Die Ordnung des Formlosen

Die soziale und politische Konstruktion von Rassismus in der französischen Gesellschaft

Rassismus ist ein vielgestaltiges Phänomen, das mit verschiedenen sozialen und historischen Situationen einhergeht. Häufig wird er als eine “pathologische” Form begriffen, die wie ein Virus den sozialen Körper befällt oder als Gen der individuellen oder kollektiven Identität inhärent ist. Eine Gesellschaft oder einzelne Personen fangen sich den Virus ein oder lassen ihren innersten Instinkten freien Lauf. Ihre “Immunabwehr” ist geschwächt, so daß die politische und gesellschaftliche Ordnung die notwendigen Barrieren nicht mehr aufrechthalten kann. Rassismus erscheint hier als Produkt gesellschaftlicher Dysfunktionalität, als Ausdruck für eine Massengesellschaft in der Krise und wird damit zum Symptom für eine unkontrollierte Ablehnung destrukturierender Moderne erklärt.
Die Sozialwissenschaften haben auf die Grenzen dieser metaphorischen Umschreibungen verwiesen.1Der Rassismus hat in der Tat immer wieder seine Gestalt verändert. Es ist nicht sicher, ob überhaupt mit diesem einen Wort die verschiedenen Ausprägungen des Phänomens in seiner jeweils eigenen Logik erfaßt werden können. Der Rassismus, oder besser: die Rassismen beruhen auf historischen Bedingungen. Ihre Strukturierung ist abhängig von der Form, in der die sozialen Beziehungen organisiert sind. Rassistische Verhaltensformen existieren nicht einfach, sie brechen nicht in ein bestimmtes Segment der Gesellschaft ein, lassen es erkranken, oder bemächtigen sich einer Person. Rassismus ist also weder Gen noch Virus. Er ist stets ein historisches Produkt und an soziale Beziehungen geknüpft, deren eines Merkmal er darstellt. Er ist also nicht die Ursache sozialer Verhaltensweisen, sondern schreibt sich als Folge in den Handlungsformen, Institutionen und Organisationen ein, in denen sich Identität konstruiert. Dies erklärt seine Undurchlässigkeit gegenüber Moralisierungskampagnen, rationaler Argumentation oder Ermahnungen an die Regeln universeller Gleichheit. Rassismus ist mehr als eine Auslegung der sozialen Welt. Er ist eine bestimmte Art und Weise, sich in ihr zu definieren und zu positionieren und wird damit ein Erfahrungsmodus.
Um den Rassismus in der französischen Gesellschaft zu analysieren, muß man die bequeme Idee von der “gesellschaftlichen Krise” aufgeben. Die sozialen Beziehungen, mit denen der Rassismus einhergeht, müssen als gegebene gesellschaftliche Strukturen begriffen werden. Dies soll im folgenden am Beispiel rassistischer Differenzierungen im Unterschichtsmilieu versucht werden. Es geht mir also um den Rassismus in den in Frankreich als Banlieues bezeichneten städtischen Räumen.2
Erstens: Seit etwa zehn Jahren weisen alle Untersuchungen über französische Vorstädte auf sich verstärkende Diskriminierungspraktiken und wachsende räumliche Segregation hin. Beide Phänomene sind zwar zunächst unterschiedlicher Natur, aber tendieren dazu, sich zu überlappen. So klagen viele Bewohner städtischer Randgebiete über Diskriminierungen aufgrund des “schlechten Rufs” ihres Viertels, mit dem sie “identifiziert” werden. Bei der Arbeitssuche ist es besser, seine Adresse zu verbergen. Am Eingang einer Diskothek oder beim Einkaufen verheimlicht man die Tatsache, in diesem oder jenem Vorort zu wohnen. Soziales und durch Rassismus bedingtes Stigma sind von der Vorstadtproblematik nicht mehr zu trennen. Sowohl jene, die stigmatisieren, als auch ihre Opfer setzen die beiden negativen Markierungen gleich. So wird man zum Beispiel zum “Araber” gemacht und fühlt sich als solcher, weil man in einer bestimmten(gemeint ist ein Wohnblockkomplex) zu Hause ist.
