Europäische Säkularisierung. Ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft?

Eine theoretische Anmerkung

1 Zur Permanenz von Religion in der modernen Gesellschaft

1.1 Was leistet Religion?

Der evolutionäre Optimismus der Modernisierungstheorien hat gerade im Hinblick auf Religion eine besondere Kränkung erfahren. Die im Zuge der Modernisierung erwartete voranschreitende Säkularisierung der Welt findet nicht statt. Wir wissen zwar, dass in komparativer Hinsicht Europa die am weitesten säkularisierte Gesellschaft (man kann auch sagen: die gottloseste Gesellschaft) gewesen ist. Dem stehen die USA und der Irak gegenüber, die wohl zu den frömmsten Gegenwartsgesellschaften zu zählen sind.

Dennoch ist das Religiöse nicht verschwunden. Angesichts des Fortbestehens von Sinnstrukturen und Handlungsmotiven, die weder ökonomisch noch politisch sind sondern Sinnsuche für sich geblieben sind, hat die sozialwissenschaftliche Forschung drei Auswege gesehen, um sich diesen Phänomenbereich analytisch zu erschließen. Eine solcher Zugriff ist die Erweiterung des Felds des Religiösen als eines zivilreligiösen Bereichs.1 Ein anderer ist die Absonderung des Religiösen in den Phänomenbereich “neuer” religiöser Bewegungen.2 Ein dritter ist schließlich die Vorstellung einer in die private Alltagswelt zurückgenommenen Religiosität, das Unsichtbarwerden von Religion, eine Vorstellung, die an die Vorstellung eines besonderen Teilsystems für Religiöses anschließen kann.3

Die theoretische wie die praktische Vergewisserung des Religiösen ist unter den Bedingungen der Moderne in der Tat anders und schwieriger als unter vormodernen Bedingungen. Das hat einmal mit der Ausdifferenzierung eines vom Religiösen getrennten Bereichs praktisch-politischer Aufklärung und Zivilität zu tun. Religiöse Differenz darf nicht mehr die praktisch-politische Zivilität im Umgang des kulturell Unterschiedlichen miteinander brechen. Sie hat weiterhin mit der kognitiven Dezentrierung zu rechnen, die sich aus der permanenten Begegnung mit anderen, die anderes glauben, ergibt. Und sie steht in Konkurrenz zur Wissenschaft, die das, was als Wissen gelten soll, gerade unabhängig von Religion bestimmt.

In diesen kognitiven Brechungen des Religiösen verändert sich die Bindungswirkung, die sich aus dem konstitutiven Bezug des Sozialen auf ein sozial konstruiertes Gemeinsames ergibt. Die institutionalisierte Bindungswirkung (“religio”) wird umgebaut, doch es bleibt ein Sinnzusammenhang jenseits von Wissenschaft und politischer Praxis, jenes Moment einer gemeinsamen Verarbeitung von Erinnerungen, die kein gelingender praktischer Diskurs noch keine wissenschaftliche Aufklärung zu leisten vermag und die zugleich mehr ist als subjektiver Trost. Religion als jene Form, in der wir unsere Vergangenheit in Erinnerung gießen und diese uns erträglich gestalten.4 Religion als Aufarbeitung von Vergangenheit beschreibt eine solche unhintergehbare Bindungswirkung. Der gemeinsame Horizont, gefasst in Begriffe wie begangene Sünden, unrechte Taten, Verstrickung in Böses, wird erinnert, präsent gehalten und mit einer besonderen Form von Kommunikation über diese Vergangenheit verknüpft.

Die besondere Leistung dieser Kommunikation ist nicht die Einklagbarkeit eines Geltungsanspruchs, sondern die Transformation des Nichtsagbaren in Sagbares.5 Diese Übersetzungsleistung ist allerdings nicht beliebig. Im Bereich religiöser Kommunikation gelten ebenfalls Regeln, deren Besonderheit mit Begriffen wie Ritual nur in der Erscheinungsform begrifflich erfasst wird.6 Damit avanciert religiöse Kommunikation ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Analyse: Die Leistung von Religion ist, mit Hilfe eines Bezugs auf Nichtsagbares eine Verbindung der Gegenwart mit einer Vergangenheit und einer möglichen Zukunft herzustellen. Religion erlaubt es, mit Tradition zu leben, die Gegenwart und die Zukunft in eine Vergangenheit einzubetten, letztlich: in einer mit anderen geteilten Erinnerung zu leben. Religiöse Kommunikation schließt den sozialen Raum als einen symbolisch konstituierten, in dem sich Menschen dann verstehen und missverstehen können. Religiöse Kommunikation erzeugt also eine Lebenswelt, in der sich die Teilnehmer als dieser Lebenswelt als zugehörig erkennen und anerkennen können. Religion konstituiert einen heiligen Raum, in dem sich eine Gemeinschaft erkennt und anerkennt.7

Diese “Heiligkeit des Raumes” findet sich auch in der Gegenwartsgesellschaft. Das wohl stärkste Indiz dafür ist die Reaktion des aufgeklärten Westens auf die Religiosität der Anderen, die auf die Formel des Fundamentalismus gebracht wird. Die Rede von “Fundamentalismus” erlaubt eine Grenzziehung zum Anderen, die zugleich zur Pflicht des Schutzes des Eigenen aufruft. Gegen das irrationale Andere wird die Verteidigung der Ratio gestellt. So erhält das Eigene den Status des Heiligen.

1.2 Die Zunahme religiöser Kommunikation in der Moderne

Der heilige Raum, der über religiöse Kommunikation erschlossen wird, ist dem Anderen nur über besondere Hürden zugänglich: Der andere, der dort eindringt, ist ein Problem.8 Denn er spricht nicht die Sprache, die das Unsagbare kommunizierbar macht. Er ist nicht nur Fremder, sondern jemand, der eine andere Sprache spricht. Zugang zum Kosmos der sich Verstehenden bedarf einer besonderen Sozialisation, einer besonderen Einübung in rituelles Handeln. Dies erklärt die besondere Inklusionsleistung und die damit verbundene besondere Exklusionsleistung religiöser Kommunikation.

