Kriege um Erinnerungen

Unmöglich: eine gemeinsame Geschichte des Kosovo

Sowohl albanische als auch serbische Nationalisten behaupten, einen
exklusiven Anspruch auf das Kosovo zu haben. Im Kosovo stoßen die
widersprüchlichen kollektiven Erfahrungen des Balkans aufeinander. Und
ständig werden neue Identitäten konstruiert.

Wenige Kilometer außerhalb von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo,
liegen sich zwei berühmte Gedächtnisorte des Balkans gegenüber. Ein Turm
erinnert an die Schlacht von Kosovo Polje, die Schlacht auf dem Amselfeld
vom 28. Juni 1389. Hier wurde die vereinigte Streitmacht der
christlichen Balkanvölker unter der Führung des serbischen Fürsten Lazar
Hrebeljanovic von den türkischen Eroberern vernichtend geschlagen. An
dieser Gedenkstätte hat der Politiker Slobodan Milosevic am 28. Juni 1989
anlässlich des 600. Jahrestags vor fast einer Million Serben seine
berüchtigte Rede gehalten, in der er den serbischen Nationalismus wieder
salonfähig machte und damit die Auflösung Jugoslawiens einleitete. Zehn
Jahre später, am 28. Juni 1999, hat das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen
Kirche, Patriarch Pavle, an derselben Stelle vor einer Hand voll
Gläubigen und unter dem Schutz der Nato-Truppen einen feierlichen
Gedenkgottesdienst für Fürst Lazar gehalten.

Nicht weit von dieser Stelle erhebt sich eine Türbe, das Mausoleum des
Sultans Murad, des türkischen Gegenspielers von Lazar in der Schlacht von
1389. Dieses schöne Bauwerk ist von einem kleinen Garten umgeben und
eine traditionelle Pilgerstätte für die Muslime des Kosovo. Seit
Jahrhunderten wird das Amt des Grabwächters, des Turbetars, in derselben
Familie türkischer Herkunft vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Der
letzte Turbetar ist 2001 gestorben, und seine Witwe hat die Pflege der
Grabstätte übernommen. Sie ist Bosniakin, eine slawische Muslimin aus dem
Sandschak im Südwesten Serbiens.

Obwohl sie mit einem Kosovaren türkischer Herkunft verheiratet war, hat
sie nie die albanische Sprache gelernt, und sie macht auch keinen Hehl
aus ihrer feindseligen Haltung gegenüber den “Schiptari”, wie die Serben
und die anderen Südslawen die Albaner verächtlich nennen. Im Innern des
Mausoleums ist ein Stammbaum der osmanischen Sultane abgebildet. Auf
diese Weise wird die Türbe zu einer Art Vermächtnis eines längst
untergegangenen Staates: des Osmanischen Reiches.

Auch sechs Jahre nach der Bombardierung durch die Nato im Frühjahr 1999
kommt die Provinz Kosovo nicht zur Ruhe. Einer der Gründe, warum es im
Kosovo so schwierig zu sein scheint, die Spannungen zwischen den
Bevölkerungsgruppen zu entschärfen, ist die gegensätzliche Interpretation
seiner Geschichte durch die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Im
Kosovo stoßen die sich widersprechenden kollektiven Erinnerungen des
Balkans aufeinander. In erster Linie natürlich die serbischen
Erinnerungen und die albanischen Erinnerungen, aber auch die Erinnerungen
aller Reiche und aller Völker, die im Laufe der Jahrhunderte an diesem
Kreuzungspunkt zwischen Ost und West aufeinander stießen.

Auf den ersten Blick scheint eine Annäherung der Standpunkte von Serben
und Albanern ausgeschlossen. Die Albaner wollen nur über die
Unabhängigkeit des Kosovo reden, eine Perspektive, die für die Serben
völlig inakzeptabel ist. Der Stellenwert, den das Kosovo seit über einem
Jahrhundert im nationalen Erinnerungskult beider Völker einnimmt, ist in
der Tat maßlos überzogen.

Für die Serben ist das Kosovo gewissermaßen die Wiege der serbischen
Nation. Das Kosovo bildete das Kernland des serbischen Reiches, das im
12. Jahrhundert von der Fürstendynastie der Nemanjiden errichtet wurde.
Der jüngste Sohn von Stephan Nemanja, dem Gründer dieser Dynastie, der
unter dem Namen Sava als Mönch auf dem Berg Athos lebte, gilt als
Begründer der Autonomie der serbischen Kirche, die 1219 von Byzanz
anerkannt wurde.

