Ostlitauen in Erinnerungskultur und Politik der Litauer

Das Problem der Rolle des Historikers als Wissenschaftler und als Schöpfer des kulturellen Gedächtnisses

Die Erforschung der Erinnerungskultur und der Erinnerungspolitik ist in den letzten Jahrzehnten zu einem der aktuellsten und populärsten Themen für Historiker, Soziologen, Kulturhistoriker und Wissenschaftler anderer Fächer avanciert.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus den Forschungen der letzten Jahrzehnte besteht darin, dass die Beschreibung des Unterschiedes zwischen Geschichte und Erinnerung und ihres Scheideweges notwendig ist für die Erforschung sowohl der Geschichte als auch der Erinnerung.

Grundlage für beide, für die historische Forschung und für die Erinnerung, ist die geschichtliche Vergangenheit. Die soziale oder kollektive Erinnerung und besonders die individuelle Erinnerung können dem Historiker als Quelle dienen. Diese Formen und Inhalte der Erinnerung jedoch werden, einmal zum kulturellen Gedächtnis transformiert, wegen ihrer Orientierung nicht allein auf die Vergangenheit, sondern an erster Stelle auf Gegenwart und Zukunft, zu einem sich verselbständigenden Objekt, das nicht mehr den Interpretationen der Historiker unterworfen ist. Die zum kulturellen Gedächtnis gewordene individuelle Erinnerung wird Teil des gesellschaftlichen (öffentlichen) Lebens und übt nicht selten sozialen (politischen) Druck auf den Historiker aus, der ein Objekt erforscht, welches zum Bestand des kulturellen Gedächtnisses gehört.

Obwohl zur eigenständig funktionierenden Erscheinung mutiert, löst sich das kulturelle Gedächtnis nicht völlig von der Geschichte. Es füllt, wenn auch sehr selektiv, immer wieder die Lücken seines Wissens um die eine oder andere Erscheinung und stützt sich dabei auf die Forschungen der Historiker, diese allerdings dabei passend interpretierend. Dem kulturellen Gedächtnis und besonders der mit ihm verbundenen Politik ist es nicht besonders wichtig, den Kontext eines konkreten Zeitalters zu bewerten. Im Gegenteil – die Bedingungen und Umstände des Zeitalters, in dem ein konkretes Ereignis sich vollzog, verlieren im kulturellen Gedächtnis völlig ihre Bedeutung. Der entscheidende Gesichtspunkt ist die Aktualität eines konkreten Ereignisses für die Gegenwart und die prognostizierbare Zukunft.1

Sowohl das kulturelle Gedächtnis als auch die Politik müssen aus Beispielen der Vergangenheit Legitimation für die Gegenwart herleiten und so die moralische (ideologische) Grundlage für die Realisierung gegenwärtiger Ziele schaffen. Dennoch wird jene Tätigkeit des Historikers, die in der Erforschung der Vergangenheit liegt, nur selten von jener Tätigkeit unterschieden, mit der er zur Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses beiträgt. Dies wird nicht nur bewirkt durch die sich ständig ändernden Forschungsobjekte des Historikers, sondern auch durch das, was die Gesellschaft zur Entstehung und Lösung gegenwärtig aktueller Probleme aus der Vergangenheit erfahren will. Ein nicht zu unterschätzender Faktor, der den Historiker zur Mitwirkung an der Schaffung des kulturellen Gedächtnisses drängt, ist die Gesellschaft selbst mit ihrem nicht unerheblichen Einfluss auf die Anschauungen des Historikers als Forscher und auf seine Bewertung der von ihm vorgestellten historischen Ereignisse. All diese Probleme lassen sich anhand der Analyse der Unterschiede aufzeigen, wie Ostlitauen im kulturellen Gedächtnis und der Erinnerungspolitik der Litauer behandelt wird.

Ostlitauen in den Arbeiten der litauischen Historiker

Das kulturelle Gedächtnis unterscheidet sich von der Geschichte auch dadurch, dass es selektiv ist, d. h. es umfasst zuerst die für die Gegenwart aktuelle Vergangenheit und hält fest, woran die Gesellschaft sich erinnern will oder muss. Das Objekt des kulturellen Gedächtnisses selbst verengt das Spektrum der für das Erinnern aktuellen Themen, die mit den litauisch-polnischen Beziehungen oder der östlichen Region Litauens verbunden sind.

Bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen kulturellem Gedächtnis und historischer Forschung zeigt sich, dass bestimmte Fragen im Zusammenhang mit der Bewertung der Union von Krevo 1385 oder der von Liublin 1569, wie die Herkunft der Polen Litauens oder die Probleme der politischen Zugehörigkeit des Vilnius-Gebietes im 20. Jahrhundert, heute ihre Aktualität verloren haben, auch wenn sie zu verschiedenen Zeitpunkten des 20. Jahrhunderts dominierende Elemente des kulturellen Gedächtnisses waren. Auf der anderen Seite tauchten mit der politischen Entspannung neue Probleme für die litauisch-polnischen Beziehungen auf, wie etwa die “Aufteilung” des kulturellen Erbes des Großfürstentums Litauen. Aber gerade dies eröffnet einen deutlich weiteren und staatsbürgerlicheren Blickwinkel auf das kulturelle Erbe des Großfürstentums, als er bisher in Litauen dominierte. Als ein besonderes und eigenartiges Relikt der litauisch-polnischen Beziehungen im kulturellen Gedächtnis der beiden Völker könnte man nur die Ereignisse während des 2. Weltkriegs bezeichnen.

Über die litauisch-polnischen Beziehungen während dieser Zeit sind in beiden Ländern Dutzende Untersuchungen erschienen. Es wäre für den vorliegenden Beitrag nicht möglich gewesen, die Bandbreite der Interpretationen zu den einzelnen Ereignissen wiederzugeben, wenn nicht vor einigen Jahren in einem Sammelband die Beiträge zweier Autoren – eines Litauers und eines Polen – erschienen wären, die die wichtigsten Informationen zum litauisch-polnischen Konflikt um das Vilnius-Gebiet 1939-45 enthalten.2 Beide Autoren referieren, ohne sich gegenseitig konsultiert zu haben, die wichtigsten von litauischen und polnischen Historikern behandelten Ereignisse in chronologischer Reihenfolge. Obwohl dabei die meiste Aufmerksamkeit historischen Fakten gilt, decken doch allein die Auswahl der Fakten und die kurzen Kommentare bestimmte stereotype Bewertungen der Ereignisse und die unterschiedlichen Positionen litauischer und polnischer Historiker bezüglich des litauisch-polnischen Konfliktes auf.

Ich werde im Folgenden nicht erörtern, wessen Bewertungen besser begründet sind, denn hier ist es wichtiger, die Vorstellungen der litauischen und polnischen Geschichtsschreibung zu erklären. Daher wurden die Ereignisse aus den von Arunas Bubnys und Zbigniew Gluzo erstellten chronologischen Tafeln umgruppiert, und zwar gemäß der jeweiligen litauischen und polnischen Vorstellungen bezüglich des eigenen und des anderen Landes, dabei Raum lassend auch für neutrale Einschätzungen. Durch die Methode der Aufzeigung von Stereotypen in den Forschungen werden die Unterschiede in den Positionen von Litauern und Polen deutlich.

Die Position der litauischen Geschichtsschreibung

Nach den Angaben von A. Bubnys konstatieren die litauischen Historiker einen litauisch-polnischen Konflikt während des 2. Weltkriegs nur für den Zeitraum von 1939 bis 1940, d. h. als noch ein unabhängiges Litauen existierte. Der Marsch nach Vilnius und die Inbesitznahme des Vilnius-Gebietes werden als selbstverständlicher Schritt bewertet. In der litauischen Historiographie wird nicht versucht, irgendwelche Verletzungen des internationalen Rechts zu erkennen – die gegenteilige Meinung polnischer Historiker wird mit Verweis auf die Position der damaligen litauischen Regierung zurückgewiesen. Die Inbesitznahme des Vilnius-Gebietes im Oktober 1939 wird als Befreiung dieses Gebietes verstanden. Diesen Eindruck versuchen litauische Historiker bei ihren Lesern zu verstärken, indem sie den freudigen Empfang der litauischen Truppen durch die ansässige Bevölkerung am 28. Oktober 1939 hervorheben.