Französische Städte sind mehr und mehr gespalten, auch wenn die Segregation nicht mit den US-amerikanischen Verhältnissen zu vergleichen ist. Es gibt keine Ghettos in der Größenordnung von denen in Chicago etwa. Aber während der 80er Jahre ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Distanz zwischen Stadtzentren und ihren Peripherien stetig gewachsen. Ober- und Mittelschicht konzentrieren sich mehr und mehr in den Zentren, während sich die unteren Schichten sowie ethnische Minderheiten in den Vorstädten ballen.3Die soziale Distanz wird einerseits über die räumliche Entfernung und andrerseits über eine negative Identifikation, die auf den Begriff der Rasse zurückgreift, erfahren. Den Vorstadtbewohnern werden also nicht nur periphere Räume der Stadt zugewiesen, weil sie arm sind und nicht die ökonomischen und sozialen Ressourcen besitzen, um sie zu verlassen. Sie werden eben auch “symbolisch” auf ihr Viertel “festgenagelt”, indem sie mit den negativ konnotierten und ethnisch markierten Räumen identifiziert werden (wobei es hier nicht um die Objektivität solcher Kennzeichnungen geht). Damit können sie diesen Orten nicht mehr entkommen. Erlittene Diskriminierung oder subtil ablehnende Äußerungen (sei es durch einen kurzen Blick) kann ihre Bewegungsfreiheit bis zu dem Punkt beschränken, daß ihnen der Zugang zu bestimmten Stadtvierteln des Zentrums verboten scheint.4Selbst wenn die Vorstadtbewohner die zur ihrer Mobilität notwendigen Mittel erwerben, tragen sie “physisch” und “kulturell” ihre “Unterlegenheit” mit sich. Das Vorstadtviertel steht ihnen “ins Gesicht geschrieben”: “Wenn du da ankommst, gucken sie dich auf eine Art und Weise an … am liebsten willst du gleich wieder gehen! Sie gucken dich bösartig an, sie lassen dich fühlen … Du fühlst dich völlig abgelehnt.”5Letztendlich befinden sich die Bewohner der urbanen Peripherie in der Situation, Freiheit (die Bewegungsfreiheit) zu fordern, die sie symbolisch überhaupt nicht übernehmen können. Eine Folge davon ist, daß sie zwischen Abwertung und Überbewertung derständig hin- und herschwanken. Auf der einen Seite versucht man, ihr zu entkommen. Auf der anderen Seite ist sie ein Ort des Schutzes und der Solidarität.
Die urbane Verankerung der Selbstbeschreibungen und der sozialen Beziehungen aber betrifft nicht nur die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie. Innerhalb der Vorstadtviertel wird sie noch einmal durch eine räumliche Fragmentierung verstärkt. Eine Mikrosegregation vollzieht sich hinter dem beruhigenden “Schleier sozialer Durchmischung”.Von einem Treppenhaus zum nächsten oder von einem Hochhaus zum anderen ändert sich mit den Bewohnern auch die Atmosphäre. Das Territorium der Vorstadt ist nicht homogen, sondern ähnelt einem Mosaik verschiedener Zonen, die materiell und symbolisch durch sowohl sozial als auch ethnisch definierte gesellschaftliche Gruppen markiert sind. Nicht selten treten interne Spannungen und interethnische Auseinandersetzungen in einem Wohnviertel auf, die aus Konflikten um die Besetzung des städtischen Raums entstehen. Die Streitereien zwischen verschiedenen Jugendgruppen lösen Rachekreisläufe aus, die bis hin zum Mord gehen können, und durchziehen sehr oft denselben Wohnkomplex.