Das Kosovo war auch der Schwerpunkt des serbisch-griechischen
Feudalreiches von Zar Stefan Dusan, das 1346 ausgerufen wurde. Einige der
bedeutendsten serbischen Klöster befinden sich im Kosovo, zum Beispiel
das Kloster von Visoki Decani oder von Gracanica. Und schließlich war das
Kosovo jahrhundertelang das Zentrum der orthodoxen Kirche. Die Stadt Pec
beherbergt den Sitz der serbisch-orthodoxen Kirche. Das Patriarchat von
Pec symbolisiert die Autokephalie – die kirchliche Unabhängigkeit – der
serbischen Orthodoxie. Obwohl der Patriarch heute in Belgrad residiert,
trägt er noch immer den Titel “Patriarch von Pec”, und sein Amt und seine
Funktionen werden ihm zumindest symbolisch im Kosovo verliehen.

Das Amselfeld – Pathos und Mythos

Mit der verlorenen Schlacht vom Juni 1389 wird das Kosovo aber auch zum
traumatischen Symbol für das politische Verschwinden der serbischen
Nation. Die Historiker erinnern daran, dass es nicht die Schlacht auf dem
Amselfeld war, die den osmanischen Eroberern den Weg nach Europa frei
machte, sondern bereits der türkische Sieg an der Maritza im Jahr 1371.
Eine historische Tatsache ist auch, dass das Heer des serbischen Fürsten
Lazar Hrebeljanovic nicht nur aus serbischen Truppen bestand, sondern aus
den Truppen aller christlichen Völker des Balkans, u. a. des bosnischen
Königs Stefan Tvrtko. Das Heer des Fürsten Lazar hatte keinen
“nationalen” serbischen Charakter, ganz abgesehen davon, dass der Begriff
“national” für das Mittelalter ein Anachronismus ist.

Die Schlacht auf dem Amselfeld wurde über die Jahrhunderte in Legenden
und Dichtungen mystisch verklärt und zu einem Nationalmythos des
serbischen Volkes. Die Heldentaten der serbischen Heerführer wurden nach
dem Vorbild der altfranzösischen Heldenepen des Mittelalters im
westlichen Europa in Volksliedern besungen. Politische Bedeutung erhielt
der Kosovo-Mythos jedoch erst im 19. Jahrhundert, als der religiöse und
volkstümliche Mythos zu einem politischen Anspruch auf das Kosovo
hochstilisiert wurde.

Denn seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versuchte das serbische
Großfürstentum, das seit 1830 autonom war, seinen Machtbereich nach
Süden auszudehnen. Der Stratege dieser Ausdehnung war Innenminister Ilija
Garasanin, der “serbische Bismarck” mit seinem berühmten geheimen
“Entwurf”, dem “Nacertanije”. Nach Norden und Westen war den Serben die
Expansion durch das Habsburgerreich verwehrt, und die Gebiete, die noch
unter türkischer Kontrolle standen, wurden von immer häufigeren und immer
heftigeren Aufständen und nationalen Protesten erschüttert.

Der serbische Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts suchte nach
einer Rechtfertigung seiner politischen Forderungen – und fand sie in der
literarischen und religiösen Tradition des Kosovo-Mythos. Erst der
moderne Nationalismus verwandelt den Mythos in einen territorialen
Anspruch. Ein willkommener Anlass für die Bekräftigung dieses Anspruchs
auf das Kosovo war der fünfhundertste Jahrestag der Schlacht auf dem
Amselfeld, der 1889 mit großem Pathos begangen wurde. Bis zu diesem
Zeitpunkt war es vor allem die serbische Kirche, die an diesem Mythos
festhielt, vor allem wegen der Entscheidung, die Fürst Lazar der Legende
nach getroffen hatte.1

Bei der Umschreibung und politischen Instrumentalisierung dieses Mythos
spielt die orthodoxe Kirche jedoch nur eine relativ unbedeutende Rolle.
Nachdem die serbische Kirche seit der Abschaffung des Patriarchats von
Pec im Jahre 1766 ihres Zentrums beraubt worden war und sich nach Sremski
Karlovci in der Vojvodina (damals unter österreichischer Herrschaft)
zurückziehen musste, spielte sie in der Tat bei der Entstehung des
modernen serbischen Staates nur eine untergeordnete Rolle.

