Im Garten des Vaters

Kapitel 1

Der Schatten der schweren Tür glitt über die Bodenplatten des Schulhofs, die Fenster spiegelten den blauen Kirchturm von Lathum wider, die Kinder rannten schreiend die Stufen der hohen Eingangstreppe hinunter.

Hans Sievez aus der fünften Klasse rannte nicht und schrie auch nicht, er ging mit der alten Einkaufstasche seiner Mutter an seinen festen Platz etwas abseits vomTrubel zwischen dem Eingang und der Mauer, die den Schulhof umgab. Er zog ein paar bunte, ausgefranste Tücher aus seiner Tasche, breitete sie mit gewandten, routinierten Bewegungen vor sich auf dem Boden aus und stellte eine leere Kreideschachtel, die der Lehrer ihm gegeben hatte, an den Rand. Niemand machte ihm diesen Platz streitig. Das war nun einmal sein Territorium.

Er ließ sich Zeit und schob die Stoffstücke noch einwenig hin und her, holte, soweit sein Asthma es zuließ, tief Luft, sah sich forschend um, die Hand zum Schutz vor dem grellen Licht über die Augen gelegt. In der Ecke bei der Blutbuche spielten die Mädchen Himmel und Hölle. Er wartete noch mit seiner Vorstellung, strich sich über den kahlen Schädel. Während ihrer gesamten Schulzeit waren die Jungen der Koning Davidschool kahlgeschoren. Danach waren sie alt genug, sich selbst zu entlausen. Für die Mädchen galt diese Regel nicht.

Er wartete noch immer. Bis auf ein paar Kinder aus den unteren Klassen hatte er kein Publikum. Von seinem Platz aus hatte er einen guten Blick über den Schulhof. Die Lehrerin und der Lehrer drehten ihre festen Runden, die Mädchen spielten Himmel und Hölle, die Jungen Fangen, der knotige Stamm eines toten Nußbaums diente ihnen zum Abschlagen.

Durch ihre Tracht ­ graue Kleider, graue Strümpfe ­ glichen die Mädchen einander. Eines aber stach heraus, weil es kurze rote Socken und einen Sonnenhut mit Bändern trug. Der Schatten des Huts fiel auf ihr Gesicht und ihre Arme, während sie in der Hocke saß und mit gelber Kreide einen Strich auf die Bodenplatten malte.

Hans zog eine Augenbraue etwas hoch, schien zu sich “Dann mal los” zu sagen, holte tief Luft, nahm die Position eines Wettläufers am Start ein, rannte, als würde sein Leben davon abhängen (aber richtig rennen, so wie die anderen, konnte er nicht), lief rot an, schnaufte, war auch im echten Leben bei der geringsten Anstrengung außer Atem, streckte triumphierend die dünnen Arme in die Luft, ließ sich dann in gespielter Erschöpfung zu Boden fallen.

Noch immer bekam er wenig Aufmerksamkeit. Immerhin hob der Lehrer in der Ferne die Hand in seine Richtung, und ein paar Kleinere klatschten. Er verbeugte sich, dankte mit einem kurzen Nicken, sah sich mit einem triumphierenden “Na, wie war ich?”-Blick um und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Es war heiß. Auch im Schatten der Mauer. Durch das niedrige Tor aus filigranem Schmiedeeisen, das den Blick auf das dampfende Moor freigab, drang kein kühler Wind.

Das Mädchen malte etwas dickere Kreidestriche, nun mit dem Rücken zu ihm. Warum sollte sie ihn auch beachten? Hans¹ Vater war Grubenmann in der Ziegelei. Ihr Vater wohnte auf dem Pachthof gegenüber der Fußgängerfähre von Lathum nach Velp, wo der Fluß eine scharfe Biegung machte. Schaute sie jetzt doch kurz auf? Ihr Blick wanderte umher, als würde sie jemanden suchen.

Hans streichelte ein Tier in seinen Armen. Es sprang weg, er hinterher. Der Junge lauschte, die Hand am Ohr. Es war nicht immer klar, was er darstellen wollte. Jetzt schien er einen Spaten in der Hand zu halten, tief und mühsam zu graben, Ton in einen Eimer zu schaufeln, den schweren Eimer zu schleppen (wieder das Keuchen), eine Leiter aus der tiefen Tongrube hinaufzusteigen, den Ton in eine Karre zu kippen, schwankend eine schmale Fährte entlang wegzufahren. Die wenigen Zuschauer begriffen. Er spielte seinen Vater. Ihre eigenen Väter waren auch Grubenmänner oder Lehmtreter. Lathum war ein sehr armes Deichdorf. Durch seine dünnen Schuhsohlen spürte Hans die Wärme der Bodenplatten.

Er spielte schon Theater, als er noch zu klein war, um zur Schule zu gehen, stand am Rand des verblichenen Teppichs in dem engen Veendersteeg (weil die Gasse vomMoor zum Deich hochführte), zog die alte Mütze gerade, die er im Stall hinter dem Haus gefunden hatte: “Na, wer bin ich, wer bin ich Š?” Er war Ziegeleiarbeiter wie sein Vater, strich sich mit dem kleinen Finger schräg über die Lippen. Vaters weiße Narbe quer über seinem Mund. Was hielt er in der Hand? Einen Spaten. So hatte es angefangen. Mit seinem Spiel am Rand des Teppichs.

