Einheitliche Zersplitterung

Finden und Erinnern in den verworrenen Städten Mitteleuropas

Gibt es ein gemeinsames Erbe mitteleuropäischer Städte? Ihre Identität irgendwo zwischen Nostalgie und Kommerz verortet, die verfallene und die gentrifizierte, vermischen mitteleuropäische Städte Sprachen, Wörter und Zeichen, um einen Stil zu formen, der sich bestenfalls als radikaler Eklektizismus beschreiben lässt.

1.
Ich beende meine Einkäufe gerade noch bevor der Markt schließt. Aus der Markthalle kommend, schlängele ich mich hindurch zwischen Fußgängern, Einkaufswagen, Fahrrädern und Sportwagen, die sich alle an die Zäune zwängen, welche die neue Metro-Baustelle umgeben. Es ist später Nachmittag und die Presslufthammer donnern wieder. Der Staub steigt in die Luft und verbreitet sich über meinen Balkon, den Tisch und die Kleidung, die dort zum Trocknen hängt. Einmal mehr, denke ich daran, wegzuziehen.

Ich gehe los, das Fahrrad zu finden, das ich letzte Nacht irgendwo stehen gelassen habe. Am Großen Ring kann ich der Straßenbahnlinie eine Weile folgen, aber sobald ich den Blaha Lujza Platz erreiche, werde ich in die Unterführung gezwungen. Ich kämpfe mich durch Bettler, Flugblattverteiler, Autogrammjäger, dem Labyrinth apathischer Angestellter von 24-Stunden-Läden und dem eleganten Personal dezent beleuchteter Boutiquen, um auf die andere Seite zu kommen. Wieder auf Straßenniveau folge ich dem Hohlweg zwischen der Baustelle und dem Parkplatz gerade auf das große sozialistische Kaufhaus zu. Die Metallfassade, die das Fin-de-siècle-Gebäude umschließt, enthält nicht nur Läden, sondern beheimatet auch eine ganze Serie von Restaurants und Bars vom Erdgeschoss bis zum Dach.

Die Lángos und Hamburger Stände vermeidend, erreiche ich den Hintereingang, wo ich mit einem Haufen Fremder in den Lift verfrachtet werde und wir aufwärts fahren. Schließlich bringen uns einige enge Stufen auf das Dach. Bisher sitzen nur ein paar Dutzend Menschen um die verfallenen Tische. Hinter der Bar bleibt noch die Zeit, sich auf den Abend vorzubereiten. Es wird dunkel. Mit einem unwirklichen Glitzern erheben sich die erleuchteten Türme des “New York Palace” über das matte Grau der Dächer. Auf der anderen Seite ragt ein nackter Fabrikschlot in die Nacht, den das Flutlicht der Terrasse zur Dekoration verwandelt.

2.
Das Glitzern der Fin-de-siècle Nostalgie, die Ästhetik sozialistischer Stadtruinen und die ready-made dekorativen Elemente der Terrasse vereinen die Segmente des urbanen Gedächtnisses Mitteleuropas. Bis heute umweht die noch immer weitgehend unbekannten Teile des zentralen Pest ein Hauch von Abenteuer und Spontaneität. Die schwindligen Höhen eines Flachdaches, wie so oft in Szenefilmen wiederentdeckt, geben den Terrassen ein großstädtisches Flair, in welches die Besucher genüsslich eintauchen. Das Verlangen nach dem Außergewöhnlichen, architektonisch Gespenstischen, Gefährlichen, wird abgesichert durch die Nähe des Luxus, in den sich die Abenteurer aus den wohlhabenden Vierteln wieder zurückziehen können. Dies gilt ebenso für Schmuckdesigner, der seine schwarz-weiß Fotos, die er eben in einem Second Hand Laden erstand, vor der heruntergekommenen Hauswand “ausprobiert”, ist glücklich, der Sterilität zu entkommen, die seine Heimatstadt bis ins Mark prägt. Die Risse in den Wänden, der abbröckelnde Putz sind die Juwelen dieser Stadt, sagt er.

