein Heimatrecht hatte, musste sich in seine Heimatgemeinde begeben bzw. wurde dorthin abgeschoben. Damit bestand ein krasser Widerspruch zwischen der Niederlassungsfreiheit, die das Staatsgrundgesetz (1867) garantierte, und der Aufenthaltsberechtigung, die aufgrund des Heimatgesetzes (1863) gegeben war. Die Freizügigkeit am Arbeitsmarkt war gesetzlich nicht eingeschränkt. Doch anders als im später entwickelten System sozialer Sicherheit bedeutete ein Arbeitsplatz nicht automatisch die soziale Versorgung am Arbeitsort; die heimatrechtliche Lokalisierung der Sozialpolitik schränkte zudem die Aufenthaltssicherheit von Arbeitsmigranten ein; für Frauen komplizierten sich die Verhältnisse dadurch, dass sie durch die Heirat das Heimatrecht in der Heimatgemeinde ihres Ehegatten erlangten, im Fall der Abschiebung also nicht “heim”, sondern an einen oft unbekannten Ort abgeschoben wurden.

In der Europäischen Union geht Beschäftigung mit sozialen Rechten einher, die durch Arbeitsrecht und verpflichtende Beiträge in die Sozialversicherung gewährleistet werden. Diese soziale Sicherheit besteht unabhängig davon, ob sich der Arbeitsplatz im Heimatland oder in einem anderen EU-Staat befindet. Da die Sozialsysteme nicht harmonisiert sind, bestehen zwischen den Staaten allerdings große Unterschiede im Leistungsniveau. Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der gegenseitigen Anerkennung von Sozialversicherungsleistungen. Dennoch: hält der Arbeitsmarkt einen Platz bereit, bedeutet dieser für seinen Inhaber (und seine Familie) die volle soziale Integration und gewährleistet Aufenthaltsrechte auch für den Fall, dass dieser Arbeitsplatz nach einer gewissen Zeit wieder verloren geht.

Die Habsburgermonarchie: Modellfall für die erweiterte EU?

Am 1. Mai 2004 traten zehn neue Staaten der Europäischen Union bei. Malta und Zypern runden die Süderweiterung ab und genießen privilegierten Status. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei gehörten zum ehemaligen Ostblock, Estland, Lettland und Litauen sind aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen, Slowenien aus dem Zerfall Jugoslawiens. Damit kommen fünf Staaten zur Europäischen Union, deren Territorien vor 1918 ganz oder teilweise der Habsburgermonarchie angehört hatten. Mit Ausnahme von Tschechien waren sie innere Peripherien, deren nachholende Entwicklung unter sozialistischen Vorzeichen im Zuge der Umstrukturierung der internationalen Arbeitsteilung in den 1980er Jahren an ihre Grenzen stieß. Die Verschuldung öffnete sie verstärkt dem Weltmarkt, der die staatssozialistische Regulierung außer Kraft setzte und die “Rückkehr nach Europa” einleitete. Seither spielen die osteuropäischen Staaten, in abgestufter Rangordnung, wieder die Rolle von Peripherien, die um Direktinvestitionen konkurrieren und ArbeitsmigrantInnen für die Zentren liefern. Während laut Angaben des Instituts für Deutsche Wirtschaft 1996 der durchschnittliche Bruttostundenlohn in den westlichen deutschen Bundesländern bei 44 DM und in Ostdeutschland bei 26,50 DM lag, betrug er in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei zwischen 3 und 4 DM. Mit dem Beitritt von Staaten, die eine derartige Lohndifferenz vom Niveau der EU-Hochlohnstaaten trennt, stellte sich auch die Frage nach der Freizügigkeit, die das EU-Recht für Unionsangehörige vorsieht. Die Erweiterung geriet in Konflikt mit der Vertiefung.

