Altersbilder im Wandel

Wenn ich mich mache, mache ich mich endlich, und daher ist mein Leben einmalig. Von da an ist es mir, und wäre ich unsterblich, versagt, “etwas rückgängig zu machen”; die Unumkehrbarkeit der Zeitlichkeit versagt es mir, und diese Unumkehrbarkeit ist nichts anderes als das besondere Merkmal einer Freiheit.
Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts

 

Im Laufe der Geschichte, die sich mit heutigen Kenntnissen überblicken lässt, haben Altersbilder sowohl Wandlungs- als auch Beharrungsvermögen bewiesen. Bereits in vorgeschichtlicher Zeit fällt auf, dass Altern – insofern es als eine Lebenszeit definiert wird, die weit über die Reproduktionszeit hinausreicht – ein in der Natur seltenes Phänomen ist, das aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Herausbildung von Kultur einhergegangen sein muss: Alte Menschen übernahmen wichtige Aufgaben im Rahmen der Tradierung von Wissen und der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft. Ihre zunehmende Gebrechlichkeit konnten sie durch kommunikative und soziale Fähigkeiten offensichtlich kompensieren. Damit ist allerdings keinesfalls gesagt, dass in den “guten alten Zeiten” der Respekt vor dem Alter oder die Solidarität und Empathie angesichts von Gebrechlichkeit selbstverständlich gewesen wären. Ethnologische Studien, auf die sich Simone de Beauvoir in ihrem Werk über das Alter gestützt hat, zeigen eine große Vielfalt an archaischen Altersbildern und ihre Abhängigkeit von den Werten und der sozialen Realität der jeweiligen Gruppen. Sesshaftigkeit, Ressourcenerschließung, Agrartechnik, vor allem aber auch die ethischen und vertraglichen Regelungen des Zusammenlebens konnten die Situation der Alten wesentlich begünstigen. Unter den Bedingungen von Mangelwirtschaft und sozialer Korrosion hingegen wurden Alte und Kranke als Erste vernachlässigt. Das Gebot “Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt” (Exodus 20,12) ist ein frühes Zeugnis einer Kultur der Achtung Älterer. In Gruppen ohne starke soziale Kohäsion hingegen, die zudem von Not bedroht waren, liefen gebrechliche Menschen Gefahr, verlassen zu werden. Ein Alter in sozialer Geborgenheit und Würde ist prinzipiell ein Phänomen kultureller Entwicklung, keine natürliche Gegebenheit. Aufgrund der Fortschritte im Verstehen von Zusammenhängen, in der Hygiene und in der Medizin ist während der letzten 300 Jahre in den entwickelten Ländern eine weitgehend gesicherte Lebenszeit von heute schon beinahe acht Jahrzehnten Realität geworden. Ein absolutes Ende der Lebensspannenerweiterung ist, demografischen Prognosen zufolge, noch immer nicht in Sicht, und Pioniere der Biotechnologie sowie Transhumanisten arbeiten an der Vision, die Endlichkeit des individuellen Lebens zu überwinden.

Eine grundsätzliche Kontroverse vor dem Hintergrund antiker Zivilisation

Menschen sind die einzigen Lebewesen, denen ihr Altern auf eine selbstreflexive Weise bewusst ist und die versuchen können, diesen Prozess zu beobachten, zu steuern und sogar immer weiter zu optimieren. Dabei ist die Beurteilung dieses Vorgangs, der einerseits mit Gewinn an Lebenszeit und damit an Erfahrungen und Wissen zu tun hat, andererseits aber auch mit Verlust an Vitalität und Attraktivität und schließlich mit Verfall, meist ambivalent. Schon im antiken Griechenland, im 6. Jahrhundert v. Chr., entsteht eine aufschlussreiche Kontroverse über das Alter, die durchaus noch aktuell ist, weil aufgrund des hohen Lebensstandards sowohl in Athen als auch in Rom vom höheren Alter als Lebensphase die Rede ist, während im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wegen der hohen Sterblichkeit vor allem die Artes Moriendi und das Memento Mori eine Rolle spielten. Der Lyriker Mimnermos, von dem nur wenige Fragmente überliefert sind, beklagt auf eine radikal pessimistische Weise die negativen Seiten des Alters:

Was ist das Leben, was freut Aphrodite der güldnen? / Tot sein möcht ich, sobald dies mir nicht länger behagt, / Heimliche Liebesgewährung, und holde Geschenk’, und das Lager. / Blüten der Jugend, dahin welken sie, flüchtig entrückt, / Männern sowohl wie den Fraun; wenn dann mühseliges Alter / Annaht, das ganz gleich Schöne den Häßlichen macht: / Immer ihm drückt nunmehr das Gemüt abmattende Sorge, / Nicht mehr labet es ihn, Strahlen der Sonne zu schaun. / Nun sind feind ihm die Knaben, und nicht sein achten die Mädchen, / Also Beschwerliches hat Greisen verliehen der Gott.1

Alt, hässlich und hinfällig werden die Menschen beiderlei Geschlechts seiner Auffassung nach bereits jenseits des jungen Erwachsenenalters, und mit 60 Jahren scheint ihm das denkbare Maximum erreicht zu sein. Dies ruft den heftigen Widerspruch Solons hervor, der in seiner Elegie über die Lebensalter eine erste Theorie der Lebensaufgaben entwirft, in der dem Alter eine besondere Rolle zukommt – gegen die Reduktion der Lebensqualität auf jugendliche Schönheit und sexuelles Begehren. Nachdem die Jugend vom Wachstum gekennzeichnet ist und das mittlere Alter vom “vollen Gedeihen von Zunge und Geist”2, ist das Alter die Zeit des Ordnens, aber auch noch des Lernens, und der Tod wird erst für das 80. Lebensjahr ersehnt, wenn das Leben aufgrund physischer Gebrechlichkeit und geistiger Ermüdung nur noch als Last erfahren wird. Bereits vor über zweieinhalb Jahrtausenden wird die Ambivalenz des Alterns verhandelt: das existenzielle Leiden an der eigenen Endlichkeit mit allen ihren negativen Begleiterscheinungen einerseits und die Freude über ein langes, erfülltes Leben andererseits. Auch bei dem großen Philosophenpaar Platon und Aristoteles kehrt die Differenz zwischen einem positiven und einem negativen Altersbild wieder. Während Platon die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen betont, das kalendarische Alter gegenüber der moralischen Qualität des Lebens relativiert und sich über die Möglichkeit freut, wissender und weiser zu werden, betont Aristoteles eher die Verlustseite des Alterns und vertritt ein Defizitmodell, das dem Kompetenzmodell Platons gegenübersteht. In seinem Dialog über die Gesetze führt Platon aus, für die Organisation einer Staatsgründung seien “die ältesten und besten” auszuwählen, und empfiehlt als Mindestalter für die Berufung zum Gesetzeshüter 50 Jahre (Nomoi, 754c, 755a). Damit setzt er auf die Lebenserfahrung und den Überblick des Alters. Ganz anders Aristoteles, der das Streben nach Glück durch das Alter bedroht sieht und eine Reihe negativer Stereotypen über das Alter wie Feigheit, Geiz, Missmut, Missgunst und Zynismus auflistet (vgl. Rhetorik, 2. Buch, Kap. 13).