Das Problem war nur, dass im Kosovo zur gleichen Zeit auch der
albanische Nationalismus erwachte. Die Liga von Prizren, die 1878
gegründet wurde, ist der erste Ausdruck der albanischen Nationalbewegung.
Die albanische Bevölkerung des Balkans war fest in die Strukturen des
Osmanischen Reiches eingebunden und daher nicht unmittelbar vom Entstehen
des Nationalismus betroffen, der im ganzen Europa des 19. Jahrhunderts
sichtbar wurde.

Während die christlichen Völker sich gegen das Osmanische Reich
auflehnen und es in seinen Grundfesten erschüttern, bleiben die
Forderungen der albanischen Delegierten in Prizren zweideutig. Sie
verstehen sich als loyale Untertanen des Osmanischen Reiches und wollen
lediglich eine Wiedervereinigung und eine administrative Autonomie der
albanischen Gebiete. In Prizren stellen die Muslime die große Mehrheit,
aber auch katholische Delegierte sind anwesend. Dies zeigt, dass die
politische Geburt der albanischen Nation keinen konfessionellen Charakter
hat.

Das gleichzeitige Erstarken des serbischen und des albanischen
Nationalismus in einer Zeit der Krise des Osmanischen Reiches hat die
ersten gewalttätigen Zusammenstöße der Bevölkerung im Kosovo zur Folge.
Nachdem serbische und albanische Bauern Jahrhunderte lang weitgehend
friedlich nebeneinander gelebt hatten, kam es gegen Ende des 19.
Jahrhunderts zu immer häufigeren und heftigeren Gewaltakten, angeheizt
durch den höllischen Mechanismus der Rache. Die in Jahrhunderten
gewachsene friedliche Koexistenz der Bevölkerungsgruppen, von den
subtilen Regeln einer “guten Nachbarschaft” (komsiluk) geregelt, hielt
dem Sturm der Nationenwerdung nicht stand.

Von dem Augenblick an, in dem die beiden Nationalismen Gestalt annahmen
und Forderungen erhoben, die im Hinblick auf das Kosovo vollkommen
unvereinbar sind, machten beide Seiten sich auch daran, die Geschichte
der Region neu zu interpretieren – jeder auf seine Weise und im
Widerspruch zu der anderen Seite. In dieser allgemeinen Mobilisierung der
Vergangenheit haben die Albaner eindeutig die schlechteren Karten. Die
Ortsnamen des Kosovo sind überwiegend slawisch. Die “albanischen”
Ortsnamen, die die Nationalisten als verbindlich einführen wollen, sind
häufig neueren Ursprungs und meist albanisierte Formen slawischer
Ortsnamen. Da die Albaner diese Tatsache nicht abstreiten können, machen
sie die gewalttätige “Kolonialisierung” durch die Slawen seit dem
Mittelalter hierfür verantwortlich und betonen, dass die Serben erst
“viel später” in diese Region gekommen seien.

Die Albaner weisen auch auf die forcierte Politik der Serbisierung des
Kosovo in den Dreißiger- und den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts
hin, auch wenn es dabei nur um einige zehntausend Menschen geht, die das
Kosovo seit 1999 alle wieder verlassen haben. Ein weiteres Argument, das
die Albaner in diesem Krieg der Erinnerungen gern anführen, ist der
Hinweis auf ihre sehr viel älteren Wurzeln. Sie argumentieren, die
Albaner seien Nachkommen der Illyrer und daher die einzige “autochthone
Bevölkerung” in der Region.

Tatsächlich hat der Stamm der Illyrer in der Antike einen großen Teil
des westlichen Balkans bevölkert, und zwar so nachhaltig und so
erfolgreich, dass die meisten Völker dieser Region ihre Abstammung in
mehr oder weniger starkem Maße auf die Illyrer zurückführen können, vor
allem in den Küstenregionen Albaniens, Montenegros oder Dalmatiens.
Allerdings gibt es nichts, was für eine privilegierte Verbindung zwischen
den Illyrern der Antike und den heutigen Albanern sprechen würde. Diese
Verbindung, die von nationalistischen Historikern vorgebracht wird, dient
in erster Linie dazu, den “Urbevölkerungscharakter” der Albaner zu
betonen, die sich so als “ältestes Volk Europas” präsentieren und es, was
das Alter ihres Volkes betrifft, sogar mit den Griechen aufnehmen
können.2 Slawen sind dagegen erst seit dem sechsten und siebten
Jahrhundert in dieser Region zu Hause, als sie im Zuge der
Völkerwanderung in das Kosovo einwanderten. Dass die serbische Geschichte
ihren Ursprung im Kosovo hat, ist aus der Sicht der militanten Albaner
lediglich das Ergebnis einer “kolonialen” Eroberung.3 Und das veranlasst
die albanischen Nationalisten zu der Schlussfolgerung, dass die Serben
“keinerlei Recht” am Kosovo haben.