Die räumliche Differenzierung der Gruppen übersetzt sich in einen Sprachmodus. Jedes Individuum sieht sich in einer Zugehörigkeit zu einer Art von “Ethnizität”. Die Eigenschaft, Bewohner eines Stadtviertels zu sein, vermischt sich dabei mit der Bezugnahme auf ethnische und rassistische Elemente. Gleichzeitig werden auch “die anderen” auf diese Weise identifiziert. Der Bezug auf dieist somit “ethnischen”, “nationalen” oder “rassistischen” Kriterien unterworfen, was eine Art innere Subgeographie des Viertels und des Zusammengehörigkeitsgefühls entwirft. Der positive Inhalt dieser “Identitäten” oder “Ethnizitäten” wird aber tatsächlich nie definiert. Die Selbst- und Fremdidentifikationen grenzen weder kulturelle noch soziale Handlungsformen voneinander ab, so daß Mikroghettos nicht entstehen können. Jedoch veranlaßt die soziale Homogenität des Vorstadtviertels in seiner Gesamtheit die Bewohner dazu, eine möglichst große Heterogenität zur Schau zu stellen. Der einzelne definiert sich über den Anspruch auf einen “natürlichen” Unterschied gegenüber den anderen: Die “Araber” sind das Definitionsinstrument der “Weißen”, die sich als Franzosen verstehen. Andersherum dienen die “Toubabs” (Europäer) zur Definition derjenigen, die sich als “Araber” bezeichnen. “Also, es gibt Weiße und Weiße: europäische Weiße und arabische Weiße. Du erkennst einen Araber sofort. Aber da ist auch der Weiße, der Franzose da… ,der sieht aus wie ein Schwein …” – “Mit einem Araber rumzuhängen ist gut, der ist nicht verdorben. Bei Karim waren neulich Franzosen, danach haben wir ihm gesagt: ‘Hey, Verräter, du hängst mit Franzosen rum? Du bist verdorben. Hau ab! Los, geh und gib dich mit Franzosen ab! Zisch ab!'”6

Die Distanz zwischen den “Leuten” aus dem Zentrum und jenen, die “keine Leute sind”, wird also durch verschiedene Abgrenzungsmechanismen überlagert, auf denen permanent unvollendete “negative” Identitätskonstruktionen basieren. Diese werden pausenlos neu bedient und wieder aufgegriffen, weil die gesellschaftliche Realität ihnen widerspricht. Innerhalb eines Viertels entstehen somit soziale Beziehungen über eine Palette von Unterscheidungskategorien und Hierarchien, die sich überschneiden und deren Bezugspunkt außerhalb der eigentlichen sozialen Interaktion liegt. Die Bewohner des Stadtzentrums beschreiben sich in bezug auf die Vorstadtbewohner, die sich wiederum voneinander über die Unterscheidung verschiedenereines Viertels differenzieren. Die “Franzosen” bestimmen sich in bezug auf die “Araber”, die “Araber” in bezug auf die “Zigeuner” usw. Hier wird weder eine Entsozialisierung noch ein Integrationsdefizit sichtbar, die auf Anomie oder einfach Ausgrenzung reduziert werden können.7Im Gegenteil, die sozialen Interaktionen sind paradoxerweise recht lebendig, was zum Beispiel durch das immer wieder auftretende Phänomen der Gerüchte anschaulich wird, die auf ein dichtes Informationsnetz schließen lassen.
Innerhalb eines stigmatisierten Viertels ist das Verhältnis zum “anderen” keine stabile Beziehung in der Distanz zum Selbst, wie es in anderen sozialen Milieus der Fall sein kann. Es ist vielmehr beweglich und locker, fast formlos. “Das andere” rückt um so näher heran, als daß die soziale Nähe und das erfahrene Stigma es in einer gemeinsamen “Identität” auflösen, deren Basis eine gemeinsam erlebte und auferlegte Entfernung vom Zentrum ist. “Das andere” wird durch den Blick von außen und durch das Eingeschlossen sein im Viertel gleichsam ins eigene “Selbst” implantiert. Das oder der “andere” verhindert, Anerkennung zu erreichen. Nicht nur das Viertel steht einem “ins Gesicht geschrieben”, sondern eben auch seine Bewohner, die Nachbarn, “kleben einem an der Haut”. Diese beklagen sich daher weniger über die Wohnqualität in ihrem Viertel, als vielmehr über die dort wohnhaften Personen, über “die Leute da”, vor allem die “Jugendlichen” und die “Araber”. “Das andere” wird zu einer Bedrohung für die eigene Identität. So entsteht bei vielen ein obsessiver “Rassismus”, der nicht nur durch die Gewalt des Sprachmodus, sondern auch durch körperliche Übergriffe und bestimmte Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt. Es wird ein “Unterschied” als Rückhalt konstruiert, um sich aus dem “Morast” des Vorstadtviertels hinauszuretten. Gleichzeitig wird der bereits im Selbst hausende Teil “des anderen” herausgerissen, um sozialen Auflösungsprozessen entgegenzutreten, die in die Formlosigkeit führen.