Beide griechischen Lehrer begegneten ihren jungen Schülern vor allem dialogisch, im Sinne der sokratischen Maieutik, der Hebammenkunst, halfen ihnen bei der Entwicklung eigener Ideen und stellten so eine reziproke Kommunikation zwischen Jugend und Alter her. Anders der römische Staatsmann Cicero, der in Cato maior de Senectute die vielleicht mächtigste Altersapologie des Abendlandes entwickelte, verbunden mit einer autoritären Haltung der Belehrung und einer Abwertung der Jugend als Zeit naiver Unwissenheit und animalischer Vitalität. “Die Kräfte eines jungen Menschen vermisse ich nicht […], so wenig wie ich als junger Mensch die Kraft eines Stiers oder Elefanten vermisste.”3 Die eigene Jugend ist ihm im Alter so fremd geworden wie eine andere Lebensform. “Große Dinge”, schreibt er, “vollbringt man nicht durch körperliche Kraft, Behendigkeit und Schnelligkeit, sondern durch Planung, Geltung und Entscheidung; daran pflegt man im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen.”4 Unverkennbar ist ein so positives Bild vom Alter mit einer sozialen Realität verknüpft, in der alte Menschen (privilegierte Männer) Ansehen und Macht genossen. Von der Gerusia Spartas bis zum römischen Senat wurde ihnen in der klassischen Antike oft eine höhere Urteilsfähigkeit zugerechnet. Die Voraussetzung hierfür war eine hoch entwickelte, stabile und wohlhabende Gesellschaft.

Alter und alte Menschen als Last

Radikal anders und schlechter ist das Altersbild in sozialen Zusammenhängen, die von Mangel an Ressourcen und Zivilisation geprägt waren. Es gibt Überlieferungen, dass im mittelalterlichen Island in einer offenen Volksversammlung beschlossen wurde, während der Hungersnöte alte und behinderte Menschen von der Nahrungsmittelzuteilung auszuschließen.5 Bekannt ist auch das rituelle Ausstoßen gebrechlicher Menschen, die zu schwach waren, mitzuziehen, aus dem Leben nomadisch lebender Völker durch Suizid, Tötung oder Verlassenwerden. Je stärker eine Gemeinschaft auf die physische Belastbarkeit jedes einzelnen ihrer Mitglieder angewiesen ist, je weniger arbeitsteilig und solidarisch sie funktioniert, desto weniger kann sich ein Schutzraum der Geborgenheit für schwache Mitglieder herausbilden.

Die in der ursprünglichen Kontroverse zwischen Mimnermos und Solon aufscheinende Differenz zwischen einem positiven und einem negativen Altersbild bestimmt auch das Verhältnis zwischen idealen Altersbildern und der Realität alter Menschen. Während in vielen Kulturen der Respekt vor dem Alter zu den ethischen Normen gehört und einzelne alte Menschen als weise Ratgeber und Familienoberhäupter verehrt werden, kann die allgemeine Realität parallel dazu eine ganz andere, negative sein. Simone de Beauvoir hat diese “Diskrepanz zwischen den Mythen einer Gemeinschaft und ihren tatsächlichen Gepflogenheiten ” mit vielen Beispielen aus ihren ethnologischen Studien belegt.6 Familistische Vorstellungen über die bessere Versorgung alter Menschen durch die Großfamilie werden sowohl historisch als auch zeitgeschichtlich widerlegt. “Nostalgie beruht auf Unkenntnis und basiert auf falschen Voraussetzungen”7, meint der Sozialhistoriker A. E. Imhof, wobei nicht nur die westliche, individualistische Welt die Vernachlässigung alter Menschen kennt, sondern auch Gesellschaften mit einer stärker traditionalistischen Prägung wie Indien oder Kenia.8

In der Moderne wiederentdeckte Potenziale des Alters

Vor dem historischen Hintergrund der Blüte neuzeitlicher Wissenschaft und Kultur, dem Optimismus der Aufklärung und dem Entstehen der Demokratie in Frankreich und Amerika etabliert sich – man denke an Voltaire, Goethe oder Blake – ein positives Altersbild, das noch während der Unruhen des Dreißigjährigen Krieges undenkbar gewesen wäre. Die Überzeugung, dunkle Zeiten der Unzivilisiertheit hinter sich gelassen zu haben, die Zufriedenheit über das Erreichte und eine verbesserte Lebensqualität begünstigten die Freude über das lange Leben. Eine Identifikation mit den Leistungen der Zeitgeschichte und die Hoffnung, wenn nicht Überzeugung, die Menschheit gehe einer friedlicheren und besseren Zukunft entgegen, konnten ein versöhnliches Licht auf die eigene Endlichkeit werfen. Das Altersbild wendet sich durch die Aufklärung ins Positive.