Der Globalisierungsprozess, verstanden als eine Ausdehnung von Technologien, die Kommunikation beschleunigen, verdichten und jedem zugänglich machen, befördert – entgegen den Annahmen der Modernisierungstheorie – auch die Religion. Dieses Phänomen ist oft und in unangemessener Weise als Ökonomisierung des Religiösen begriffen. Womit wir es zu tun haben, ist eine Entfesselung des Religiösen. Sie ist ein Ergebnis der Säkularisierung, ein Ergebnis der Abkopplung des Religiösen von politischen und ökonomischen Machtstrukturen.

Dafür sprechen auch empirische Indizien. Die Zahl der Religionen wie der Gläubigen nimmt zu. 9900 eigenständige Religionen soll es heute geben, mit zunehmender Tendenz, und jeden Tag kommen zwei oder drei neue hinzu.9 Das Christentum kennt heute 33000 Konfessionen, gegenüber 1800 um das Jahr 1900. Dazu zählen afrikanische Gospelkirchen, die südafrikanische Zion Christian Church, die Church of God Mission usw. Auffallend an diesem Phänomen der globalen Pluralisierung von Bekenntnissen ist dessen strukturelle Homologie mit der religiösen Pluralisierung, die sich in den Vereinigten Staaten ausgebildet hat. Offensichtlich ist religiöse Pluralisierung ein mit Modernität einhergehendes Phänomen, das unter je spezifischen Bedingungen historisch schneller oder langsamer, quantitativ stärker oder weniger stark ausfallen kann. In Europa haben sowohl starke Traditionen der institutionalisierten Kirche wie die Dominanz des Projekts nationaler Einheitskulturen diese Pluralisierung eher behindert bzw. verlangsamt. Dennoch scheint gerade auch Europa diesem Pluralisierungsmuster sozialer Formen des Religiösen zunehmend zu folgen (s.u. Abschnitt 3).

2 Soziale Erscheingungsformen des Religiösen

2.1 Neue religiöse Bewegungen – ein anschlussfähiges Forschungsfeld

Die Zunahme von Religion in der Moderne findet sich nicht zufällig in jener eigentümlichen sozialen Form, die als “soziale Bewegungen” bezeichnet wird.10 Soziale Bewegungen sind Formen von Vergemeinschaftung, in denen kollektives Handeln möglich wird, das sich gegen bestehende institutionelle Formen richtet und in diesem Sinne (und nur in diesem Sinne) vorinstitutionell ist. Dieses Phänomen wird unter dem Kürzel NRB-Forschung (NRB = neue religiöse Bewegungen; oder “NRW” = new religious movements) diskutiert.11

Das Phänomen religiöser Bewegungen ist quantitativ beeindruckend. Den aus dem christlichen Kontext kommenden Pfingstkirchen werden bis 2050 Schätzungen zufolge ca. 1 Milliarde Menschen angehören. Die Sufiorden (Nakshanbandiya) zählen ca. 50 Millionen Mitglieder in Indien, die Cao Dai 3 Millionen. Sokka Gakkai International (der Buddhismus für Kapitalisten) zählt 18 Millionen Anhänger. Hinzu kommen Bewegungen wie die – selbst aus verschiedensten Orientierungen sich zusammensetzende – New Age Bewegung.12

Die besondere Gelegenheitsstruktur für diese Formen von Mobilisierung ist die Einbettung in transnationale Kontexte. Diese Verortung koppelt sie vom dominanten institutionellen Muster moderner Gesellschaft, dem Nationalstaat, ab. Transnationale Räume, die der Kontrolle des Nationalstaats selbst weitgehend entzogen sind, öffnen Räume für kollektive Sinnsuche, die im säkularen Nationalstaat insbesondere Europas verschlossen sind. Die besondere Organisationsform dieser Bewegungen ist eine Mischung aus Netzwerkstrukturen und formaler Organisation. Die Identität dieser Bewegungen wird über Sinnfragen hergestellt. Die neuen religiösen Bewegungen fügen sich problemlos dem Modell, das die Bewegungsforschung an den neuen sozialen Bewegungen entwickelt hat (McAdam et al. 1996).

2.2 Die Mobilisierung religiöser Differenz

Ein weiteres Moment der Intensivierung religiöser Kommunikation ist die interne Dynamik jener Religionen, die sich selbst als universalistische Religionen beschreiben und durch diese Selbstbeschreibung Konfliktdynamiken besonderer Art in Gang setzen: einmal die Kämpfe zwischen Doxa, Orthodoxie und Heterodoxie, die vor allem für die abrahamaischen Traditionen (Islam, Christentum, Judentum), aber auch für den Hinduismus und Buddhismus typisch sind, dann Kämpfe zwischen politischer Macht und religiösem Glauben, die die universalistischen Religionen (die Achsenzeitreligionen in der Terminologie von Eisenstadt (1988) im besonderen gekennzeichnet hat. Der Kampf universalistischer Religionen untereinander im Namen der Religion, die Unterdrückung der Moslems durch Hindus, der Christen durch Moslems, der Moslems durch Hindus sind Formen religiöser Mobilisierung, die sich besonderer öffentlicher Aufmerksamkeit sicher sein kann.