Der Blick, den die staatlichen Institutionen, die Medien und die Mittelschicht von außen auf die Vorstädte werfen, vereinheitlicht die Bewohner dieser Orte in ihrer Distanz zur integrierten, der Norm entsprechenden Gesellschaft. Die Bewohner fühlen sich “in einen Topf geworfen”, gefangen in einer Zone, ohne gesellschaftliches Dasein und ohne “Form”. Die herrschenden Sprachformen drücken diese Formlosigkeit mit Hilfe von vielfältigen Adjektiven, die die Vorstädte beschreiben, aus: “gesetzlose Zonen”, “informelle Wirtschaft”, “Unterwelt-Wirtschaft” usw. Der allgemein verbreitete Rassismus besteht also darin, sich selbst “Formen” zu geben, indem man “ein formloses anderes” konstruiert und produziert. Es geht keineswegs darum, eine Andersartigkeit herzustellen, um sie dann abzulehnen, sondern darum, sich “des anderen” zu entledigen, es gleichsam aus dem Selbst zu verweisen. In der Loslösung von “diesem anderen” identifiziert man sich selbst, indem man sich gewissermaßen “reinigt” und “läutert”. Darum drückt sich Rassismus so oft in der tiefsitzenden Ablehnung von “Gerüchen” und in der Angst vor der “Verunreinigung” aus. Er wird zur Obsession von “Schmutz”, den “das andere” einem selbst aufdrängt. “Das andere” ist stets “dreckig” und “abstoßend”. Insbesondere Beleidigungen, in denen Sexualität, Frauenfeindlichkeit und Ablehnung gegenüber Homosexuellen untrennbar mit Rassismus verbunden werden, machen dies deutlich. (“Fick deine Mutter”, “Hure deiner Rasse/Scheißrasse”.)8Ein von Farid Benbekaï befragter Schüler erklärt, niemals bei einer “französischen” Familie zu Hause gewesen zu sein, und drückt seinen tiefen Ekel aus: “Da muß es stinken … da muß es nach Hallouf-Keulen (Schwein) riechen. Widerlich, das Hallouf stinkt … Sie sind dreckig, sie nehmen ihren Hund mit in die Wohnung. Der frißt aus ihrem Teller; dann spült die Mutter … das ist ekelhaft.”9

Letztlich ist auch Gewalt ein Mittel, um sich “das andere” physisch vorzustellen und sich dann von ihm abzugrenzen. Der Angriff auf die körperliche Unversehrtheit einer Person, ihre Würde oder ganz einfach die Herstellung von Angst macht es auf der einen Seite möglich, sich von “dem anderen” zu lösen und ihn formlos zu machen. Auf der anderen Seite verleiht sie aber “Form” durch die physische Trennung, die den Körper des anderen in eine Distanz setzt. In dieser Hinsicht dienen Gewalt und physische Auseinandersetzungen zur Herstellung von Rassismus und sind nicht eine seiner Konsequenzen. Denn “das andere” wird ständig neu konstruiert, es “klebt” einem förmlich “an der Haut”.