Nein, noch früher.

Aus dem Zimmer schaute man auf das Rouveen, das Rote Moor, das so hieß, weil im Frühling hier der Sauerampfer blühte. Zusammen mit seiner Mutter saß er in der Abenddämmerung am Fenster. Auf der Böschung am Wegrand stand die Ziege mit ihrem spitzen Widerrist und dem Bärtchen, das einem trockenen Grasbüschel glich. Mutter wartete noch mit dem Anzünden des Gasstrumpfs. Zischen, Wiehern, Hufgetrappel ­ Spukgestalten schossen am Fenster vorbei. Eine schwarze Moorschlange. Pferde aus dem Moor, in vollem Galopp. Er hauchte Tieren, die nicht existierten, Leben ein.

Die Mutter schaute zu. “Laß dich nicht von Vater erwischen.”

Bis auf die Glühwürmchen war es jetzt vollkommen dunkel. Es gab keine Straßenlaternen. Die standen nur bei der Abzweigung zur Ziegelei und bei der Fähre.

Hans spielte wegfließendes Wasser. Moorwasser schien immer wegzufließen. Wohin? Wieder der über die Lippen streichende kleine Finger. Er hatte Angst vor der Narbe, Angst vor seinem Vater. In der Ferne heulte die Sirene der Ziegelei. In einer halben Stunde würde er zu Hause sein.

“Jetzt ist es genug”, sagte die Mutter. Er trat zu ihr, schaute sie an. Er konnte sie mit seinen hellblauen Augen auf eine ganz besondere Art ansehen, lieb, verträumt. Er wünschte, er hätte keinen Vater.

Die älteren Brüder von Hans waren in der Ziegelei bei einem Unfall mit dem Kippwagen ums Leben gekommen. Beide waren kräftige Jungen gewesen, mit Händen wie Pranken. Hans kannte sie nur von einem Foto. Er war ein Nachkömmling. Der schwächste. Mutters Liebling. Ihr Benjamin. Er war vor allem ihr Kind. Außer Atem legte Hans seinen glühenden Kopf in ihren Schoß.

Während sie über seinen schweißnassen Kopf strich, sagte sie, daß er sich ganz kaputtmache. Am Bauch seiner Mutter bewegte sich sein Gesicht sanft mit ihrem Atem auf und ab.

“Auf”, sagte sie, “Vater wird gleich da sein.” Sie stand auf, zündete den Gasstrumpf an, der weiß aufglühte, orange wurde und leise zu zischen begann.

Theaterspielen lag ihm im Blut. Heute war er in Form und hatte mehr Publikum. Und das Publikum spielte, daß es Geld in die Kreideschachtel warf. Seine Vorstellung war glaubwürdiger denn je. Im Kampf mit einem gefährlichen Rivalen schlug er gezielt zu, spielte voller Ernst, voller Überzeugung, vergaß sein zu kurzes Hemd, die völlig zerschlissene Hose, aus dem Hochzeitsanzug seines Vaters geschneidert und vom vielen Waschen ausgebleicht, vergaß den mageren Jungen mit den hohen Schultern eines Asthmatikers. Spielte übertrieben, als er sie in seine Richtung kommen sah. Stieß sich selbst unerwartet um und fiel zur Seite, ein angeschossener Vogel, der sich noch bewegte, dann wie tot liegen blieb, sich flügelschlagend aufrichtete, dann wieder verträumt vor sich hin starrte. Ein Possenreißer, dieser Hans Sievez, ein Schausteller. Auffallen, sich zum Narren machen.

Das Mädchen setzte sich auf die oberste Stufe vor der Schultür, den Sonnenhut neben sich. Von oben schaute sie auf ihn herab, das dunkle, von einem schmalen Band zusammengehaltene Haar leuchtete in der Sonne rot. Seelenruhig saß sie da und schaute ihm zu, als sei ihre Anwesenheit selbstverständlich. Sie gehörte dorthin.

Wenn er tief in Gedanken versunken war, berührten sich seine Augenbrauen fast, und er sah verstört aus. Er müßte ihr erzählen, daß er später zu einem Wandertheater wollte, auf keinen Fall in der Ziegelei arbeiten. Er schlug die Hände vors Gesicht, als hätte er sich erschreckt. Er mußte alle seine Künste aufbieten.

Sie beugte den Kopf etwas tiefer, und zwei Locken, dunkler als der Rest, lösten sich aus dem schmalen rot-blau karierten Band und fielen ihr ins Gesicht. Er spürte diewarme Luft um seinen Körper.

Der Lehrer blies auf der Trillerpfeife. Hans packte seine Sachen zusammen und stopfte sie in die Tasche. Zu zweit nebeneinander gingen die Kinder in die Schule. Da trat er aus der Reihe und hängte die Tasche an den Garderobenhaken neben dem von Margje van Renes. Reiner Zufall, daß ihre Haken nebeneinander waren.

Published 29 June 2007
Original in Dutch
Translated by Bettina Bach

© Jan Siebelink/Arche Literatur Verlag 2007 Eurozine

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