Am deutlichsten kommt dies bei Hegel zum Ausdruck, der in seiner Geschichtsphilosophie das Alter der Hochkulturen mit den menschlichen Lebensaltern parallelisiert und das weltgeschichtliche wie das individuelle Alter als Erfüllung der Zukunft interpretiert. Er knüpft wieder an das positive Altersbild der Antike an und führt es weiter, wenn er in der Enzyklopädie der Wissenschaften das Alter als die Rückkehr des Individuums zur “Einheit mit der Sache”, mit der Welt und als “Freiheit von bestimmtem Interesse” beschreibt.9 Der alte Mensch kann sich aus den Verstrickungen unmittelbarer Interessen lösen, um sich dem Überblick zu widmen, der Versöhnung mit der Tatsache, dass sich der kleine Mosaikstein seines Lebens in ein Gesamtbild einfügt, das aus der Perspektive einer höheren Vernunft sinnvoll ist. Zunehmende körperliche Gebrechlichkeit nötigt gewissermaßen auf den Weg zurück zu sich selbst, weil die Ablenkungen abnehmen. Das Alter bekommt eine kontemplative, spirituelle Qualität. Dabei hilft dem alternden Individuum eine natürliche Milderung der Leidenschaften, die in früheren Jahren die klare Einsicht trüben. In der Geschichtsvorlesung meint Hegel hierzu: “Das Alter im allgemeinen macht milder, die Jugend ist immer unzufrieden; das macht im Alter die Reife des Urteils, das nicht nur aus Interesselosigkeit auch das Schlechte sich gefallen lässt, sondern, durch den Ernst des Lebens tiefer belehrt, auf das Substantielle, Gediegene der Sache ist geführt worden.”10 Der Negativität des Alterns wird so ein positives Potenzial abgerungen. Sofern alte Menschen sich nicht mehr in Einzelnes verstricken, können sie im Betrachten des Allgemeinen aufgehen. Das natürliche “Sichabstumpfen der Tätigkeit seines physischen Organismus”11 dient dem alten Menschen dazu, sich aus dem Verlorensein an die einzelnen Objekte der Welt herauszulösen. Gegenwart und Zukunft werden unwichtiger, die Vergangenheit und die Versöhnung der eigenen Tätigkeit mit dem allgemeinen Schicksal der Welt gewinnen an Bedeutung. Diesen Frieden mit der eigenen Rolle in der Welt bringt Hegel auf den Begriff der Weisheit.

Jugendverehrung, Jugendkult und die Schwierigkeit, an positive Altersbilder anzuknüpfen

Extrem ungünstig veränderte sich das Altersbild schon wenig später. Nach der Restauration wurde die Jugend zur Hoffnungsträgerin ( Junges Deutschland), während das Alte für verknöcherte Macht stand, und in der Ablehnung des Alters kehrt die Melancholie des Mimnermos wieder. In Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray heißt es im zweiten Kapitel: “Youth is the one thing worth having.” Im Anschluss werden die Nachteile des Alters aufgezählt, wobei gerade die von Hegel begrüsste Einheit von geistiger Reife, erfahrener Intelligenz und Betagtheit umgewertet wird. Da es die Intelligenz, der Geist ist, der die Schönheit ruiniert, weil er die Stirn mit Falten zeichnet, ist das Ideal der einfache, jugendliche, unbelastete Charakter. Zur Zeit der Jahrhundertwende, des Fin de Siècle, des Jugendstils (so benannt nach der Münchner Wochenzeitschrift Die Jugend), brach ein für positive Altersbilder endgültig negatives Jahrhundert an. Die Revolution brauchte sowohl die Kraft als auch den Idealismus und die Formbarkeit der Jugend. Der Futurismus und später der Faschismus machten aus einer Kultur der zunächst ästhetischen Jugendverliebtheit einen politischen Kult und verherrlichten die jugendliche Vitalität und Risikobereitschaft. Das Neue, das Junge und Aggressive galt als zukunftsträchtig, das Alte, Zaudernde als überholt. Das ethische Prinzip des Respekts gegenüber dem Alter ging in der Barbarei unter. Ideologisch verformte Kinder wurden in der Zeit des Nationalsozialismus gegen ihre eventuell skeptischeren Eltern instrumentalisiert. Diejenigen dieser Kinder, die selbst alt wurden, taugten später wiederum einer neuen Nachkriegsgeneration kaum als Vorbilder. Gegen die Verstrickung der älteren Generation mit einem verbrecherischen Regime im Besonderen und gegen die Verkrustung von Herrschaftsstrukturen im Allgemeinen richtete sich der Leitspruch der 68er Bewegung: “Trau keinem über Dreißig”.