Die Beitrittsverträge schrieben – mit Ausnahme von Malta und Zypern – eine bis zu sieben Jahre währende Übergangsfrist fest, während der die alten EU-Staaten die bisherige Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt beibehalten dürfen. Weiters wurden Deutschland und Österreich als den Hauptbetroffenen Einschränkungen bei der Aufnahme von Arbeitskräften von osteuropäischen Dienstleistungsunternehmen sowie bei der Zulassung von Dienstleistungsangeboten in sensiblen Branchen wie Baugewerbe, Reinigungsdienste und Hauskrankenpflege eingeräumt. Aufgrund des Beitritts sind die neuen EU-Angehörigen bei Reisen, Aufenthalt und Niederlassung den EU-Bürgern gleichgestellt. Beim Zugang zum Arbeitsmarkt haben mit Ausnahme von Großbritannien, Irland und Schweden alle EU-Staaten die Übergangsbestimmungen in Anspruch genommen. In Österreich heißt das, dass ArbeitsmigrantInnen dem Ausländerbeschäftigungsgesetz unterliegen, das im Einzelfall prüft, ob kein Inländer zur Verfügung steht sowie Bundes- und Landeshöchstzahlen für die Beschäftigung festschreibt. Allerdings sind Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten gegenüber Drittstaatsangehörigen zu bevorzugen. Über Saisonier-, Pendler- und Grenzgängerverträge mit einzelnen Nachbarstaaten können die Quoten außer Kraft gesetzt werden. Nach zwölfmonatiger ununterbrochener Beschäftigung erhalten Übergangskandidaten zudem freien Zugang zum Arbeitsmarkt in Österreich, wobei sie weiterhin auf die Höchstzahlen angerechnet werden. Damit befinden sie sich in direkter Konkurrenz mit Drittstaatsangehörigen, die somit zwangsläufig in die Illegalität abgedrängt werden. Mit der Beschäftigung ist der volle Anspruch auf Sozialleistungen gegeben.

Somit spiegeln die österreichischen Regelungen den Kompromiss wider, der die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Europäischen Union eint. Gewerkschaften konnten die Neuzuwanderung einschränken und die Höchstzahlen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes verteidigen; Unternehmer erhalten durch die bilateral ausgehandelten Saisonierverträge zusätzliche Arbeitskräfte und können zudem auf einen neuen Typ von Beschäftigten zugreifen: den Neu-EU-Bürger, der sich legal im Land aufhält, allerdings über keine Beschäftigungsbewillligung verfügt. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Berechtigungen werden sich also schwer aufrechterhalten lassen und die von Unternehmerseite gewünschte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht behindern. Ohne formalen Zulassungsstitel können freilich die sozialen Ansprüche, die sich aus der Beschäftigung ergeben, nicht wahrgenommen werden. Der Arbeitsmarkt wird daher nach neuen Richtlinien untergliedert, die nunmehr auch zwischen EU-Angehörigen Grenzen einziehen. EU-Zugehörigkeit und volle Inanspruchnahme der Rechte, die der EU-Vertrag garantiert, klaffen mithin auseinander. Dies erinnert an den Gegensatz zwischen Staatsgrundgesetz und Heimatrecht, der die unterschiedlichen sozialen Rechte von Staatsbürgern in der Habsburgermonarchie begründete.

Verstärkt wird sich die Frage nach der Rechtsangleichung nach dem Auslaufen der Übergangsfrist stellen, nach der – das sei hier prognostiziert – die in Aussicht gestellte wirtschaftliche und soziale Angleichung zwischen alter und neuer EU nicht erreicht sein wird. Bis dahin kann über weitere Verlängerungen, die generelle Senkung oder die verschärfte Konditionierung des Zugangs zu Sozialleistungen spekuliert werden. Mit der Aufnahme weiterer Beitrittskandidaten, wie sie für Rumänien, Bulgarien oder Kroatien für 2007 geplant ist, lässt sich zudem erneut eine Differenzierung zwischen alten und neuen EU-Angehörigen aufbauen.

Auf das Heimatrechtsprinzip, wie es in der Habsburgermonarchie üblich war, wird niemand zurückgreifen wollen. Eine Entkoppelung von Freizügigkeit und sozialer Sicherheit hingegen, wie sie Tony Blair in der Übergangsphase für Großbritannien reklamiert, könnte sich anbieten, um Arbeitskräftemobilität zu gewährleisten, ohne damit die Sozialsysteme der wohlhabenderen Staaten über Gebühr zu belasten. Das Europa der mehreren Geschwindigkeiten muss also nicht nur in seiner regionalen, sondern auch in seiner sozialen Dimension befürchtet werden.

Dieser Beitrag ist eine für Eurozine gekürzte und überarbeitete Fassung von: Andrea Komlosy, “Binnenmarkt und Freizügigkeit. Die Habsburgermonarchie und die Europäische Union im Vergleich”, in: Joachim Becker/Andrea Komlosy (Hg.), Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien: Promedia 2004.

Published 11 January 2005
Original in German

© Andrea Komlosy Eurozine

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