Diese Konfliktdynamiken werden unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung erneut angeregt. Es geht dabei nicht mehr nur um die Reaktion auf die europäische Kolonialisierung der Welt, in der die Eigendynamik religiöser Traditionsbildung in einer besonderen Weise verzerrt wurde13, sondern auch um einen Kampf unterschiedlicher kultureller Entwürfe einer modernen Gesellschaft. Der Kampf des Islam gegen die Industrienationen ist ein Kampf um eine besondere Form der Traditionsaneignung, die gegen das europäische Modell gesetzt wird. Dieser Kampf reicht – wie alle kulturellen Kämpfe – von der gewaltlosen öffentlichen Darstellung der eigenen Herkunftsidentität bis hin zum gewalttätigen, mit den Mitteln des Terrors arbeitenden Kampf gegen die unterdrückende Kultur des Anderen. Am einen Extrem steht die Spiritualität der asiatischen und afrikanischen Christen im Kampf gegen den gottlosen Norden. Am anderen Extrem steht die Identifikation des säkularen Nordens mit dem Teufel, gegen den im Namen Gottes gekämpft werden muss, denn – so die Botschaft – Gott ist groß, und er wird die säkularen Länder hart bestrafen.14

Eine weitere Form des Öffentlich-Werdens des Religiösen ist die staatliche Verfolgung religiöser Gruppen. Sie reicht von der (vor allem in den USA) öffentlichkeitswirksamen Feststellung einer Verfolgung von New Age in Deutschland bis hin zur Benachteiligung islamischer Traditionen in Deutschland; sie reicht von der Verfolgung buddhistischer Traditionen bis hin zur Verfolgung der Falun-Gong in China. Die Religion wird öffentlich, indem sie unterdrückt wird.15 Eine besondere Qualität erhält diese staatliche Verfolgung von Religionen im Kontext von Staaten, die Religionen im Namen von Säkularität einzugrenzen und zurückzudrängen suchen. Der Kampf von Säkularität und Religiosität steigert die öffentliche Präsenz gerade in säkularen Staaten, in denen Öffentlichkeit zum regulativen Prinzip der demokratischen Kontrolle staatlicher Macht geworden ist.

Die globale Durchsetzung des modernen Nationalstaats hat also einmal die klassische religiöse Konfliktdynamik differenziert. Es geht auch, aber nicht mehr nur um religiöse Konflikte. Für die neue Sichtbarkeit des Religiösen ist eine andere Konfliktlinie zentral geworden, nämlich die neuen Kämpfe zwischen Staat und Religion, die staatlich-säkulare Kontrolle von Religion bzw. die religiöse Provokation des säkularen Staates. Gerade dieses Phänomen unterläuft das Verschwinden der Religion hinter einer säkularen Öffentlichkeit. Es provoziert nicht nur den Staat und seine Macht, sondern auch das Selbstverständnis des modernen Staates als eines säkularen Staates. Die postsäkulare Gesellschaft ist das widersprüchliche und widerspenstige Pendant des säkularen Staates. Die Entwicklung beider ist kein Nullsummenspiel, sondern ein Positivsummenspiel. Beide Prozesse werden beschleunigt und über ein Drittes zwischen Staat und Gesellschaft reguliert: die massenmedial organisierte Öffentlichkeit.

2.3 Die neue Religiosität und die Massenmedien

Die öffentliche Sichtbarkeit von Religion ist an die massenmediale Verstärkung religiöser Kommunikation gebunden. Dieses Phänomen hat bereits die Bewegungsforschung gesehen und belegt. Bewegungen existieren in dem Maße, wie über sie berichtet wird. Auch religiöse Bewegungen existieren in dem Maße, wie mediale Kommunikation über diese Bewegungen stattfindet.16 Religiöse Bewegungen haben Nachrichtenwert, der von diesen Bewegungen selbst genutzt wird.

Diese Form deckt allerdings nur einen Teil der massenmedial vermittelten Form religiöser Kommunikation ab. Sie ist beobachtende Kommunikation über religiöse Mobilisierung. Hinzu kommt jene Form, in der massenmediale Kommunikation selbst die Form religiöser Kommunikation übernimmt. Dies kennzeichnet die massenmediale Predigt, die massenmediale religiöse Ansprache, in der private Religiosität öffentlich wird. Die Differenz von privat und öffentlich fällt in der Virtualität der massenmedialen Kommunikation zusammen.17

Schließlich übernimmt massenmediale Kommunikation selbst die Funktion religiöser Kommunikation: Die Herstellung einer Gemeinschaft von Zuschauern über die Kommunikation sinnerzeugender Handlungszusammenhänge wie die Talkshow oder die Serie, die das Leben vorlebt, ist strukturell homolog zur religiösen Vergemeinschaftung. Diese Eigenschaft massenmedialer Kommunikation manifestiert sich in der Trennung Politik/Information und Unterhaltung, wo Politik und Information für das Säkulare und Unterhaltung für das Nicht-Säkulare steht.

Damit tritt religiöse Kommunikation in Konkurrenz zu säkularer Kommunikation. Öffentlichkeit als das Spezifikum einer säkularen Gesellschaft, als Ort der kritischen Debatte zwischen freien und gleichen Bürgern, wird zugleich Ort nicht-säkularer Kommunikation. Dabei bleibt die kritische Öffentlichkeit an die über den Nationalstaat definierte Gesellschaft gebunden, während die nicht-säkulare Kommunikation die nationalen Grenzen überschreitet und eine transnationale Öffentlichkeit nicht-säkularer Kommunikation hervorbringt.

Nun ist nicht jede nicht-säkulare Kommunikation religiöse Kommunikation. Sie wird es aber dann, wenn sie sich in einen Gegensatz zu säkularer Kommunikation setzt und zugleich Sinngebungsansprüche erhebt. Hinzu kommt eine Form reflexiver Kommunikation, die in säkularen Begriffen nicht-säkulare Kommunikation thematisiert, also über die Angemessenheit von Sinn unter Geltungsgesichtspunkten diskutiert. In der Öffentlichkeit kumulieren und artikulieren sich also die Prozesse, die auf die unzureichende Formel einer postsäkularen Gesellschaft gebracht worden sind. Das theoretisch zu verarbeitende Problem ist nicht das Problem von Säkularisierung, verstanden als Dominanz des aufklärerischen argumentativen Kommunikationsmodus, über einen nicht-säkularen, an Sinnerleben gebundenen Kommunikationsmodus. Das Problem ist die Gleichzeitigkeit von säkularer und nicht-säkularer Kommunikation und die damit verbundene Entwicklungs- wie Konfliktdynamik.