Die Serben haben ähnliche Theorien zur Untermauerung ihres Anspruchs auf
das Kosovo entwickelt. So argumentieren sie, dass die zahlenmäßige
Überlegenheit der Albaner erst eine Entwicklung des zwanzigsten
Jahrhunderts sei. Dieses Phänomen habe keine natürlichen Ursachen,
sondern sei auf eine massive Invasion albanischer Einwanderer aus den
Bergregionen Nordalbaniens zurückzuführen. Antikommunistische,
nationalistische Kreise in Serbien werfen im Übrigen dem Regime von
Marschall Tito vor, diese Invasion nach 1945 gezielt gesteuert zu haben,
um Serbien und das serbische Volk zu schwächen, während gleichzeitig
restriktive Gesetze eine Rückkehr der serbischen Siedler der
Dreißigerjahre ins Kosovo verhindert hätten. Die einzigen Gesetze, die in
dieser Zeit verabschiedet wurden, waren jedoch die Gesetze zur
Agrarreform. Da sie eine Enteignung von Grundbesitz vorsahen, konnte es
durchaus sein, dass sie in einigen Fällen für die serbischen und
montenegrinischen Siedler, die sich in der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen im Kosovo niedergelassen hatten, von Nachteil waren.

Eine weitere “Trumpfkarte” für die Serben, die die Albaner nicht gelten
lassen: die orthodoxen Klöster und Kirchen. Diese heiligen Stätten der
orthodoxen Kirche, so argumentieren die albanischen Nationalisten, seien
auf Ruinen katholischer Kirchen und Klöster errichtet worden, die
natürlich sehr viel älter waren. Sie erinnern daran, dass die
Kosovo-Albaner vor ihrem Übertritt zum Islam, der im Übrigen erst sehr
spät erfolgt ist – eine generelle Islamisierung des Kosovo erfolgte erst
im 17. und 18. Jahrhundert – katholisch gewesen seien. Nachdem die
katholische Diözese des Kosovo diese nationalistische These offiziell
übernommen hat, sind die Chancen für einen ökumenischen Dialog denkbar
gering. Nach Auffassung der serbischen Mönche, die in zu Festungen
umgewandelten Klöstern eingepfercht sind und von Nato-Soldaten geschützt
werden müssen, verfolgen die albanischen Extremisten eine doppelte
Strategie der Leugnung: Während seit Juni 1999 fast 150 Kultstätten der
Orthodoxie verwüstet, entweiht oder gar völlig zerstört wurden, werde die
orthodoxe Identität der noch intakten Klöster von den Albanern in Frage
gestellt.

Islamisierung als Zufall der Geschichte

Diese Polemik macht deutlich, dass der Kampf um die kollektive
Erinnerung nach wie vor in vollem Gang ist. 2002 haben die serbischen
Abgeordneten beschlossen, das Parlament des Kosovo zu boykottieren.
Diesem Eklat vorausgegangen war eine andere Provokation, die von der
internationalen Schutztruppe nicht ausreichend geahndet worden war: Die
Lobby des Parlamentsgebäudes war mit Fresken ausgeschmückt worden, die
ausschließlich Szenen aus der Geschichte des albanischen Volkes zeigen
und damit die Geschichte der anderen Völker des Kosovo “vergessen”. Es
hat sich also nichts geändert. Nach wie vor beharrt jede der beiden
Bevölkerungsgruppen auf dem ausschließlichen Charakter ihrer eigenen
Rechte auf das Kosovo. Die Präsenz der “anderen” kann demnach nur das
Ergebnis von Usurpation, Gewalt oder Kolonialisierung sein.