Der moderne Rassismus entspricht keiner Doktrin oder Theorie. Es handelt sich um eine soziale Praxis und einen Konstruktionsmodus des Selbst über das Herausstellen eines “wesentlichen” und “absoluten” Unterschieds. Damit ist er, so wie Pierre-André Taguieff treffend formuliert, die “Verabsolutierung des Unterschiedes”,10wobei hinzugefügt sei, daß diese Verabsolutierung um so radikaler wird, je schwächer der Unterschied ist. Jene den Rassismus begleitenden Beschimpfungen, Gewaltakte und Ausschreitungen sind keine Folge des Kulturschocks oder voneinander abweichender Lebensweisen. Ebensowenig sind sie das Produkt eines kulturellen Erbes oder an spezifische Lebenspraktiken gebunden. Im Gegenteil, sie müssen als Konstruktionsmittel der “Ethnizitäten” und ihrer Differenzierung begriffen werden, das heißt als Mittel zum Kampf gegen Entdifferenzierung und Assimilation und somit als Ressource für die affirmative Konstruktion einer persönlichen “Identität”, die aus dem “Morast des anderen” emporzuragen scheint.Zweitens: Die sozialen Beziehungen zwischen den als “normal” definierten gesellschaftlichen Gruppen und denen der “Problemstadtteile” organisieren sich entlang der Vorherrschaft des Konsummodells der Mittelschicht und ihres Sprachduktus. Paradoxerweise sind nämlich die Unterschichten in diesem stark sozialisierenden Konsummodell überintegriert. Die herausragende Bedeutung, die dem Konsum beigemessen wird, manifestiert sich im “Konformismus” materieller Sehnsüchte,11was bei Jugendlichen in einen “Markenkult”, in eine Kultur des “Looks” und des “Outfits” mündet. Die Identifikation mit einem speziellen, von der Mittelschicht getragenen Konsummodell produziert die klassischen Effekte, die Merton für die amerikanische Gesellschaft analysiert hat. Die Individuen schwanken zwischen Überintegration und Bruch mit der Gesellschaft beziehungsweise Devianz hin und her, die jedoch wiederum von einem tiefsitzenden Konformismus genährt wird. Da kulturelle Filter fehlen, können die materiellen Sehnsüchte nicht mit den realen Möglichkeiten abgestimmt werden. Sie lassen sich nicht mehr steuern, weil diese deklassierten Milieus ihre soziale Kultur und die Fähigkeit zu kollektivem Handeln verloren haben. Sie können also gesellschaftlich nicht mehr umsetzen, was sie persönlich erleben. Das Eindringen von Lebensmustern der Mittelschicht hat diese sozialen und kulturellen Filter gesprengt. Dadurch besitzen nur noch stark individualisierte und private Formen des Konsums einen Wert. Der Verlust der “Klassenkultur” konfrontiert das Individuum schutzlos mit der Spannung zwischen seinen Wünschen und den realen Mitteln für ihre Realisierung.
Es handelt sich dabei jedoch nicht um die pathologische Folge von fehlender Arbeit und mangelnden finanziellen Ressourcen, die den Zugang zu “normalen Lebensstandards” verwehren. Dort nämlich, wo das Konsumverhalten zum einzigen kulturellen Bezugspunkt und damit zum ausschließlichen Integrationsmodus einer Gesellschaft geworden ist, verschafft selbst der Besitz einer Arbeitsstelle weder eine persönliche noch eine soziale Anerkennung in den unteren Gesellschaftsschichten. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Arbeit eine unterbezahlte Dienstleistung ist, was insbesondere Frauen betrifft und in vielerlei Hinsicht Marktmechanismen in die Privatsphäre einbrechen läßt. Immer mehr häusliche oder private Tätigkeiten in den Mittel- und Oberschichten werden vom Arbeitsmarkt abgedeckt und von Frauen benachteiligter sozialer Milieus in Lohnarbeitsverhältnissen übernommen. Das Konsumverhalten hängt nicht mehr von der Arbeit ab, sondern die Arbeit selbst wird von den Möglichkeiten zu konsumieren beherrscht. Sinn und Zweck der Arbeit beziehungsweise die Stabilität eines Arbeitsplatzes sind direkt abhängig von der Voraussetzung, konsumfähig zu sein, und damit vom sozialen Status des einzelnen. Infolgedessen können individuelle Anerkennung und soziale Integration nur dann erreicht werden, wenn man am Austausch von Waren und Zeichen teilnehmen und mit herrschenden Sprach- und Konsumkriterien konform gehen kann.