3 Europa und Die öffentliche Sichtbarkeit von Religion

3.1 Die öffentliche Unsichtbarkeit der Religion in Europa

Die These einer “fundamentalistischen” Wende der Moderne, eines globalen “Spiritualisierungsprozesses” verweist auf eine tiefer sitzende Ambivalenz des Verhältnisses von Moderne und Religion. Diese Ambivalenz steckt bereits in der empirischen Beobachtung eines religiösen Pluralismus, ablesbar an der wachsenden Zahl christlicher Konfessionen, nicht zu sprechen von den vielen nicht-christlichen Kirchen oder gar New Age. Dieser Pluralismus produziert nicht nur neue religiöse Konflikte. Er fördert auch jenen Geist des Missionarischen, der das Religiöse mit dem Geist von Zivilität in Konflikt bringt dort, wo im Namen von Religion der Andere entwertet wird. Die Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit ist einmal mit der Pluralisierung religiöser Praxis verbunden, die religiöse Konflikte schürt und Zivilität zerstört. Zum anderen provoziert diese Rückkehr des Religiösen auch den Geist des Säkularen, die Reflexion des Interpretationshorizonts einer säkularen Gesellschaft.

Diese Ambivalenz wird in Europa radikalisiert. Europa ist der Schlüsselfall für die Logik und Dynamik des Verhältnisses von Säkularisierung und postsäkularer Gesellschaft. Denn Europa ist ein säkularer Kontinent im Sinne einer Kultur, in der im Selbstverständnis dieser Gesellschaften rational einklagbare Geltungsansprüche argumentativer Rede den Primat vor anderen Formen von sprachlicher Kommunikation übernommen haben. Säkularisierung, jener Prozess der durch Rechtssetzung politisch gewollten Entmachtung religiöser Institutionen, ist zugleich ein Prozess der Freisetzung eines Raums öffentlicher Kommunikation. Säkularisierung heißt dann, dass keine Kommunikation, auch nicht religiöse Kommunikation, dem Test öffentlicher Debatte und Kritik entkommt. Zugleich ist Europa ein postsäkularer Kontinent, in dem nicht-institutionalisierte Formen von Religiosität gerade in den von institutionalisierter Religion nicht mehr besetzbaren sozialen Räumen eine besondere Dynamik entfalten können.

Diesen Effekt macht Hervieu-Léger (2000) verständlich. Säkularisierung bedeutet für das religiöse Bewusstsein einen Bruch in der Tradition religiösen Denkens, einen Bruch in dem, was Religiosität zuallererst auszeichnet, nämlich eine lange Kette kollektiver Erinnerung bereitzustellen. Die lange Erinnerung wurde einerseits in die Sphäre des Privaten ausgelagert und andererseits von politischer Macht usurpiert: Kollektive Erinnerung wurde zur Erinnerung der Herrlichkeit des Staates, des Volkes oder der Nation. Europa ist in diesem Sinne in der Tat ein säkularer Kontinent geworden: Religion als Privatangelegenheit und Erinnerung als Staatsangelegenheit gehören zu den regulativen Prinzipien der Selbstbeschreibung der modernen Nationalstaaten in Europa.18 Die These von der Unsichtbarkeit von Religion in modernen Gesellschaften macht theoretisch Sinn gerade dort, wo die Idee eines säkularisierten Freiraums öffentlicher Kommunikation und die Idee einer in die private Lebenswelt verbannten (und so unsichtbar werdenden) religiösen Bindung realisiert wurde. Die europäische Gesellschaft19 ist ein exemplarischer Fall dieser säkularen Form.

In der Öffentlichkeit, die sich in Europa als das Forum der Bürger gegen den bevormundenden Staat ausbildete, war die Religion zwar präsent, doch nur in einer eigentümlich vermittelten Form: Religion mutierte zu einem System von Werten, zu denen man sich bekannte und die ihrerseits rational begründet werden konnten. Zivilreligion ist jener Begriff, der die Präsenz solcher Glaubenshaltungen zu fassen sucht (Bellah 1992). In der Privatsphäre wurde Religiosität von den Strukturen sozialer Macht und sozialer Ungleichheit entkoppelt und in das Individuum hineinverlegt (Wohlrab-Sahr 1995). Im Individuum wird sie dann sozial unsichtbar, eben “unsichtbare Religion”. In Verbindung mit der Individualisierungstheorie hat sich hier der Religionssoziologie eine Sichtweise erschlossen, in der die unsichtbare Religion als Teil der fortgeschrittenen Moderne begriffen werden konnte (Wohlrab-Sahr 2000).

Diese neue Verbindung hat ihre Kosten: einmal die theoretische Schwäche, auf neue Formen öffentlicher Religiosität anders als mit einer regressionstheoretischen Hypothese zu reagieren, dann den Verlust einer theoretisch überzeugenden Verknüpfung des religiösen Phänomens mit einer makrostrukturellen Beschreibung der modernen Gesellschaft.20 Beide Defizite werden in dem Augenblick besonders sichtbar, in dem Religion wieder öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und der Zusammenhang mit Macht und Ungleichheit wieder Teil des öffentlichen Diskurses wird. In dem Maße, wie die Individualisierungstheorie ihre empirische Plausibilität verliert, verliert auch die These von der unsichtbaren Religion ihren heuristischen Gehalt. Religion erweist sich vielmehr als ein Feld sozialer Auseinandersetzungen und Kämpfe, in denen es gleichermaßen um Macht und Ungleichheit wie um Anerkennung und Identität geht.