Auch die philosophische Theorie der jüngeren Moderne tut sich schwer damit, positive Altersbilder zu finden. Jean Améry, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Norberto Bobbio sind gewissermaßen alle Erben des Negativismus von Mimnermos und können dem Alter keinen positiven Sinn abgewinnen, wenn nicht den, eine bessere Alternative zum frühen Tod zu sein. Der Begriff der Weisheit gilt ihnen als überholt, und Lebenserfahrung wird angesichts exponentiell wachsenden Wissens in den Bereich des Privaten verbannt. Dennoch ist das Altern als Ausdruck der Endlichkeit eine Bedingung für Individualität und Freiheit. Selbstwerdung ohne Alterung ist nicht möglich.

Lange Zeit dominierte auch in der empirischen Gerontologie, analog zur Physiologie, ein Defizitmodell, das vor allem die Verlustseiten des Alters betont und allenfalls Strategien der Verlangsamung des Verfalls und der Kompensation entwickelt. Hier hat sich während der letzten Jahrzehnte eine entscheidende Wende hin zu einem differenzierteren Altersbild vollzogen, das die besonderen Kompetenzen alter Menschen stärker in den Mittelpunkt rückt. In der Kognitionsforschung ist zum Beispiel die Qualität der “kristallinen Intelligenz”, des Erfahrungswissens gegenüber der “fluiden Intelligenz” und der Reaktivität, wieder stärker ins Blickfeld gerückt.

Gegenwärtige Aufgaben

Bei Betrachtung der gegenwärtigen Situation fällt am meisten auf, dass einer zunehmenden faktischen Macht der älteren Generationen keine positiven Altersbilder entsprechen. Noch nie zuvor waren so viele Menschen so alt, so gesund, so gebildet und so vermögend, und dennoch ist das Alltagsleben dominiert von Jugendfixiertheit.

Die Gegenwart der Realität des Alterns ist dabei vor allem von vier Besonderheiten gekennzeichnet: 1. durch die anhaltende Zunahme der Lebenserwartung bei längerer Gesundheit; 2. durch eine Verschmelzung der Lebensphasen mit einer Verlängerung des aktiven Alters; und 3. durch einen Zwang zur Jugendlichkeit. 4. Am Horizont dieser Fakten dämmern darüber hinaus in der Anti- Aging-Forschung bereits Ideen einer völligen Überwindung des Alters herauf.

1. Lebensspannenextension: Die bisher in keinem Wohlfahrtsstaat zu einem Ende gekommene Zunahme der Lebenserwartung ist ein Nebeneffekt der medizinischen Versorgung, des Friedens und der sozialen Absicherung. Immer weniger Menschen sterben jung oder in der Lebensmitte, und immer mehr erreichen 80 und mehr Lebensjahre. Noch zur Zeit der ersten Bevölkerungsstatistik unter Bismarck lag die durchschnittliche Lebenserwartung im Deutschen Reich bei 35 Jahren – heute sind es 77 bzw. 82 Jahre (Männer/Frauen). Parallel zu dieser Erweiterung der Lebensspanne haben sich die Lebensformen vervielfältigt, wozu auch eine Differenzierung des Alters gehört.