Die litauischen Behörden, die sich in Vilnius einrichteten, betrachteten die Polen wenn nicht wohlwollend, so doch recht neutral: Sie durften ungehindert in Vilnius den polnischen Unabhängigkeitstag feiern, selbst ihre Zloty wurden in Litas umgetauscht. Für die litauischen Historiker ist das die “Hilfe Litauens an das polnische Volk”. Die örtlichen Polen dagegen reagierten auf den guten Willen der Behörden Litauens ziemlich unfreundlich: Die polnischen Priester wollten der auf dem Gediminas-Turm feierlich gehissten litauischen Flagge keine Ehre erweisen. Der Konflikt in den Kirchen erreichte seinen Höhepunkt während der Beerdigung eines von Polen getöteten litauischen Polizisten. Die litauischen Historiker verschweigen die litauisch-polnischen Konflikte in diesem Zeitraum nicht. Aber sie halten beide Seiten für schuldig oder versuchen, die litauischen Maßnahmen gegen die polnischen Bewohner weniger drastisch darzustellen.

Die Massenverhaftungen von Polen am 1. und 2. November 1939 werden damit erklärt, dass während des erwähnten Zusammenstoßes nicht nur ein Pole, sondern auch ein litauischer Sicherheitsbeamter getötet wurde. Die Änderungen im Bildungssystem sowie in Wissenschaft und Forschung an der Universität Vilnius werden als Reformen beschrieben, die nicht die Litauenisierung der Polen zum Ziel hatten.

Die Suche nach einem Kompromiss mit den Polen fand ein Ende, als Litauen okkupiert wurde. Als die Deutschen das Vilnius-Gebiet einnahmen, beteiligten sich die Litauer an deutschen Aktionen gegen Polen, aber sie taten dies nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf deutschen Befehl. So präsentieren litauische Historiker, wenn vielleicht auch nicht ganz bewusst, das Vorgehen der litauischen Administration und Polizei als nicht selbständig und den deutschen Befehlen folgend. Die Schuld für die Ermordung polnischer Zivilisten wird nur in einem Fall übernommen, nämlich bei der Bewertung der Ereignisse in Glintiskes am 20. Juni 1944.3

Es kann festgehalten werden, dass für die litauischen Historiker kein litauisch-polnischer Konflikt während des 2. Weltkriegs existiert. Es stellt sich dann so dar, dass die Litauer 1939 bis 1940 im Vilnius-Gebiet humane Reformen vollzogen, welche die Polen nicht immer verstanden und denen sie sich daher widersetzten. Nach 1940 wird die Verantwortung für alle weiteren Geschehnisse bis zum Ende des 2. Weltkriegs, abgesehen von den erwähnten Vorfällen in Glintiskes, den Russen und Deutschen zugeschoben.

Man kann den litauischen Historikern nicht vorwerfen, Fakten absolut zu verschweigen oder zu verzerren. Die Art ihrer Darstellung zeigt jedoch, dass die litauische Historiographie mit ihrer Analyse des litauisch-polnischen Konflikts die nationalen Interessen Litauens verteidigt und damit gleichzeitig dazu beiträgt, den litauisch-polnischen Konflikt in entsprechender Weise im kulturellen Gedächtnis der Litauer zu verankern.

Die Position der polnischen Geschichtsschreibung

Bei der Analyse der von polnischen Historikern dargestellten Position bezüglich des Konflikts zwischen Litauen und Polen wird das andere Extrem offensichtlich. Die Zeit von 1939 bis 1945 wird in ihren Arbeiten als eine durch Litauer vollzogene Okkupation des Vilnius-Gebiets beschrieben.

Bei der Abhandlung der litauisch-polnischen Beziehungen im Vilnius-Gebiet wird zwar auf das Datum der Okkupation Litauens durch die Deutschen verwiesen, als die wichtigsten Peiniger der Polen gelten gleichwohl immer die Litauer. Wenn zum Beispiel die Rede auf die Verbannung polnischstämmiger Bewohner aus Litauen während der sowjetischen Okkupationszeit kommt, meinen einige polnische Historiker, dass der Schuldige der litauische Sicherheitsdienst ist, der vorher Listen mit zu überwachenden Polen erstellt hatte.4

Eine Vielzahl der Ereignisse, welche die Litauer neutral beschreiben oder sogar als Beispiele für korrektes Verhalten gegenüber den Polen präsentieren, werden in den Arbeiten polnischer Historiker negativ dargestellt. Das deutlichste Beispiel dafür, wie man die Gefühle der Leser manipulieren kann, ist die Feier des polnischen Unabhängigkeitstags am 11. November 1939. Die litauischen Autoren vermerken das maßvolle Verhalten der litauischen Machtorgane gegenüber den Polen während der Feier ihres Unabhängigkeitstages. In der polnischen Geschichtsschreibung dagegen wird die Tötung zweier polnischer Soldaten herausgestellt, die im Internierungslager Ukmerge, d.h. außerhalb des Vilniusgebiets versucht hatten, die polnische Flagge zu hissen. In den Informationen über Konflikte zwischen Litauern und Polen verschwinden die Hinweise, die von im Verlaufe der Konflikte getöteten litauischen Beamten zeugen. Man beschränkt sich auf eine richtige, aber nicht ausreichend informative Phrase über Tote während des Konflikts.