3.2 Die Öffentlichkeit der Religion in Europa

Die Rückkehr religiöser Ausdrucksformen in die Öffentlichkeit der europäischen Gesellschaft weist über die Individualisierungsthese hinaus. Religion ist nicht mehr nur eine Sache privaten Erlebens, sondern auch ein Medium der Darstellung sozialer Differenzen und des Austragens sozialer Konflikte. Die Präsenz anderer Religiosität in Europa macht die unsichtbare Religion als Teil eines makrostrukturellen Zusammenhangs sichtbar. Religion wird zu einem sichtbaren gesellschaftlichen Phänomen.

Religiös “imprägnierte” Überzeugungen (Habermas) prallen im öffentlichen Raum aufeinander. Daraus folgt, dass Religion ein besonderes Problem für die Idee des säkularen Staates darstellt – Säkularität muss sich mit der neuen öffentlichen Sichtbarkeit des Religiösen arrangieren und reicht zugleich nicht hin als Basis für die Erzeugung eines postsäkularen Konsenses. Der demokratisch aufgeklärte Commonsense gerät an seine Schranken in dem Maße, wie seine konstitutiven Regeln selbst als “zivilreligiöse” Regeln öffentlich thematisiert und mit missionarischem Eifer verteidigt werden. Die prozeduralistische Ethik demokratischer Selbstbestimmung, jene implizite Religion der säkularen Moderne, wird zum Gegenstand öffentlicher Reflexion, wird dabei von anderen religiösen Formen abgegrenzt, in deren Verlauf die Grenzen zwischen diesen Formen selbst wieder strittig werden.

In dieser Gemengelage wird es notwendig, die Grenze zwischen rationaler Argumentation und Vergewisserung eines gemeinsamen Erfahrungs- und Sinnhorizonts genauer zu bestimmen. Der Eintritt der Religion in den öffentlichen Raum Europas ist nicht eine Wiederverzauberung Europas noch ist es ein historischer Test auf die Rationalität Europas. Es ist ein Fall der “Dialektik” von diskursiver Aneignung von Erfahrung und der Konstitution kollektiv geteilter Erfahrungen. Mit der Formel “Säkularisierung in postsäkularen Gesellschaften” hat Habermas (2001) diese Verschränkung gefasst und dabei vor allem die europäische Erfahrung gemeint. Jede Form einer vorargumentativen Vergewisserung eines lebensweltlichen Horizonts, jede Lebenswelt muss in modernen Gesellschaften den “Säkularisierungstest” bestehen. Dieser Test besteht darin zu überprüfen, ob eine besondere lebensweltlich imprägnierte Identität die zivilen Bande mit anderen besonderen Identitäten zumindest nicht zerbricht. Man kann diese Formel weitertreiben und sagen, dass dieser – genuin moderne – Säkularisierungstest nicht nur überprüft, ob zivile Bande nicht zerbrochen werden, sondern auch dazu dient, dass diese Bande immer wieder hergestellt werden können. Dann werden Lebenswelten nicht nur zivilisiert und gezähmt, sondern sind konstitutiv in den Prozess dieser rationalen Überprüfung eingebunden.

Daraus ergeben sich veränderte Perspektiven für die theoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Religion und moderner Gesellschaft. Denn kulturell imprägnierten Lebenswelten sind an transzendentale Sinnhorizonte als dem gemeinsam geteilten Verständnis der eigenen Lebenswelt gebunden. Diese Bindung ist das, was Religion ausmacht. Solche Bindungen können stärker oder schwächer sein, sind können lange Ketten oder kurze Ketten von kollektiver Erinnerung sein, und damit unterschiedlich starke kollektive Identitäten begründen. Zugleich erfordert die moderne Gesellschaft die reflexive Distanz zu diesen Erinnerungen, einen Modus des rationalen Umgangs mit Erinnerungen, der zugleich seine eigene Rationalität immer wieder mit sicherstellen muss. Das ist die Leistung diskursiver Auseinandersetzung, deren soziale Form in den institutionalisierten Räumen öffentlicher Kommunikation zu suchen ist.

Solange diskursive Kommunikation einer öffentlichen Sphäre und die lebensweltliche Vergewisserung eines Kommunikationszusammenhangs der privaten Sphäre zugeordnet werden konnte, konnte das Problem der Klärung ihres Verhältnisses latent gehalten werden. Wenn Religion aber aus der privaten Sphäre ausbricht und politisch wird, zugleich auch öffentliche Kommunikation sich hin zu lebensweltlicher Kommunikation ausdehnt, dann sind Effekte in beide Richtungen zu erwarten: Verteidigung des reinen öffentlichen Raums oder Verteidigung der reinen Privatsphäre, Eroberung des öffentlichen Raums oder Eroberung der Lebenswelt.

Diese Konfrontation von öffentlicher Kommunikation als dem Inbegriff säkularisierter Kommunikation und lebensweltlicher Kommunikation als dem Inbegriff nicht-säkularisierter, also religiöser Kommunikation, lässt weder den diskursiven Modus öffentlicher Kommunikation noch den Modus lebensweltlicher Vergewisserung gemeinsamer Sinnhorizonte unberührt. Es entsteht ein Prozess gegenseitiger Durchdringung, in dem die Illusion der sozialen Voraussetzungslosigkeit diskursiver Kommunikation ebenso zerstört wird wie die Illusion der diskursiven Immunität religiöser Kommunikation.