Da die Kosovo-Albaner erst sehr spät zum Islam konvertiert sind, konnten
einige der nationalistischen Gruppen, vor allem die um Ibrahim Rugova,
den Präsidenten des Kosovo, die Islamisierung des Kosovo als einen
“Zufall der Geschichte” darstellen. Die wahre Religion der Kosovo-Albaner
sei der Katholizismus und die katholische Religion sei es, was die
Kosovo-Albaner von der albanischen Bevölkerung in Albanien unterscheide.

In dieser ideologischen Konstruktion nimmt die mit fünf Prozent winzige
albanisch-katholische Gemeinde des Kosovo eine privilegierte Position
ein, ebenso wie die Gemeinden, die der “kryptokatholischen” Tradition
treu geblieben sind. Diese waren während der osmanischen Herrschaft, um
Diskriminierungen zu entgehen, zum Schein zum Islam übergetreten, hatten
aber ihren katholischen Glauben bewahrt.4

Eine ähnliche Rolle bei der Konstruktion der nationalen Identität fiel
in Albanien dem Bektaschi-Orden zu. Dieser Derwischorden war im Süden
Albaniens besonders einflussreich. Aus ihm sind zahlreiche Intellektuelle
hervorgegangen, die in der Bewegung der “nationalen Wiedergeburt”
(rilindja) Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine führende
Rolle spielten.

Die Bektaschi-Gemeinschaft konnte durchaus als eine eigenständige
Religionsgemeinschaft angesehen werden. Die heutige Realität ist jedoch
bitter. Seit 1999 ist die katholische Gemeinde des Kosovo häufigen
Angriffen ausgesetzt, und die Derwische, gleichgültig ob sie dem
Bektaschi-Orden angehören oder anderen Bruderschaften, sind bevorzugte
Zielscheibe der Intoleranz all derjenigen, die im Kosovo einen
strenggläubigen Islam sunnitischer Prägung einführen wollen.

Dubiose dardisch-katholische Identitäten

Zahlreiche Türben wurden zerstört, ohne dass sich irgendjemand darüber
empörte. Dabei stellten diese Bauwerke einen bedeutenden Teil des
historischen und geistigen Erbes des Kosovo dar. Auch hier finden wir
einmal mehr eine doppelte Logik. Ibrahim Rugova versucht, eine
dardanische Identität zu begründen (nach dem Namen der römischen Provinz,
deren Gebiet zum Teil identisch war mit dem Gebiet des heutigen Kosovo),
die ihre Wurzeln in der katholischen Vergangenheit der Region habe.
Manche Intellektuelle, vor allem die Gruppe um die Zeitschrift Java,
predigen einen militanten Antiislamismus. Diese Intellektuellen wie
Java-Herausgeber Migjen Kelmendi versuchen auch, regionale Varianten der
albanischen Sprache wieder einzuführen; die albanische Schriftsprache
wurde erst sehr spät nach der toskischen Variante standardisiert, einem
im Süden Albaniens gesprochenen Dialekt. Diese Bemühungen wollen eine
nationale Identität der Kosovaren bestätigen, die anders ist als die der
Albaner in Albanien.

Der politische Plan einer Eigenständigkeit des Kosovo wurde in den
Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und gewann vor allem in
den Neunzigerjahren an Bedeutung, im Widerstand gegen das serbische
Regime von Milosevic. Im Gegensatz zu den Gruppen, die aus der
Guerillabewegung der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) hervorgegangen
sind, wollten die Intellektuellen, die sich in der Demokratischen Liga
des Kosovo zusammengeschlossen haben, kein “Großalbanien”. Ihre Ziele
laufen jedoch Gefahr, von den Forderungen nach Zusammenschluss aller
albanischen Gebiete auf dem Balkan und vom Vordringen eines normierten
sunnitischen Islam, der in der islamischen Gesellschaft des Kosovo immer
mehr an Einfluss gewinnt, hinweggefegt zu werden. Gibt es in der
Geschichte so etwas wie eine Pendelbewegung? 1913 wurde das Kosovo Teil
des serbischen Königreichs. In den Jahren 1918 bis 1941 verfolgte das
spätere Königreich Jugoslawien eine entschiedene Politik der
Zentralisierung und Serbisierung des Kosovo, zum Nachteil der albanischen
Bevölkerung. Diese rächte sich dann im Zweiten Weltkrieg. In diesen
Jahren war das Kosovo in mehrere Teile gespalten. Der Norden mit seinen
Bergwerken stand unter direkter deutscher Verwaltung, ein anderer Sektor
war von Bulgarien besetzt, und der größte Teil des Kosovo war
“Großalbanien” zugeschlagen worden, das unter der Ägide des
faschistischen Italien geschaffen worden war. Die multinationale
Partisanenarmee von Marschall Tito hat im Kosovo erst sehr spät Fuß
fassen können: Während des Zweiten Weltkriegs standen sich im Kosovo in
erster Linie die Tschetniks (serbische Ultranationalisten) und die
Besatzungstruppen mit ihren albanischen Kollaborateuren gegenüber.5