2. Verschmelzung von Lebensaltern. Solon hatte die Lebensalter in zwölf Siebenjahresschritte eingeteilt, Shakespeare (As You Like It) in sieben Akte, bildliche Darstellungen des Lebensbogens bzw. der Lebenstreppe ordnen Lebensphasen nach strengen, einem einheitlichen Muster folgenden Kriterien, und noch Guardini und Erikson plädieren für die Erfüllung spezifischer Lebensaufgaben auf den einzelnen Altersstufen. Dennoch gibt es kaum noch ein eindeutiges Definitionskriterium für das “Altsein”, weder das kalendarische Alter noch das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben, noch einen spezifischen Gesundheitszustand. In das neu entstandene “vierte” oder “hohe Alter” wird verschoben, was früher generell als Alter verstanden wurde: Gebrechlichkeit, multiple Morbidität, chronische Krankheiten, Rückzug aus sozialen, kulturellen und politischen Tätigkeiten, nachlassendes Engagement, Verengung der Horizonte, unter Umständen zugunsten einer Öffnung gegenüber innerlichen oder spirituellen Werten. Das “dritte Alter” hingegen schließt, allenfalls noch durch den Einschnitt der Pensionierung unterbrochen, direkt an die mittlere Lebensphase an, die selber durch eine immer weiter verlängerte Jugendzeit nach hinten rückt. Auch die Prekarisierung und Chaotisierung der Arbeitswelt trägt dazu bei, dass sich die Ordnung der Lebensphasen auflöst. Im Alltagsbild der Werbung sind die jüngeren alten Menschen zunehmend als dynamische “Silversurfer” und “Bestager” sichtbar, doch jenseits der körperlich aktiven Phase behaupten sich kaum Vorbilder. Das Bild des zwar gebrechlichen, aber weisen, im hegelschen Sinne über den Dingen stehenden alten Menschen, häufig von Rembrandt porträtiert, wurde in der Philosophie von Hans-Georg Gadamer verkörpert, in der deutschen Politik derzeit am ehesten von Helmut Schmidt. Allgemein entsprechen aber Bild und Ansehen alter Menschen im Zeitalter von Mobilität (vgl. das archaische Nomadentum) und Flexibilität (vgl. die “fluide Intelligenz”) nicht ihrer zahlenmäßigen Repräsentanz in der Gesellschaft und auch nicht ihrer ökonomischen Macht. Für die demografisch am stärksten wachsende Gruppe gibt es kaum Orientierung, wenig Status und in Zukunft auch weniger Ressourcen. In der Arbeitswelt herrscht bereits unmittelbar nach der statistischen Lebensmitte eine strukturelle Altersdiskriminierung. Im öffentlichen Leben genießt Alter beinahe nur dann Respekt, wenn es mit Macht, Einfluss und/oder Vermögen verbunden ist.

3. Jugendwahn. Der Zwang zur Jugendlichkeit ist eine Erfindung des jüngeren bis mittleren Erwachsenenalters zum Nachteil sowohl der eigentlichen Jugend als auch des Alters. Die dominierende öffentliche Meinung verneint heute faktisch Ciceros These, weder die Kraft des Stieres noch die der eigenen Jugend sei es im Grunde wert, vermisst zu werden. Auch die Gewissheit Hegels, altern berge die Chance geistigen Wachstums, ist allenfalls noch als ungewisse Hoffnung präsent. Durch geeignete Strategien der Kosmetik, Diätetik und medizinischer Hilfen wird in erster Linie die physische sowie die instrumentell- kognitive Vitalität so weit wie möglich erhalten, wobei die Frage der Reifung ins Private und Beliebige verdrängt wird.