Für eine Soziologie öffentlicher Kommunikation in Europa bedeutet dies, laizistische Grundüberzeugungen zu relativieren und die Idee eines für politische Kommunikation reservierten Raumes diskursiver Kommunikation zu reformulieren.21 Öffentlichkeit in Europa ist selbst Ergebnis der zunehmenden Verflechtung nationaler öffentlicher Kommunikationsräume, in denen die Pluralität von Sprachspielen ein Problem wird, was im nationalen Kontext mit der Unterstellung einer gemeinsamen Sprache gar nicht zum Problem werden konnte. Die Naivität, dass Lebenswelten auf eine nationale Sprache gegründet seien, wird in den Diskussionen um europäische Öffentlichkeit deutlich. Erst der Rückgriff auf die Idee einer Interpretationsgemeinschaft jenseits von nationalen Sprachgemeinschaften macht die besonderen Leistungen deutlich, die mit der Herstellung eines in einer Lebenswelt gegründeten gemeinsamen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonts verbunden sind. Damit sind in die Idee einer diskursiven Öffentlichkeit immer schon auch lebensweltliche Voraussetzungen als Bedingung der Möglichkeit diskursiver Auseinandersetzung miteingebaut.

Die Pluralität von Lebenswelten, die in einer europäisch gedachten Öffentlichkeit miteinander reden und sich verständigen sollen, setzt voraus, dass es einen gemeinsamen lebensweltlichen Horizont bereits gibt, dass er unterstellt werden muss, dass dieser aber immer zugleich der reflexiven Vergewisserung als eines Partikularen bedarf. Es ist zu erwarten, dass in diesen postnationalen Öffentlichkeiten die lebensweltlichen Grundlagen thematisch werden. Die säkulare Gesellschaft des europäischen Nationalstaats entlässt religiöse Kommunikation aus der Privatsphäre und relativiert den unhinterfragten lebensweltlichen Verweisungszusammenhang der national definierten Gesellschaft: die Nation. Der postnationale soziale Raum ist der soziale Ort, an dem bislang privatisierte und latent gehaltene lebensweltliche Horizonte an öffentliche Diskurse andocken können. Der Formierungsprozess einer modernen Öffentlichkeit in Europa ist dann nicht mehr als Fortsetzung eines in nationalen Kontexten vorangetriebenen Säkularisierungsprozesses zu denken, sondern als reflexive Aneignung partikularer Traditionen, als Einfallstor für eine postsäkulare Gesellschaft. Identitätskommunikation interveniert in den öffentlichen Diskurs und stellt dessen Identität, das Unhinterfragte einer nationalen Lebenswelt zur Disposition.

3.3 Religiöse Kommunikation als Identitätskommunikation

Die lebensweltliche Problematisierung einer säkularen Öffentlichkeit, die sich in der Formierung einer europäischen Öffentlichkeit abzeichnet, ist gekoppelt an den komplementären Prozess der Ankopplung lebensweltlicher Sinnhorizonte an zunehmende Identitätskommunikation. Identitätskommunikation ist Arbeit an dem, woher man gekommen ist und was man geworden ist. Identitätskommunikation ist die konstitutive Leistung von Religion. Wenn wir mit Hervieu-Léger Religion als eine Kette von Erinnerungen, als Arbeit an der Vergangenheit verstehen, wenn Religion das ist, was die Erinnerung an Vergangenes sicherstellt und als Erinnerung die Gegenwart transzendiert, dann ist Identitätskommunikation letztlich religiöse Kommunikation.

Moderne Gesellschaften haben diese Identitätskommunikation in das Subjekt zurückverlegt, zu einem individuellen Projekt und Problem gemacht. Die Identitätskommunikation, die sich in postnationalen (oder transnationalen) Gesellschaftsformen ausbildet, stellt diese Privatheit in Frage. Sie ordnet individualisierte Identität wieder in den Kontext eines erst herzustellenden Interpretationshorizonts, in eine das Subjekt herstellende Lebenswelt ein. In dieser Konstellation nimmt Kommunikation über Erinnerung, religiöse Kommunikation im Hervieu-Léger¹schen Sinne, zu.

Was wir von der Geschichte, von vergangenen Ereignissen festhalten, sind selektive Erinnerungen. Das gilt für Individuen, die ihre Geschichte in eine für andere verständliche Biographie einbauen. Das gilt auch für Gesellschaften, die vergangene Ereignisse in ihre Historiographie einbauen. Die erinnerte Geschichte ist weniger als die Abfolge von Ereignissen. Sie ist zugleich mehr: Eine Historiographie gibt – wie eine Biographie – vergangenen Ereignissen einen Sinn. Die in modernen Gesellschaften evolutionär sich steigernde Historiographisierung vergangener Ereignisse führt somit in ein Paradox: Sie zwingt einerseits zu immer mehr Selektivität und sie erzeugt immer mehr Sinn. Die steigende Selektivität des historischen Bewusstseins macht das Sinnproblem zum Thema. Man kann dann diese Selektivität beklagen. Das führt zur Moralisierung des historischen Bewusstseins. Historisches Bewusstsein wird des Vergessens angeklagt, und Erinnerungsarbeit wird eingefordert. Oder man verzichtet auf einen emphatischen Begriff von historischem Bewusstsein und akzeptiert, dass jede Selektivität irgendeinen Sinn hat. Das führt zu Zynismus. Das historische Bewusstsein wird kontingent gesetzt. Je komplexer die vergangenen Ereignisse werden, umso beliebiger wird das, was wir als Erinnerung, als historisches Bewusstsein, festhalten. Steigende Selektivität in der Wahrnehmung von Geschichte provoziert also Reaktionen, die zugleich mehr Sinn erzeugen. Moralismus und Zynismus sind Umgangsformen mit Geschichte, die im Beklagen der Selektivität neuen Sinn im Umgang mit der Geschichte erzeugen.

Je mehr Sinn produziert wird, umso mehr nimmt Kommunikation über Vergangenes zu. Man kann dies als einen Rationalisierungseffekt von “Modernität” sehen: Je moderner die Gesellschaft ist, umso umfassender wird historische Kommunikation (was nicht mehr Wissen über Geschichte bedeuten muss) “Modernität” besteht darin, dass historisches Bewusstsein kommunikativ verflüssigt wird.