3.
Die Zeichen des Krieges sind in den meisten mitteleuropäischen Stadtlandschaften noch immer präsent, ergänzt durch die Symbole des Regimewechsels. Es ist üblich, diese post-sozialistischen Städte als provisorische, zerbrochene Räume durchzogen von Grenzen und Schwellen zu beschreiben. In Städten, die sich schneller wandeln als ihre Menschen, in Räumen, die von der Stadtplanung liegen gelassen und nun kommerzialisiert werden, entstehen parallele Nutzungen, unbemerkt voneinander, ziehen sonderliche Grenzlinien zwischen Räumen des Gedenkens, des Fortschritts, der Ungezwungenheit und Kontrolle. Das ambivalente Wesen dieser Grenzlinien wird genährt und dokumentiert durch sinnbildliche Orte, die Sehenswürdigkeiten der vergänglichen urbanen Landschaft, plötzliche Leerräume, die neue Funktionen erfüllen, ausgewachsene Akazien, die Meter hoch verlassen in den Ecken stehen, Brandmauern, die von Bulldozern enthüllt flüchtige Einblicke in die Eingeweide von Appartements eröffnen.

Natürlich ist diese Zersplitterung nicht für jede Stadt Mitteleuropas charakteristisch. Mit seiner Kompaktheit, seinem selbstbezogenen Insichkehren und der hohen Qualität urbaner Räume und Dienstleistungen war vielleicht Wien einst die prototypische mitteleuropäische Stadt. Aber heute bildet die Kontinuität seiner architektonischen Substanz eine Ausnahme in der Region. Trotzdem hilft einem Wiens Logik von Boulevard und Ring durch Prag, Krakau und Budapest. Dagegen brauchen wir in Warschau oder Bratislava ein Auto oder einen Fahrer, wenn wir die Gebiete um die Altstadt herum erforschen wollen, ganz zu Schweigen von der Verkörperung vollständiger Zersplitterung – Berlin. Berlins “Dämmerlandschaft” ist eine Brutstätte für kulturelle Initiativen außerhalb der üblichen Begrenzungen. Aktivitäten am Saum der Gesellschaft finden eine Heimat in den vergessenen Räumen, die absichtlich Fragmente und Überreste jenseits der neoliberalen Marktstruktur der Städte erhalten: das Heruntergekommene, Vergessene und Unbenutzte erscheint plötzlich voller Möglichkeiten.

Die Art, wie mitteleuropäische Städte aus dem Schritt geraten, ist eine kulturelle Eigenheit, die nicht direkt offensichtliche gesellschaftliche Vorteile bringt. Das Investmentkapital jedoch, das die westliche Stadtentwicklung gut kennt und sich nun flexibel den Chancen im Osten anpasst, bewegt sich schneller als die Kultur. Stadtviertel umzuwandeln ermöglicht wirtschaftliche Ausbeutung, selbst in Berlin: teure Appartementhäuser, die über Nacht heruntergekommene Gebäude ersetzen, erzeugen eine außerordentlich schnelle Gentrifizierung, welche die Kultur davon abhält, weiter eine spontane Kraft der Stadtplanung zu bleiben.

4.
Bruchstücke und Überreste zu Geld zu machen ist nicht nur eine Möglichkeit für Städte – es ist eine Verpflichtung. Unverträglich miteinander belagern Überreste die Straßen und Plätze fast so wie die Inneneinrichtungen von Häusern oder Appartements. Die Haltung gegenüber städtischen Relikten ist nicht überall die gleiche, wie der Kommentar des serbischen Außenministers Vuk Jeremic über die Bombardierung von Belgrad 1999 zeigt: “Die Mahnmale sind da und sicherlich tief in die Erinnerungen der Menschen eingeschrieben. Aber wir brauchen keine Ruinen, die wie in Berlin oder Hamburg absichtlich stehen bleiben. Wir brauchen sie nicht.”