Aus der gesamten Chronik der Ereignisse von 1939 bis 1945 ragen nur zwei Fakten heraus: Die Ermordung des Priesters Jakavonis wegen des Verdachts auf Zusammenarbeit mit den litauischen Sicherheitsorganen und die offensichtliche Schuldübernahme wegen einer Racheaktion der Armija Krajowa5 (Heimatarmee) gegen zivile Litauer.6 Die komplizierte, sich ständig wandelnde Okkupationssituation im Vilnius-Gebiet wird stark vereinfacht: Es bleiben nur wir (die Polen) und sie (die Litauer). Völlig verschwiegen werden die – wenn auch nur sporadischen – Kontakte mit der deutschen Okkupationsmacht.

Im Vergleich von Arbeiten litauischer und polnischer Historiker erhält auch die Erwähnung scheinbar völlig neutraler Ereignisse wie Verhandlungen zwischen Litauern und Polen einen neuen Sinn. Z. Gluza erwähnt nur abgebrochene Verhandlungen zwischen litauischen und polnischen Politikern in der Emigration. In der von A. Bubnys zusammengestellten Chronologie ist auch die Rede von den begonnenen und wegen der Ablehnung der polnischen Seite, das Vilnius Gebiet in der Nachkriegszeit als litauisches Territorium anzuerkennen, abgebrochenen litauisch-polnischen Verhandlungen im Untergrund im Vilnius-Gebiet. Wenn die von Z. Gluza erstellte Ereignischronologie repräsentativ ist für die gesamte polnische Geschichtsschreibung, dann bedeutet dies, dass polnische Historiker – bewusst oder unbewusst – eine öffentliche Meinung von den Polen als kompromisslose Kämpfer gegen die als Okkupanten geltenden Litauer formieren.

Natürlich ließe sich das Verschweigen der oben erwähnten Verhandlungen mit den Deutschen ebenso gut dadurch erklären, dass die hier behandelte Ereignischronologie dem Thema der litauisch-polnischen Beziehungen gewidmet ist. Aber eine solche Einschränkung hält der Kritik nicht stand, denn derselbe Autor findet Platz für die Erwähnung der aktiven Beteiligung von Litauern am Judenmord in Paneriai. So zeichnet die polnische Geschichtsschreibung ein Bild der Litauer nicht nur als Polenmörder, sondern auch als schreckliche Antisemiten.

In dieser Hinsicht stehen die litauischen Historiker ihren polnischen Kollegen in nichts nach, da sie unter den wichtigen Ereignissen für die litauisch-polnischen Beziehungen auch das von den Polen angestiftete Pogrom an Vilniuser Juden nach dem litauischen Einmarsch in die Stadt nennen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine besondere Sensibilität in der Frage der Juden in Litauen und Polen eine relativ neue Erscheinung ist, kann die Aufzählung der erwähnten Fakten als eine von der Gegenwart des Historikers diktierte Intervention bei der Bewertung von mehr als 50 Jahre zurückliegenden Ereignissen gelten. Gerade hier werden die Bemühungen von Historikern beider Seiten ganz offensichtlich, das kulturelle Gedächtnis ihrer jeweiligen Gesellschaft zu formen, wobei sie die Grenzen der rein historischen Forschung überschreiten.

Ganz allgemein sind die von den beiden Autoren vorgelegten chronologischen Ereignistafeln noch keine ausreichenden Quellen, um den Beitrag der Historiker zur Formierung des kulturellen Gedächtnisses in ihren Gesellschaften zu beschreiben. Wie das Thema Ostlitauen in das kulturelle Gedächtnis und die Politik Litauens integriert wird, lässt sich umfassender aus den Arbeiten weiterer professioneller Historiker und Publizisten erkennen.