4. Anti-Aging. Dass kaum noch ein kosmetisches Produkt erhältlich ist, das nicht mit Anti-Aging-Effekten wirbt, ist banal. Weniger banal ist, dass eine Forschungselite aus Biotechnologie und Informatik das Alter selbst zur behandelbaren Krankheit erklärt hat. Was eine glückliche Begleiterscheinung medizinisch-pharmakologischer Erfolge war, wird selbst pathologisiert. Ausgangspunkt ist der durchaus humanistische Ansatz, niemand wolle gebrechlich werden und es sei das Ziel aller Sterblichen, den Todeszeitpunkt immer weiter hinauszuschieben. Aus dieser Logik heraus wird dem Alter auf allen Ebenen der Medizin, Genetik, Biotechnologie und Informatik der Kampf angesagt. Eine Stiftung zur Vermeidung der Seneszenz an der Universität Cambridge sammelt unter dem Stichwort “Charity”12 Gelder in Konkurrenz zu anderen sozialen Projekten.13

Kaum kennt die industrialisierte Welt überhaupt eine weitgehend gesicherte Lebenszeit, noch hat sie gar keinen nachhaltigen Modus vivendi mit dieser Errungenschaft gefunden (Lebensarbeitszeit, Diskriminierung Älterer in der Arbeitswelt, nachhaltiges Renten- und Gesundheitssystem), setzt sie bereits zum Überspringen der Chancen einer verlängerten Lebenszeit an, und zwar in Richtung einer technologischen Version des alten Traums vom Jungbrunnen. Lange bevor in vielen Teilen der Welt überhaupt das Glück, alt zu werden, allgemein erreicht ist, wird nicht mehr an einem neuen, sondern an einem erneuerten Menschen gearbeitet. Faktisch wird dabei unterstellt, dass das Alter als Lebensphase des schrittweisen Abstandnehmens vom Getriebe der Welt keinen Wert habe. Die Maßstäbe von Schnelligkeit und Dynamik sowie die Ökonomisierung des Lebens haben, zusammen mit einer einseitigen Kultur der Autonomie als Selbstkontrolle, dazu geführt, dass die Risiken des hohen Alters dämonisiert werden. Eher am Rande gibt es leise Töne, die darauf hinweisen, dass sogar die Demenz, das Schreckgespenst der größten nicht infektiösen Epidemie unseres Jahrhunderts, ein gewisses Widerstandspotenzial bergen könnte.14

Ohne die Probleme des individuellen und gesellschaftlichen Alterns verharmlosen zu wollen und ohne die Chancen des Alters zur Krönung der Biografie zu überhöhen, könnte es auch in einer diversifizierten Welt gelingen, der letzten Lebensphase und überhaupt der Endlichkeit positive Aspekte abzugewinnen. Auch nach dem Abschied von starren Rollenbildern hält die Vergangenheit Orientierungshilfen, aber auch Warnungen bereit, die auf dem Weg zu einem positiven Altersbild helfen können. Lebenslanges Lernen heißt nicht nur, Wissen zu akkumulieren und zu verwerten, Erfolg, Macht, Besitz und Ruhm zu mehren, sondern auch mit Verlusten zurechtzukommen und loslassen zu können – nicht zuletzt, um anderen Platz einzuräumen und auch dem Anderen gegenüber einer materiell beschränkten Welt Raum zu geben. Statt auf einer sich erwärmenden und dadurch verkleinernden übervölkerten Erde Angst vor der Überalterung zu schüren, müssten sich die schrumpfenden Gesellschaften aufgerufen fühlen, Pionierarbeit im Entwickeln von Lebensformen zu leisten, welche die weitgehend brachliegenden Potenziale des Alters nutzen – sei es das Erfahrungswissen, die Friedfertigkeit (alte Gesellschaften haben niedrigere Kriminalitätsraten), die Bereitschaft zum Engagement nach Maßgabe der vorhandenen Kräfte oder eine gereifte menschliche Kompetenz.