Nicht nur Beruf und Beschäftigung rationalisieren sich, sondern auch individuelle Identitäten werden über Konsumverhalten neu definiert. Das Problem der unteren gesellschaftlichen Schichten darf also nicht nur auf die frustrierende Diskrepanz zwischen Einkommen und materiellen Aspirationen reduziert, sondern muß als eine nie wirklich gelöste “innere” Identitätsspannung zwischen Erwartungen und gelebter Situation verstanden werden. Jeder kann Konsument sein. Weder persönliche Fähigkeiten noch Leistungen sind nötig, um mit dem Konsummodell konform gehen zu können. Diese Offenheit konstituiert die Erwartungen, die zur “inneren”Identität, zum Ich werden. Die Erfahrung der sozialen Realität charakterisiert sich jedoch durch das Gefühl, eingeschlossen zu sein und auf unwiderrufliche Ablehnung zu stoßen: “Man läßt mich nicht leben!” Einmal als nicht konform und vor allem als “nicht anpassungsfähig” abklassifiziert, scheint dem Individuum jede Initiative unmöglich. Das Problem besteht also in der Armut der Erfahrung und nicht in der Erfahrung der Armut. In dieser Situation vervielfacht gewissermaßen die Kontingenz der persönlichen Wünsche die Erwartungen, die niemals vom Konsumobjekt an sich befriedigt werden können. Wird ein Gegenstand erworben, steigert sich die Unzufriedenheit. Für die Bewohner der Vorstadt ist die Teilhabe am Konsum eine Täuschung. Damit kommt der Erwerb von Konsumgegenständen einer Flucht nach vorn gleich, die sich auf ein gegenseitiges Überbieten im Konsumieren reduziert; denn ein Zeichen ist nur im dazu passenden Umfeld wirksam. In diesem Sinne mündet auch der Versuch, ein Stadtviertel zu verlassen, gerade in ein gesteigertes Gefühl, eingesperrt zu sein und niemals diesen Ort verlassen zu können.
In der vom Konsum beherrschten Gesellschaft wird dem Individuum eingeschärft, sich zu “entwerfen”, ein “Projekt zu entwickeln”, wie es in der Sprache der Sozialarbeiter heißt. Jeder ist dabei auf sich gestellt. Im Unterschied zur arbeitsorientierten Industriegesellschaft geht es also weniger darum, Normen und Regeln zu lernen, sondern darum, mit den vorherrschenden Konsumstandards konform zu gehen. Sie geben die Verhaltensmodelle und Identifikationsmodelle vor. Die Konsumkultur ist keine Unterdrückung- und Mobilisierungskultur. Sie speist sich aus der Vorstellung, jeder Mensch sei ein “Vorratslager” an potentiellen Fähigkeiten, die er zum Leben erwecken muß, um nicht “sein Leben zu verlieren”. Für die Bewohner der Vorstädte ist die Realität jedoch ein ständiges Dementi dieser Prämisse. Die erlebte Wirklichkeit widerspricht dieser Lebensdevise. Genau dies drückt der Satz aus, der in allen Studien über die Vorstädte stets wiederkehrt: “Man läßt mich nicht leben!” Die Einheitlichkeit des Formlosen im Stadtteil wirft den einzelnen auf eine kulturelle oder biologische Unfähigkeit zurück. “Wir hier, wir sind keine Menschen.”12Mit einer Scham vor dem eigenen Selbst fühlt man sich “ausgeschlossen” und gewissermaßen “pathologisiert”. Das Individuum wird in der Tat lediglich über einen Mangel, ein Defizit und die Unfähigkeit, sich eine Form zu geben, definiert, wobei alle diese Aspekte ihm beständig seine Zugehörigkeit zum Viertel entgegenhalten.
Diese Situation führt sowohl zu einer extremen Personifizierung der sozialen Probleme als auch zur Fragmentierung des kollektiven Lebens. Die soziale Distanz und die Schwierigkeiten werden verinnerlicht. Ungerechtigkeiten und individuelles Scheitern werden über das Gefühl von Scham und Selbstentwertung erlebt. Die Folgen dieser Mechanismen sind Apathie und Abhängigkeit, aber ebenso “Wut”, “Selbsthaß” und Haß auf das soziale Umfeld, mit dem man identifiziert wird.