Ostlitauen als Objekt des kulturellen Gedächtnisses und der Politik

Bevor der Stellenwert des Themas rund um den Problemkreis Ostlitauen im kulturellen Gedächtnis und der Politik Litauens erläutert werden kann, muss eine grundlegende Frage beantwortet werden: Wird diese Problematik tatsächlich im kulturellen Gedächtnis aktualisiert? Bei der Diskussion einer jeglichen Frage im Zusammenhang mit dem Gedächtnis ist es besonders wichtig, den Kreis jener Menschen zu umreißen, die mit ihrem aktiven Einsatz die Sinngebung dieser Ereignisse aus der Vergangenheit gestalten. Dies geschieht mit dem Ziel, diese Ereignisse für die Gegenwart und Zukunft zu aktualisieren und die von den Autoren deklarierten Ideen für breitere Gesellschaftsschichten in Litauen akzeptabel zu machen, damit sie sich aus der kollektiven Erinnerung zum Teil des kulturellen Gedächtnisses entwickeln und damit Teil der Erinnerungpolitik ganz Litauens werden.

Details des litauisch polnischen Konflikts wurden in erster Linie aufgrund der Bemühungen der Gesellschaft “Vilnija” und des “Verbandes der ehemaligen Angehörigen der litauischen P. Plechavicius Sonderverbände”7 Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Auf Initiative dieser Vereine werden in verschiedenen Städten Straßen nach dem Sonderverband und Plechavicius benannt und Denkmäler errichtet.

Ein weiterer bemerkenswerter Umstand, der zeigt, dass dieses Thema sowohl in Litauen als auch in Polen Teil des kulturellen Gedächtnisses wird (oder schon geworden ist), ist die Tatsache, dass literarische Werke zum Thema des litauisch-polnischer Konfliktes erschienen sind.8

Theoretisch gesehen hatte der litauisch-polnische Konflikt, nachdem sich in Litauen nach der Wiedererringung der Unabhängigkeit alles normal entwickelte, wegen seines lokalen Charakters keine große Chance, Teil des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungspolitik in Litauen zu werden. Ganz anders als im Litauen der Zwischenkriegszeit, erschien den meisten Litauern Polen nach 1990 nicht mehr als der wichtigste Feind. Die litauisch-polnischen Unstimmigkeiten während des Kampfes von Sajudis um die Unabhängigkeit aber machten das Thema wieder aktuell. Die Drohungen höchster Amtsträger der UdSSR in der Perestroika-Zeit, Litauen das Vilniusgebiet und das Klaipedagebiet abzunehmen, stellte Litauen vor das Problem der Integrität seines Territoriums: Die litauische Gesellschaft sah sich gezwungen, einleuchtende Erklärungen dafür zu geben, warum Vilnius und Klaipeda rechtmäßig zu Litauen gehören. Deswegen wurden der litauisch-polnische Konflikt aus der Zeit des 2. Weltkriegs, und besonders die Ziele, welche die kämpfenden Seiten damals verfolgten, aktuell für die Gegenwart – umso mehr, als es bis 1994 keinerlei Vereinbarung zwischen Litauen und Polen gab und theoretisch die Vilniusfrage bis zu diesem Zeitpunkt ein noch nicht geklärtes Problem der bilateralen Beziehungen war. Eben im Kontext dieser 1990-94 noch nicht geklärten Zugehörigkeit des Vilniusgebietes wurde der litauisch-polnische Konflikt präsentiert. Er war kein eigenständiges Element des litauischen kulturellen Gedächtnisses, sondern ein fester Bestandteil der Vilnius-Frage.

Außer dem litauisch-polnischen Konflikt 1939-1945 gehörten für die Zeit bis 1994 noch andere Segmente zum kulturellen Gedächtnis bezüglich der Vilnius-Frage: der Suwalki-Vertrag von 1920 und sein Bruch, als Polen das Vilniusgebiet einnahm und seinem Territorium einverleibte; die Ereignisse im Oktober 1939, als die litauischen Truppen ihrerseits in Vilnius einmarschierten und schließlich der litauisch-polnische Konflikt während des 2. Weltkriegs.

Diese drei Punkte verband eine Sicht von “ihnen” und von “uns” zu einer Linie. Um die Unrechtmäßigkeit des polnischen Vorgehens zu betonen, wurden die Verbrechen der Armija Krajowa gegen die Zivilbevölkerung hervorgehoben, indem sie als Genozid bezeichnet wurden.