Die Zeiten der Herrschaft des einen über das andere Volk wechseln sich
ab: von 1918 bis 1941 serbische Vorherrschaft, von 1941 bis 1945
albanische Vorherrschaft, anschließend in den ersten Jahren des
sozialistischen Jugoslawien erneut die serbische Vorherrschaft. In dieser
Zeit verfolgte Innenminister Aleksandar Rankovic, ein Serbe, eine
zentralistische Politik, die argwöhnisch alles verfolgte, was auch nur im
Entferntesten an ein Wiederaufleben des albanischen Nationalismus
erinnern konnte. Der Sturz von Rankovic (1965) und vor allem die neue
jugoslawische Verfassung des Jahres 1974 mit ihren weitgehenden
Autonomierechten für das Kosovo bedeutete für die albanische Bevölkerung
eine kurze Blütezeit. Zwischen 1974 und 1981 erlebte das Kosovo ein
“goldenes Zeitalter” unter der Leitung lokaler kommunistischer Führer,
die mehrheitlich Albaner waren.

Dieses labile Gleichgewicht wurde jedoch schon sehr bald wieder durch
die Entwicklung nationaler albanischer Forderungen in Frage gestellt. Die
Teilnehmer der Massendemonstrationen des Jahres 1981, die von der
serbischen Polizei und dem serbischen Militär gewaltsam niedergeschlagen
wurden, forderten, die Kosovoprovinz in den Rang eines jugoslawischen
Bundesstaates zu erheben. Von diesem Augenblick an entwickelten sich die
beiden politischen Richtungen – die Forderung nach der Unabhängigkeit in
einer eigenen Republik Kosovo und der Anschluss an Albanien –
nebeneinander. Während die Professoren der Universität Pristina, die 1968
gegründet worden war und ein Zentrum der nationalen Wiedergeburt war,
die besondere Identität des Kosovo betonten, forderten ihre Studenten in
Untergrundbewegungen den Anschluss des Kosovo an ein “Großalbanien”.

Diese Bewegungen wurden vom stalinistischen Albanien des Enver Hodscha
aus kontrolliert. Aus diesen Untergrundbewegungen, die im Übrigen unter
den Exilalbanern in Westeuropa starken Rückhalt fanden, entstand in den
Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die UCK.6 Seit der
Abschaffung der Autonomie im Jahre 1989 regierte das serbische Regime von
Slobodan Milosevic die Kosovoprovinz bis 1999 mit eiserner Hand.

Auf der anderen Seite führte die Strategie des “passiven und
gewaltfreien Widerstands” von Ibrahim Rugova und seiner “Demokratischen
Liga des Kosovo” (LDK) zur Entwicklung einer albanischen
Gegengesellschaft. Diese war zwar in erster Linie eine Gegenreaktion auf
die von Belgrad ausgehende Gewalt. Die Folge war jedoch, dass dadurch
jegliche Chance auf eine Versöhnung in der Zukunft zunichte gemacht
wurde.

Parallel zu dieser Schaffung einer albanischen Gegengesellschaft wurde
im Ausland intensiv Propaganda betrieben. Ziel war es, das Kosovo-Statut
als Kolonialstatut darzustellen, bei dem die “eingeborene” (albanische)
Bevölkerung von einer ausländischen Macht unterdrückt wird. Die
entsprechenden demografischen Schätzungen wurden ebenfalls mitgeliefert.
So wurde immer wieder erklärt, dass mehr als 90 Prozent der Einwohner des
Kosovo Albaner seien. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 1981 waren es
allerdings nur 81 Prozent.

Die serbischen Historiker haben den spezifischen Anspruch ihres Volkes
auf die Kosovoprovinz theoretisiert, indem sie die “historischen” Rechte
Serbiens den “demografischen” Rechten der Albaner, die zumindest seit der
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Bevölkerungsmehrheit im Kosovo
bildeten, entgegengestellt haben. Sowohl bei den Serben als auch bei den
Albanern haben die Schulbücher einen nicht unerheblichen Anteil an der
Reproduktion und Verankerung dieser widersprüchlichen Interpretation der
Vergangenheit im Bewusstsein der beiden Gemeinschaften.