Kommunikative Verflüssigung verunsichert. Das gehört zur Grunderfahrung der Aufklärung und damit zur Grunderfahrung von Modernität. Es gibt nichts mehr, das kommunikativem Zugriff entzogen werden kann. Diese Verunsicherung provoziert die Frage nach dem gemeinsam geteilten, selbstverständlichen Sinnhorizont. Der Rückgriff auf eine Volksseele, auf eine Kulturnation sind Gegenstrategien gegen die kommunikative Verflüssigung der Welt. Sie haben das zugrundeliegende Problem aber nur verschoben. Auch der Rückgriff auf ein objektiviertes historisches Bewusstsein gehört zu diesen Gegenstrategien. Die Objektivität einer Vergangenheit gibt Sinn im Fluss sich beschleunigender Kommunikation über Gesellschaft in der Gesellschaft.

Hier hat der Begriff der Religion seinen theoriestrategischen Platz. Religion ist ein Versuch, ein Identisches im Fluss der Kommunikation festzuhalten. Gegen die kommunikative Verflüssigung der Welt wird – in der Praxis wie in der Theorie – Bindung an ein Transzendentes gesetzt. Doch die kommunikative Verflüssigung historischen Bewusstseins macht auch vor diesen Transzendenzen nicht Halt. Der Rückgriff auf Transzendenzen entkommt nicht dem Phänomen kommunikativer Verflüssigung. Über Transzendenz lässt sich trefflich streiten.

Die Suche nach einer die Subjektivität der Erfahrung transzendierenden Lebenswelt ist der Stachel, der zu religiöser Kommunikation zwingt. Eine Lebenswelt gefunden zu haben, würde aber auch das Ende von religiöser Kommunikation bedeuten. Darin liegt das pathogene Potential von religiöser Kommunikation begründet. Das pathogene Potential in den aktuellen Versuchen religiöser Kommunikation ist daran zu messen, inwieweit Lebensweltkonstrukte und darauf aufbauende Identitätskonstrukte kommunikabel, das heißt strittig bleiben.

Hier greift der “säkulare” Mechanismus. Die erste Möglichkeit, die Identitätskommunikation eröffnet, ist ein desillusionierender Umgang mit der Aufklärung. Identitätskommunikation thematisiert das Problem, dass Aufklärungsdiskurse unter der Bedingung hoher Unbestimmtheit ablaufen. Identitätskommunikation desillusioniert über das Ritual des Aufklärungsdiskurses, der eine universale kollektive Identität bereits als gegeben unterstellt. Damit verliert der Aufklärungsdiskurs ein Moment der Selbstillusionierung, das ihm von Anfang an eigen war: zu unterstellen, dass die Aufklärung sich von selbst einstellt. Die bürgerliche Bewegung war noch davon überzeugt, dass kognitive Einsicht die Aufklärung voranbringt. Die kleinbürgerliche Bewegung hat dagegen argumentiert, dass nur normative Orientierungen, nämlich Werte wie Ordnung, Fleiß, Gerechtigkeit, die Aufklärung in die richtige Richtung lenken können. Die neuen sozialen Bewegungen argumentieren – und hier gehen sie über die kleinbürgerlichen Bewegungen hinaus – mit Empfindungen, Gefühlen, über die Aufklärung notwendig sei, damit Aufklärung stattfinden kann. Identitätskommunikation ist dann eine Stilvariante des Aufklärungsdiskurses. Sie bricht mit der kognitiven und normativen Illusion, die Stilfragen als sekundär betrachtet hat.

Eine weitere Möglichkeit, die Identitätskommunikation eröffnet, ist die Reflexivität von Identitätskommunikation. Was in Identitätskommunikation transportiert werden kann, ist kollektive Erinnerungsarbeit: nämlich die Idee der Aufklärung über sich selbst. Das würde bedeuten, das kollektive Gedächtnis, das sich in der Pathogenese der Moderne abgelagert hat, selbst im Prozess der Radikalisierung der Moderne auf und durchzuarbeiten, Erinnerungsarbeit als Aufklärung über die Aufklärung zu betreiben. Und dazu gehört gerade auch Erinnerungsarbeit über misslungene Kommunikation, Erinnerungsarbeit über Identitätskommunikation.

Der Fall Europa ist also ein Fall einer doppelten Radikalität: einer besonderen Säkularität des öffentlichen Raums wie einer besonderen Unsichtbarkeit des Religiösen. Jede Bewegung in diesem Verhältnis führt zu weitreichenden Folgen. Die entstehende europäische Gesellschaft bewegt sich in beiden Hinsichten: sie öffnet eine säkulare Welt für plurale Lebenswelten und forciert Identitätskommunikation; sie öffnet damit zugleich einen sozialen Raum für die Sichtbarkeit des Religiösen – mit offenen Folgen.

4 Schlussfolgerungen

Die Verknüpfung von Religionssoziologie und Soziologie des Alltags hat die vergangenen Jahrzehnte dominiert. Es bietet sich heute an, diesen soziologischen Blick in Richtung einer politischen Soziologie der Religion auszuweiten. Forschungstraditionen wie die zu sozialen Bewegungen oder politischer Öffentlichkeit sowie organisationssoziologische und neuere institutionentheoretische Fragestellungen bieten Anknüpfungspunkte an. Die zentrale Frage, wie und ob Religion in einer säkularen Gesellschaft möglich ist, lässt sich am Fall Europa beantworten: Jener Kontinent, der die am weitesten gehende Säkularisierungserfahrung im Sinne einer scharfen Trennung eines säkularisierten öffentlichen und eines nicht-säkularisierten privaten Bereichs durchgemacht hat, erweist sich als der Kontinent, in dem die Frage nach einem gemeinsamen lebensweltlichen Horizont zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses wird. In dieser neuen Verschränkung von Lebenswelt und Öffentlichkeit, von Säkularität und postsäkularer Gesellschaft, können wir viele Stimmen hören, die lebensweltliche Horizonte formulieren, sie bisweilen auf dem Markte feilbieten. Dies ist in Europa, wo das Feld lebensweltlicher Kommunikation in besonderem Maße aus säkularen Bindungen freigesetzt gewesen ist, ein kakophoner Chor an Stimmen. Die Soziologie hört sich diesen Chor an, und muss sensibel und analytisch kompetent für dieses Zuhören werden. Als eine im Geiste Durkheims erneuerte Religionssoziologie kann sie der Dialektik von moderner Säkularisierung und der Formierung postsäkularer Lebenswelten auf die Spur kommen.