Die Ereignischroniken auf der Basis von Werken polnischer Autoren lassen erkennen, dass auch im polnischen kulturellen Gedächtnis ein analoges Schema tief verwurzelt ist, allerdings fußt es zunächst nur auf dem Zeitraum von 1939 bis 1945. Historiker, die sich mit der Erforschung von ethnischen Stereotypen und nationalen Mythen befassen, vertreten die Auffassung, dass die Einfachheit der Konstruktionen und ihre Personalisierung ihnen helfen, sich festzusetzen. Ähnliche Konstruktionen kommen auch bei der Formung des kulturellen Gedächtnisses zur Anwendung.

Es ist kaum zu übersehen, dass J. Pilsudski (als Symbol der Okkupation des Vilniusgebietes), P. Plechavicius und die gegen ihn kämpfende Armija Krajowa zu den zentralen Figuren des litauisch-polnischen Konfliktes 1920 bis 1945 wurden.9 Plechavicius wurde dabei eher zufällig als Kandidat für den Platz des “nationalen Helden” gewählt. Der litauische Sonderverband existierte nur kurze Zeit, aber ein besserer Kandidat wurde nicht gefunden, es fehlte an herausragenden und gesellschaftlich gut bekannten Persönlichkeiten. Die litauische Verwaltung während der deutschen Okkupation eignete sich wegen ihrer zu engen Beziehungen zu den deutschen Besatzungsbehörden nicht für diese Rolle. Auch an dem litauischen Staatspräsidenten A. Smetona blieb, ungeachtet entsprechender Bemühungen, wegen seiner Unbeliebtheit in der litauischen Gesellschaft schon während der Zwischenkriegszeit das Etikett eines Befreiers von Vilnius nicht recht haften. Plechavicius dagegen war noch aus den Kämpfen gegen die Bolschewiki in der Zeit von 1918 bis 1920 bekannt und eignete sich daher als Symbol für den litauischen Unabhängigkeitskampf und die Befreiung von der Sowjetmacht sowohl bis 1990, als auch danach. Es fällt auf, dass die Genese des Vilnius-Problems nach 1990 in Litauen mit dem Bruch des Vertrages von Suwalki durch die Polen in Verbindung gebracht wurde, ohne nach den Quellen des polnisch-litauischen Konfliktes im Mittelalter zu suchen, wie es in der Zwischenkriegszeit üblich war. Dies ist keineswegs ein Zufall. Plechavicius und die Sonderverbände hatten, neben der Funktion als Verteidiger der Litauer des Vilniusgebietes noch eine andere, nicht weniger wichtige Aufgabe, nämlich den litauischen Patriotismus zu stärken. Daher wird in der gesamten Geschichte des Sonderverbands der große Wunsch der einfachen Litauer, dieser Einheit beizutreten, besonders hervorgehoben. Der Sonderverband wird als zukünftige Armee bewertet, die bei einer günstigen internationalen Lage ähnlich wie 1918-1920 das Vordringen der sowjetischen Armee nach Litauen an der Ostgrenze des Landes hätte zum Stehen bringen können.

Die Verbindung des litauisch-polnischen Konflikts mit dem Problem des Vilniusgebietes im kulturellen Gedächtnis trat nach der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages zwischen Litauen und Polen 1994 noch deutlicher hervor.

Da die Vilniusfrage jegliche politische Aktualität verlor, veränderten sich auch die Akzente in der Interpretation des litauisch-polnischen Konflikts grundlegend. Bei der Behandlung der litauisch-polnischen Beziehungen während des 2. Weltkriegs nahm jetzt die Idee des Unabhängigkeitskampfes ganz Litauens die erste Stelle ein, wobei es das Ziel war, die Aktivitäten der Armija Krajowa zu diskreditieren. Als Litauen 1994 den Wunsch äußerte, der NATO beizutreten – und später auch der EU – ergab sich die Aufgabe, die historischen Verbindungen zu den westlichen Demokratien ideologisch zu begründen. Bezüglich des 2. Weltkriegs wurde in diesem Kontext die Frage einer Anti-Hitler Koalition besonders aktuell. Da sich die litauischen Aktivitäten im von den deutschen Truppen besetzten Litauen keinesfalls auch nur in die Nähe einer Anti-Hitler Koalition bringen lassen, versuchte man die litauischen Beziehungen mit Hitler-Deutschland herunterzuspielen und gleichzeitig die Armija Krajowa im Vilniusgebiet als Kollaborateurin der Deutschen darzustellen. Dies wurde umgesetzt, indem man einerseits die Verbindungen des Sonderverbands mit der deutschen Besatzungsmacht verneinte und dabei die Unfügsamkeit Plechavicius’ gegenüber den Deutschen und die Auflösung der Einheit besonders betonte und andererseits deutlich auf die Beziehungen der Armija Krajowa zu den Deutschen im Vilniusgebiet verwies.10 Gerade mit diesen eher zufälligen als systematischen Kontakten zwischen Polen und Deutschen Ende des 2. Weltkriegs versucht man die 1943 zunehmenden Aktivitäten der Armija Krajowa und ihren erfolgreichen Kampf nicht nur gegen den litauischen Sonderverband, sondern auch gegen die litauische Administration im Vilnius-Gebiet zu erklären. Für diesen Zeitraum wird dann auch die Antisemitismus-Karte ins Spiel gebracht.