Einer der Gründe, warum das internationale Protektorat Kosovo
gescheitert ist, ist sicherlich, dass versäumt wurde, eine echte Reform
der Lehrpläne in den Schulen in Angriff zu nehmen. Ebenso wie es
keinerlei Initiative gegeben hat, die beiden Gemeinschaften zu
veranlassen, ihre gegensätzlichen Identitätsprojektionen endlich zu
überwinden.7

Die Nato verhinderte die “Rücksäuberung” nicht

Das offizielle Ziel der Bombardierungen durch die Nato im Frühjahr 1999
war, die Übergriffe der serbischen Armee und der serbischen Polizei im
Kosovo zu stoppen, die ihrerseits auf die Aktionen der albanischen
Guerilla reagierten. Die albanische Bevölkerung im Kosovo hat das
Engagement der atlantischen Allianz dessen ungeachtet als Unterstützung
für ihre Unabhängigkeitsforderungen angesehen und die Nato-Soldaten als
“Befreier” begrüßt. Die Nato hat nichts unternommen, um die “ethnische
Rücksäuberung” durch die Albaner zu verhindern, deren Opfer die Serben
und andere nichtalbanische Gemeinden waren.

Ist das Kosovo inzwischen für die Serben “verloren”? Sollte sich die
internationale Gemeinschaft zur Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo
durchringen, würde dies aller Wahrscheinlichkeit nach den Exodus von
rund 100 000 Serben bedeuten, die immer noch in diesem “internationalen
Protektorat” leben. Dadurch, dass die Gemeinschaft sich auf einen
nationalen Diskurs eingelassen und ihn damit legitimiert hat, hat sie
genau die Werte, die sie selber predigt – nämlich die Werte einer offenen
und toleranten Gesellschaft – untergraben. Sie hat damit eine ungeheure
Verantwortung auf sich geladen.

Darüber hinaus hat sie sich in eine Sackgasse manövriert – indem sie
sich für ein rein albanisches Kosovo einsetzt, ohne die Unabhängigkeit
des Kosovo formal anzuerkennen. Dies könnte dazu führen, dass die
internationale Gemeinschaft es sich mit allen Bevölkerungsgruppen des
Kosovo verdirbt. Und es könnte auch dazu führen, dass es in dieser Region
zu einer neuen Spirale der Gewalt kommt.

Am Vorabend der Schlacht, so erzählt die Legende, habe ein Engel Fürst Lazar Hrebeljanovic gefragt, was ihm wichtiger sei: der Sieg und das Königreich dieser Welt - oder das Königreich im Himmel. Lazar entschied sich für Letzteres, wie sich dies für einen guten Christen gehört.

Die Projektion der modernen Nation in die Vergangenheit ist charakteristisch für die Nationalismen. In diesem Zusammenhang kann man zum Beispiel die Überbetonung der "dakisch-römischen" Wurzeln der Rumänen unter der Herrschaft von Nikolai Ceausescu zitieren. Diese Mechanismen einer A-posteriori-Rechtfertigung wurden unter anderem untersucht von Ernest Gellner, "Nations et nationalisme", Paris (Payot) 1999.

Die albanischen Thesen wurden von Rexhep Qosja zusammengefasst (übersetzt von Christian Gut), "La question albanaise", Paris (Fayard) 1995.

Die Katholiken sind vor allem im Westen des Kosovo vertreten, und zwar in den Regionen Prizren und Djakovica. Die Tradition des Kryptokatholizismus ist vor allem in Vitina oder Gnjilane lebendig.

Der Vater von Ibrahim Rugova, ein Mitglied der Nationalen Volksfront, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der politischen Säuberungen von den Kommunisten hingerichtet.

Christophe Chiclet, "Die UCK - eine militärische Karriere", "Le Monde diplomatique", Mai 1999.

Besnik Pula, "Kosovo: l'école et l'expérience de l'Etat", "Le Courrier des Balkans", www.balkans.eu.org/article4757.html.

Published 8 July 2005
Original in French
Translated by Sonja Schmidt
First published by Le Monde diplomatique 7/2005

Contributed by Le Monde diplomatique © Jean-Arnault Dérens/Le Monde diplomatique Eurozine

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