Reise nach Istanbul

“Istanbul war stets eine Verwandlungskünstlerin, aber so schnell wie in den letzten fünfzehn Jahren wechselte sie ihr Gesicht noch nie”, schreibt Jacqueline Schärli in ihrem Editorial zur jüngsten Ausgabe der Schweizer Kulturzeitschrift du. “Während in den Clubs gestylte junge Menschen an überteuerten Getränken nippen und den Blick über den Bosporus nach Asien schweifen lassen, verkaufen draussen auf der Strasse kopftuchgewandete alte Frauen Taschentücher an Autofahrer.” Eurozine präsentiert anlässlich des 18. europäischen Zeitschriftentreffens in Istanbul vier Artikel aus dem Heft.

Elif Safak beschreibt wie ein rosa Halo über dem “weiblichsten Viertel der Stadt” leuchtet, dem traditionellen Üsküdar. “Das ganze Viertel gleicht einem längst vergessenen historischen Dokument, das von zahllosen Frauen unterzeichnet ist”, schreibt Safak. “Viele der Monumente, Moscheen, Brunnen, der religiösen Bauten und Derwischhäuser wurden von oder für Frauen gebaut.” Eines dieser Gebäude ist das Kiz Kulesi, der “Jungfrauenturm”, wo der Legende nach eine Prinzessin eingesperrt war. Heute beherbergt der Turm eines der exlusiven Restaurants Istanbuls.

In den zahlreichen Cafés sieht man junge Frauen aus konservativen Familien Händchen haltend mit ihrem Freund sitzen. Menschen aus dem Westen und Kemalisten denken oft an “Unterdrückung”, wenn sie eine Frau mit Kopftuch sehen. Doch das alltägliche Leben in Üsküdar bietet viele Beispiele, die allzu grobschlächtige Verallgemeinerungen hinsichtlich des Islams und der Religiosität in Frage stellen. Es gibt verschiedene Arten von Kopftüchern, wie es auch verschiedene Gründe gibt, sie zu tragen. Aber es gibt nur ein Wort dafür. Und das Wort “Kopftuch” verfehlt nur allzu oft die volle Komplexität und den fliessenden Charakter des Alltagslebens in Üsküdar. Heiliges und Weltliches, Politisches und Individuelles, Tradition und Moderne sind hier eng miteinander verflochten.”

“Wer ein Haus hat, überlebt”: das gilt für das Leben in den hügeligen Vororten im Osten Istanbuls, schreibt Hanna Rutishauser. In den 1940er und 1950er Jahren kamen Arbeiter aus den ländlichen Gebieten der Türkei nach Istanbul auf der Suche nach Beschäftigung in den neu entstehenden Fabriken. Als sich die Immigranten illegalerweise behelfsmäßige Häuschen an den Rändern der Stadt bauten, so genannte “Gecekondu” (“über Nacht gebaute Häuser”), griffen die Behörden wohlweislich nicht ein. In den 1980er Jahren wurden aus den Gecekondu dann Apartkondu, “nicht plangemäße oder aufgestockte Gebäude”. Die Bewohner zahlen ihre Miete an eine “Bodenmafia”, die von der Gesetzeslücke profitiert. Heute sind die ehemaligen Gecekondu-Gegenden zu eigenen Stadtteilen geworden, während neue Siedlungen überall aus dem Boden sprießen: 4700 Quadratkilometer ehemaliges Waldland außerhalb der Stadt will die Regierung nun nachträglich zu Bauland umwidmen.

Die griechische Minderheit ist inzwischen “Faustpfand der türkischen Regierung im Kampf um den EU-Beitritt”, meint Georg Brunold. Sein Bericht über die neuere Geschichte der türkischen Griechen beginnt 1920 mit der griechischen Niederlage im Kampf gegen die Kemalisten, als rund 1,8 Millionen Griechen zurück nach Griechenland “expatriiert” wurden und nur noch rund 120.000 in Istanbul blieben. Seither haben die Istanbuler Griechen die Last des türkischen Ressentiments oftmals zu spüren bekommen. Insbesondere 1955, als ein türkischer Provokateur Atatürks Geburtshaus im griechischen Westthrazien in Brand gesetzt hatte und türkische Zerstörungswut sich an griechischen Läden, Wohnungen, Restaurants und Kirchen in Beyoglu vergriff. Für die rund zweitausend Griechen in Istanbul heute bedeutet Europa die große Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Dass Istanbul schon “längst eine europäische Metropole” ist, meint Klaus Kreiser. Sei es die Einführung eines Obulus für den Eintritt in die Hagia Sophia 1934 oder der Bau des ersten McDonalds 1986: seit den 1920er Jahren kämpft das islamisch-ottomanische Erbe der Stadt einen Kampf gegen die Modernisierung, den es nur verlieren kann. “In der Türkei sehnt sich fast niemand nach den Sultanen und Kalifen zurück”, schreibt Kreiser. “Der neutürkische Begriff ‘nostlaji’ evoziert eher osmanische ‘Haute Cuisine’, Kütahya-Fliesen im modernen Badezimmer und eine Vitrine mit dem handschriftlichen Koran des Urgrossvaters in der Ecke des Salons. […] Mit der Verklärung der Vergangenheit kann man die Krankheit der modernen Megalopolis nicht heilen. Für die meisten Bewohner der Stadt gibt es keine Alternative zu einem westlichen Lebensstil. Eine sichtbare säkulare Mittelschicht übernimmt als Vorposten und Vermittler einer europäischen Lebensweise jene Funktion, die früher von den nicht-muslimischen Minderheiten ausgefüllt wurden. Wer noch daran zweifelt, dass Istanbul eine europäische Metropole geworden ist, wird beim Vergleich mit den Städten des arabischen Ostens, mit Teheran oder Karachi, eines besseren belehrt.”

Published 2 November 2005
Original in English
First published by Eurozine

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