Gelingen kann das allerdings nur in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen. Die mittlere Generation steht derzeit stark unter Druck. Sie muss die jüngere, noch nicht arbeitende Generation und ein bis zwei verrentete Generationen unterstützen, bei oftmals prekarisierten Arbeitsverhältnissen und im Gegenwind eines enthemmten globalisierten Marktes. Von ihr kann man schwer erwarten, aus eigener Kraft positive Altersbilder zu entwickeln. Simone de Beauvoir hat vorerst nicht recht behalten mit ihrer Prognose, die Altersarmut werde sich ausweiten, aber sie hat vollkommen recht mit der Aussage, es ginge um das gesamte politische System und eine radikale Veränderung des Lebens, wenn sich die Situation alter Menschen grundlegend verbessern sollte.15 Solange der Maßstab der Produktivität dominant ist und reproduktive Arbeit wenig Wertschätzung genießt, schlägt das auch auf die Menschen zurück, die nicht mehr produktiv tätig sein können oder dürfen. Vor dem ökonomischen Hintergrund, dass nur Wachstum Wohlstand und Wohlfahrt garantiert, sind alte Menschen ein Problem. Vor dem Hintergrund der existenziellen Solidarität, dass alle, die nicht früh sterben, zukünftige Alte sind, müssen sie dagegen in humanistische Zukunftsentwürfe anders einbezogen werden als nur als Konsumenten, Patientinnen oder Klienten – als Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Rechten, aber auch Verantwortlichkeiten. Kindern werden nur fünf bis sechs freie Jahre zugestanden, bevor die Schulpflicht beginnt, am anderen Ende des Lebens ist es etwa das Dreifache. Es kommt auf Ideen an, wie die lange Phase dieser Freiheit nicht nur auf solipsistische Weise aktiv genossen oder von denen, die das nicht können, passiv erlitten werden kann. Einige werden bereits in Ehrenämtern umgesetzt, andere wie die Integration älterer Menschen in eine nicht nur von schnellem Output dominierte sozio-ökonomische Welt, in der produktives, reproduktives und kulturelles Engagement gleichberechtigt sind, warten noch auf ihre Verwirklichung.

Mimnermos, in:W. Marg (Hg.): Griechische Lyrik. Stuttgart 1964, S. 27 (Übers. v. A.W. Schlegel)

Solon: "Lebensalter", in: Griechische Lyrik, a. a. O., S. 33

Cicero: Cato maior de senectute (Cato der Ältere über das Alter), Stuttgart 1998, S. 47

Ebd., S. 37

Vgl. N. Ohler: Sterben und Tod im Mittelalter. München, S. 196

S. de Beauvoir: La Vieillesse. Paris 1970; dt. Das Alter. Reinbek 1972, S. 39 ff.

A. E. Imhof: Reife des Lebens. München 1988, S. 130

G.W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften [1830]. Frankfurt am Main 1970, 3. Teil, S. 78 und 86

Ders.: Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [1822/23]. Hamburg 1994, S. 53

Ders.: Enzyklopädie, a. a. O., S. 86

"SENS Foundation is a biomedical charity" steht in der Erklärung über mission and message der Stiftung ( www.sens.org/node/1760); SENS ist die Abkürzung für "Strategies for Engineered Negligible Senescence" (Strategien einer technologisch vermeidbaren Alterung).

Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Projekten zur Lebenszeitextension von Ray Kurzweil und Aubrey de Grey vgl. E. Birkenstock: "Corriger la fortune", in: Zeitschrift für Gerontologie und Ethik 1 (2011), S. 5-27

Vgl. P. Gross und K. Fagetti: Glücksfall Alter. Freiburg i. Br. 2009, S. 254 ff.

S. de Beauvoir: Das Alter, a. a. O., S. 467

Published 27 September 2011
Original in German
First published by Gegenworte 25 (2010)

© Eva Birkenstock / Gegenworte / Eurozine

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