Ist die Säkularisierung Europas ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft? Die Antwort lautet nein. Sie ist jene Gesellschaft, in der die Differenz von öffentlicher Säkularität und privater Religiosität in radikalster Weise ausformuliert worden ist. Dass dies der Ausgangspunkt einer besonderen Dynamik dieses Verhältnisses ist, dass diese Gleichzeitigkeit von Verzauberung und Entzauberung gesellschaftliche Modernität voranbringt, das ist die damit begründete starke Vermutung. Zugleich erweist sich Europa angesichts dieser Gleichzeitigkeit als gar nicht so verschieden von nicht-europäischen Gesellschaften, eine Erfahrung, die allerdings noch nicht im Selbstverständnis Europas angekommen ist.

Bibliographie

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Dazu vor allem Bellah (1992) sowie die Aufsatzsammlung von Bellah/Hammond (1980). Zur jüngeren Literatur Shanks (1996). Einen guten Überblick bieten auch die Beiträge in Kleger/Müller (1996).

Zu den neuen religiösen Bewegungen siehe Beckford (1986), Robbins (1988), Barker (1993) and Wilson (1990). Melton (1995) bietet eine Bilanzierung der Forschung zu den neuen religiösen Bewegungen.

Dazu vor allem Luckmann (1991); zur These der funktionalen Ausdifferenzierung und Spezifikation des Religiösen siehe die beiden unterschiedlichen Versionen von Luhmann (1977, 2000).

Erlösungsreligionen bieten hierfür einen besonders wirksamen Mechanismus an: die Aufsicht auf Erlösung im Jenseits. Wiedergeburtslehren bauen in diese Hoffnung Unterbrecher ein, die die teleologische Rationalisierung verhindern.

Diese Übersetzungsleistung könnte als Voraussetzung dafür gesehen werden, dass erst dann über Kommunikation unter Begründungszwänge gesetzt werden kann. Das hätte weitreichende Implikationen für das Programm einer Theorie kommunikativen Handelns.

Dies ist charakteristisch für eine sozialanthropologische Lesart, die religiöse Kommunikation als eingeschränkte Form von Kommunikation sieht (Bloch 1974).

Zur Programmatik und zu den Anschlussschwierigkeiten an soziologische Großtheorien siehe Tyrell et al. (1998).

Ein Thema, das insbesondere Victor Turner umgetrieben hat (Turner 1969, 1974).

Siehe dazu die verschiedenen Enzyklopädien (!) zu den Religionen in den verschiedenen Erdteilen (Swatos 1998; Wuthnow 1998; Barrett et al. 2001).

Es gibt eine etablierte Bewegungsforschung, die allerdings bislang nicht mit der religionssoziologisch inspirierten Forschung zu den neuen religiösen Bewegungen in einen engeren und konstruktiven Dialog gelangt ist.

Die Assoziation zur NSB-Forschung, also der Forschung den "neuen sozialen Bewegungen" (NSM: new social movements) ist offensichtlich.

Siehe dazu die aufschlussreiche Dissertation von Thomas König (1998). Siehe (mit Reserven gegenüber dem Begriff New Age) auch Knoblauch (in diesem Band).

Dazu Salvatore/Amir-Moazami (in diesem Heft)

Auf dieser besonderen Konstellation beruht die übergeneralisierende und gerade deswegen so öffentlichkeitswirksame Formel vom Kampf der Kulturen (Huntington 1996).

Dieses Paradox des "policing" von sozialen Bewegungen ist in der neueren Bewegungsforschung immer wieder beobachtet worden (della Porta/Reiter 1998).

Zu dieser Diskussion Becker-Schmitt (1990).

Dies ist ein wichtiges Thema der neueren Religionssoziologie. Sie dazu Tyrell et al. (1998) sowie die Beiträge in dem von diesen Autoren herausgegebenen Band. Siehe auch Soeffner (1989, 1992), der die "kleinen Transzendenzen" (Luckmann, in diesem Band) im Alltag herausarbeitet, und Knoblauch (in diesem Band).

Dass diese Säkularität selbst in Europa differentiell verteilt ist und dem Ideal von Säkularität letztlich nur einige skandinavische Länder nahe kommen, zeigen Umfrageergebnisse wie die nach dem Anteil derer, die in irgendeinem Sinne daran glauben, dass "es Gott gibt".

Die Rede von einer europäischen Gesellschaft unterstellt eine Gemeinsamkeit der in Europa existierenden Nationalstaaten. Das säkulare Selbstverständnis wäre in diesem Sinne ein Element dieser -- über die Bestimmung als Nationalstaaten und der damit verbundenen nationalen Kulturen hinausgehenden -- europäischen Gesellschaft.

Dieser Zusammenhang ist bei Bellah (1992) noch explizit gegeben: nämlich als Frage nach der Formierung einer demokratischen Kultur in den USA.

Zur Konzeptualisierung siehe die klassischen Arbeiten von Habermas (1962, 1992). Zu weiterführenden Überlegungen siehe Eder/Kantner (2001) sowie Kantner (2002).

Published 7 July 2006
Original in German
First published by Berliner Journal für Soziologie, 2002, Vol. 12, S. 331-344 and Reset 95 (2006) (Italian version)

Contributed by Reset © Klaus Eder/Reset Eurozine

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Read in: IT / DE

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