Im Zuge der Neuinterpretation des litauisch-polnischen Konflikts im kulturellen Gedächtnis wird dieses Thema auch Objekt der Erinnerungspolitik. 1994 wurde die Armija Krajowa zur verbrecherischen Organisation erklärt, gleichzeitig wurden die Veteranen des litauischen Sonderverbands den Partisanen der Nachkriegszeit gleichgestellt, und General P. Plechavicius erhielt 2004 posthum, wie schon vorher in Polen vergleichbar General Wilk, die höchste Auszeichnung der Republik Litauen, das Vytis-Kreuz.

Es ist bezeichnend, dass in der Erinnerungspolitik weniger die Verdienste konkreter Personen um die Bewahrung der territorialen Integrität Litauens akzentuiert werden, als vielmehr ihr Kampf um die litauische Unabhängigkeit. Auf diese Weise hat die Erinnerungspolitik noch mehr zur Deaktualisierung des litauisch-polnischen Konflikts beigetragen, denn an erste Stelle rückte sie die vergleichsweise abstrakte Idee vom Kampf um die Unabhängigkeit.

Im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Erinnerungskultur wird noch eine ihrer wichtigen Eigenschaften offensichtlich: Wenn sich die Gesellschaft verändert, verändert sich auch ihr kulturelles Gedächtnis. In seinem Werk “Die Erfindung der Nation” betont B. Anderson, dass Kategorien wie Volk oder Ethnos nicht von selbst entstanden sind, sondern geschaffen wurden, und alle Versuche im 19. und am Anfang des 20 Jahrhunderts, das eine oder andere Volk rassisch zu charakterisieren, gescheitert sind.11 Die Zugehörigkeit zu einem Volk bestimmten und bestimmen nicht die physischen Eigenschaften eines Individuums, sondern seine Überzeugungen oder das innerhalb einer bestimmten ethnischen Gruppe entstandene Bewusstsein von einer nationalen Gemeinschaft, wobei dieses Bewusstsein den Angehörigen der Gemeinschaft von “Volkserweckern” nahegebracht wird. Auch wenn das nationale Bewusstsein einmal geschaffen ist, macht der Prozess seiner Veränderung nicht halt, und daraus entstehen nicht nur Generationskonflikte innerhalb von Familien, sondern auch ein Krieg der Identitäten innerhalb des Volkes selbst. Dahinter verbergen sich meistens Unterschiede der Wertvorstellungen, die sich wie unterschiedliche Ansichten von der Gegenwart und der Zukunft entfalten. Dann ergibt sich auch eine direkte Verbindung zwischen nationalem Bewusstsein und kulturellem Gedächtnis.

Eine der Funktionen des kulturellen Gedächtnisses ist die Stärkung der nationalen Identität. Wie aber ist das kulturelle Gedächtnis zu behandeln, wenn die Identität, die gestärkt werden soll, sich im Stadium der Veränderung befindet? Diese Frage ist nicht nur für Litauer und Polen aktuell, sondern auch für andere alte und neue Staaten, besonders für jene, auf deren Territorium Angehörige verschiedener Völker leben, die im Laufe der Geschichte auf verschiedenen Seiten der Barrikaden gestanden haben. Die meisten mitteleuropäischen Staaten versuchen bürgerliche Gesellschaften zu schaffen und so die auf rein ethnischer Basis begründeten “erdachten Gesellschaften” zu modernisieren. Wie aber sind in diesem Fall die verschiedenen kulturellen Gedächtnisse der national organisierten Gemeinschaften zu behandeln?

Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde, wenn solche Probleme auftauchten, eine salomonische Lösung vorgeschlagen, nämlich die Bewertung historischer Ereignisse den Historikern zu überlassen. Aber bei der Behandlung von Problemen, die mit dem kulturellen Gedächtnis und der Erinnerungspolitik zusammenhängen, gerieten die Historiker selbst in eine Sackgasse – zuallererst wegen eines Interessenkonfliktes zwischen der Rolle als Geschichtsforscher und den staatsbürgerlichen Interessen. Als aktiver Staatsbürger übertritt der Historiker unausweichlich die Grenzen der professionellen Ethik, denn er spricht über Ereignisse der Vergangenheit, indem er sie anhand von Kriterien der Gegenwart und der absehbaren Zukunft bewertet, und nicht vor dem Hintergrund ihres historischen Kontextes. Wenn der Historiker dagegen die Ereignisse eben auf der Grundlage ihres konkreten historischen Kontextes bewertet, entsagt er damit quasi freiwillig seiner Funktion als Schöpfer eines neuen kulturellen Gedächtnisses und damit vielleicht einer besseren Gesellschaft. Für die Länder mit einer stabilen Demokratie sind solche Probleme nicht so aktuell, aber wir, Polen und Litauer, müssen noch einen modus vivendi nicht nur mit unserer widersprüchlich bewerteten historischen Vergangenheit, sondern auch mit unterschiedlichen kulturellen Gedächtnissen und Kulturpolitiken finden.

Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 4. Aufl. 2002.

Arunas Bubnys, Zbigniew Gluza, Stosunki litewsko-polskie podczas II wojny swiatowej, in: Robert Traba (Red.) Tematy polsko-litewskie, Olsztyn 1999, S. 118-143. Der Beitrag bezieht sich hauptsächlich auf die von den Autoren vorgelegten Chronologien der Ereignisse und kurzen Bewertungen.

Am 20. Juli 1944 wurden in Glintiskes als Rache für 4 ermordete litauische Polizisten 39 polnische Zivilisten ermordet.

Vgl. die Rezension des Buches von J. Wolkonowski von A. Anusauskas, Dar viena lenkiska knyga apie Vilniaus AK, in: Voruta, 1997 vasario 22-28, Nr. 8, S. 10.

S. zur Armija Krajowa: Bernhard Chiari: Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armija Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003.

Am 23. Juni 1944 ermordeten Angehörige der Armija Krajowa (Heimatarmee) als Rache für den Mord an den Polen in Glintiskes 27 litauische Zivilisten in Dubingiai. Die Armija Krajowa bzw. Heimatarmee war eine militärische polnische Untergrundorganisation, die während der gesamten Phase der deutschen Okkupation Polens aktiv war.

Der Vietine rinktine (Sonderverband) wurde Ende Februar 1944 aufgestellt. Zu ihrem Führer wurde General Povilas Plechavicius ernannt. Der Verband unterstand den Deutschen, seine Angehörigen selbst aber verstanden sich als Mitglieder einer zukünftigen litauischen Armee. Der Sonderverband nahm an Kämpfen gegen sowjetische Partisanen und die polnische Armija Krajowa im Vilniusgebiet teil. Als die Deutschen versuchten, die vollständige Führung über den Verband zu übernehmen, wurde er auf Initiative von General Plechavicius schon Anfang Mai 1944 aufgelöst. Für die Weigerung, den deutschen Befehlen zu folgen, wurden einige Dutzend der Angehörigen des Verbandes erschossen, nicht wenige wurden in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt.

S. Petras Kuliavas, Sunkus okupacijos metai, Kaunas 1995. 

Bestätigt wird diese Vermutung durch einen Bericht des Litauischen Fernsehens über Zusammenstöße zwischen Plechavicius und der von Pilsudski (sic!) geführten Armija Krajowa, s. Veidas, Nr. 37 vom 9. September 2004, S. 49.

S. die Artikel in: Armija Krajova Lietuvoje, Bd. 2, Vilnius 1999.

Benedict Anderson, Isisvaizduojamos bendruomenes: apmastymai apie nacionalizmo kilme ir plitima, Vilnius 2002 [Deutsch: B. Anderson, Die Erfindung der Nation: Karriere eines folgenreichen Konzepts, erw. Neuausg. Frankfurt/M. 1996]. 

Published 14 November 2005
Original in Lithuanian
First published by Kulturos barai 10/2004 (Lithuanian version)

Contributed by Kulturos barai © Alvydas Nikzentaitis / Kulturos barai / Eurozine

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Read in: DE / LT

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