Wer braucht wirklich Ruinen, rohe Architektur ohne jede Illusion? Das Dilemma des neuen Warschauer Museums für moderne Kunst illustriert gut die Ost-West Teilung zwischen Wildheit und Sterilität. Entworfen vom schweizerischen Architekten Christian Kerez, präsentiert sich das Gebäude inmitten Warschaus städtischem Gewebe in seiner rohen direkten Schönheit, in einer Weise, die dem Auge zu keiner Zeit schmeichelt. Diese Wildheit, heraufbeschworen, um die aufkeimende Sterilität westlicher Städte auszugleichen, verschmilzt mit dem natürlichen Umfeld des ausgebombtem Warschaus. In Mitteleuropa entsteht die Ästhetik eines architektonischen Brutalismus spontan, ohne geplant werden zu müssen. Brandmauern und Lücken, Gebäuderuinen und vernachlässigte Unterführungen, diese Orte voll der Erinnerung, tauchen nicht hier und da auf, sondern existieren überall wie eine Plage. Sie erstarren in Vergänglichkeit bis zu dem Tag, an dem alle Fehler und verräterischen Zeichen vom Antlitz der Stadt entfernt wurden und die Stadt sich selbst in ihrer eigenen sterilen Präsenz aufgibt.

5.
Bei einer Ankunft in Bratislava erhielt ich folgende Instruktion: Schau nach der Straßenbahnlinie 20 am Bahnhof, fahre eine halbe Stunde mit und steige aus, wenn Du den Supermarkt Tesco auf der rechten Straßenseite siehst. Die Reisebeschreibung erschien mir verdächtig, aber ich versuchte es. Ich stieg am Tesco aus, ging um den Block, folgte einer ungepflasterten Straße und stand vor einem Zaun. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an einen Sicherheitsmann. Ohne ein Wort deutete er auf ein kleines Haus hinter dem Zaun. Ich stieg über den Zaun, umrundete einige Kieshaufen und erreichte die gesuchte Galerie!

In solchen Städten muss einem gesagt werden, wo man hin muss. Karten oder Stadtführer garantieren hier keine erfolgreiche Navigation. Die Städte Mitteleuropas wandeln sich so schnell, dass nur die tägliche Erfahrung Schritt halten kann. In dem Film Warschau (Dariusz Gajewski, 2003) kommt ein Fahrer im Winter in der Stadt an und findet nichts mehr, wo es war. Er fragt nach Straßennamen, die es nicht mehr gibt und an die sich keiner mehr erinnert. Wenn ich in Warschau ankomme, kann ich mir unmittelbar vorstellen, dass diese Stadt der perfekte Ort des Vergessens ist. In den 1990ern wuchsen leichte grüne Hochhäuser aus den 60er-Jahre Blöcken, welche ihrerseits die historischen Viertel ersetzten, die im Krieg dem Erdboden gleich gemacht wurden. Diese Türme wurden Teil des exklusiven utopischen Raums, der überall in den Geschäftsvierteln westlicher und östlicher Städte entstand. Sie tragen das Versprechen einer optimistischen Zukunft in sich, frei von Problemen, Zweifeln und Erinnerungen, eine seltene Gabe in Mitteleuropa. Dieser vertikale Luxus wird ausgeglichen durch die tägliche Armut, welche die Straßen dominiert und von dem offensichtlichen Mangel architektonischer Illusionen, der so weit reicht, wie das Auge blicken kann.

6.
Aber es besteht noch eine andere Gemeinsamkeit mitteleuropäischer Architektur, dank der austauschbaren Elemente des neoklassizistischen Stils der Monarchie. Eine eklektische Kultur der Duplikate verband konkurrierende Städte durch gemeinsame Referenzpunkte, jede Stadt ist so eine Kopie oder Synekdote einer anderen. Der Europahof in Bratislava ist eine Parodie des Phänomens, aber es gab Zeiten, in denen ganze Städte den Namen “Klein-Wien” trugen und darum wetteiferten sich selbst als “Paris des Ostens” zu bezeichnen.

Wenn die Stadt ein Text ist, dann sind mitteleuropäische Städte Hypertext. Straßennamen und Stadtteile können gar nicht anders, als die Namen anderer Regionen zu tragen, wie das Krakauer Viertel in Ljubljana oder das Prager Viertel Warschaus. Das Gemeinsame ist die besondere mitteleuropäische Mischung aus Sprachen, Wörtern, Zeichen und Melodien, die im urbanen Raum kristallisieren, sich mit den Theatern über das ganze Einflussgebiet der Monarchie ausbreiteten, alle im Stil von Fellner und Hellmer oder den Gebäuden von Joze Plecnik. Der Begriff des “radikalen Eklektizismus”, den der Architekt László Rajk für die architektonischen Traditionen Budapests prägte, beschreibt genau diese zeitlichen und räumlichen Wanderungen der Symbole. Ein alternativer Stadtführer bezeichnet dementsprechend Warschau als “eklektischen Cocktail”.

Die inzestuöse gegenseitige Verweisung erzeugt ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Oft in Kunst und Literatur der Region aufgenommen, wird diese kulturelle der Heimatlosigkeit unterbrochen durch die Architektur der Nachkriegsmoderne. Die Ideologie des Regimewechsels fand keinen angemessenen architektonischen Partner. So verschwindet heute die “sozialistische Stadt” hinter urbanem Marketing, welches zunehmend seine nostalgische Anhänglichkeit zum Anfang des 20. Jahrhunderts im Stadtbild festschreibt.

Das selektive Gedächtnis mitteleuropäischer Städte ist weder dem architektonischen Modernismus wohlgesinnt, der mit den totalitären Regimen assoziiert wird, noch den Mustern gegenwärtigen Denkens, dessen Spuren auf diese Form der Moderne zurückführen. Initiativen, die innovativen Potenziale dieser Tradition neu zu beleben, scheinen zwischen denselben Klammern eines kollektiven Vergessens zu verschlummern, wie manche sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Die Wiederentdeckung des Modernismus findet nur in engen professionellen Einfriedungen statt und in städtischen Gemeinschaften, die keine andere Wahl haben, als dieses Erbe anzutreten wie Berlin und Warschau.

7.
Was also ist das gemeinsam Erbe mitteleuropäischer Städte? Die heitere Gelassenheit des Fin-de-siècle, welche diejenigen, die die Gegenwart ablehnen, mit zerbrechlichen Versprechen der Kontinuität tröstet? Oder im Gegenteil, eine fortlaufende Vergänglichkeit, in deren endlosem Strudel der beständig provisorische Zustand der post-sozialistischen Stadt seinen natürlichen Platz findet. Einen Platz von dem selbst Wien, befreit von der unangenehmen Nähe zum eisernen Vorhang, nicht ausgeschlossen wäre?

Und was bedeutet die Gegenwart für diese Städte? Die Verschärfung der Gegensätze, die interne Differenzen und nationale Konflikte lokalisiert und im Stadtbild unübersehbar offenbart? Oder eine wiederentdeckte Vielfalt, in der das ohrenbetäubende Vogelgeschrei in Krakaus Parkring, der Widerhall der Glocken von Gdansk, der Donner der Hufe von Wiens Fiakern, das Zischen von Berlin vorbeisausender S-Bahn, das Rauschen der Vltava Dämme in Prag, das Klingeln der Straßenbahnen Budas und die Klänge einer Belgrader Musikkappelle alle zu Geräuschfragmenten einer einzigen Stadt verschmelzen?

Ich möchte glauben, dass Budapest wieder enger mit den anderen Städten der Region verbunden ist, nicht nur durch ökonomische Strategien, Abmachungen und Schnellstraßen, sondern auch durch umherirrende Menschen, Objekte und Geschichten. Vielleicht wird es einfach die neue Mobilität sein, verstärkt durch offene Grenzen und die Wiederentdeckung der Gastfreundschaft, die den Städten Mitteleuropas helfen wird, gegenseitig Vorort und Nachbarviertel zu werden.

Published 20 July 2012
Original in Hungarian
Translated by Bertram Keller
First published by Polar 12 (2012) (German version); Res Publica Nowa 14 (2011) (English version); Eurozine

Contributed by Polar © Levente Polyák / Polar / Eurozine

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