Das Individuum steht auf diese Weise einem Bruch in sich selbst gegenüber, einer Spaltung zwischen einem mit potentiellen Fähigkeiten ausgestatteten “multiplen Ich” und einem zugewiesenen, eingeschränkten und kollektivierten “Selbst”. Beide werden von außen bestimmt und dem einzelnen wie zwei Spiegel gegenübergestellt. Das “Ich” ist um so “freier”, als das “Selbst” festgelegt ist, es ist um so “reichhaltiger”, als das “Selbst” “jämmerlich” ist, um so “persönlicher”, als das “Selbst” anonym und kollektiv ist, um so heftiger und lebhafter, als das “Selbst” schwach ausgeprägt ist. Das Subjektivitätsdefizit läßt sich offenkundig nie in eine Form von Handeln umsetzen. Die am weitesten verbreitete Erfahrung in den sozial benachteiligten Vorstädten ist die des Überdrusses. Nichts passiert, und gleichzeitig scheint sich alles in der sich endlos hinziehenden Zeit aufzulösen.13“Man verrostet”, sagen die Jugendlichen, die ihre Tage mit dem “Mauerstützen” verbringen. Der Verdruß zerfrißt das Selbstvertrauen. Man ist nicht nur nutzlos, sondern fühlt sich auch unbrauchbar und steht sich selbst im Wege. Unbehagen und Selbstzweifel werden zum Dauerzustand und enden häufig in Selbstzerstörung. Alkohol-, Drogen- und Betäubungsmittelkonsum sind nur die banalsten Ausformungen in dieser Lage. Ausschreitungen – “Rodeo” und “exzessives” Risikoverhalten – und schließlich das “Sichvergessen” in übermäßigem Fernsehkonsum gehören ebenfalls zu einer solchen Destruktion der eigenen Person.
In vielerlei Hinsicht ist die Vorstadt eine Welt der “einsamen Masse”, der gänzlich von außen bestimmten Individuen, die Riesman untersucht hat.14Noch genauer allerdings ähnelt sie der “Keller-Welt” von Dostojewski.15Letztendlich handelt es sich um die Welt einer proletarisierten Mittelschicht, die eine externe Modernität lebt. Gleichzeitig von der Modernität angezogen und doch abgewiesen, zerstören die Bewohner der Vorstädte ihre Symbole. Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen dem Bruch mit der Moderne oder eine Unterwerfung unter ihre Vorherrschaft. Die Integration in die Konsumwelt verschärft die Sensibilität für die eigene Persönlichkeit, deren Anerkennung jedoch in der sozialen Realität verweigert wird. Es gibt also ein übersteigertes Bedürfnis nach Erfahrung, die jedoch nicht gemacht werden kann, weil der Raum dafür versperrt ist. Der Rassismus ist mit genau dieser Verschränkung von hohen Erwartungen und Ausgrenzung verbunden. Das Individuum versucht nämlich aus dem Magma der “Desubjektivierung” herauszutreten, indem es eine Negativintegration über die Abwertung “des anderen” vornimmt und damit sozusagen das “Formlose” aus der eigenen Person abstößt. Vor diesem Hintergrund ist Rassismus im übrigen nicht vom Sexismus (von der Erniedrigung der Frauen, die als pure Objekte der Begierde und der Unterwerfung respektive als dreckige “Huren”, wie in den Texten und Clips vieler Rapper, betrachtet oder erträumt werden) oder von der Gewalt gegenüber Kindern zu trennen. Beides sind – wenngleich pathologische – Mittel des Individuums, sich über die Konstruktion von Hierarchien Anerkennung zu verschaffen und sich eine Form zu geben.Drittens: Die Ausgrenzungsprozesse der Unterschicht in den Vorstädten werden dadurch verstärkt, daß ein geschlossener politischer Raum eine exklusive Konzeption des politischen Lebens und der Staatsbürgerschaft vorgibt. Dieser politische Raum strukturiert die Hierarchisierung der Bevölkerungsgruppen. Dadurch können die Vorstadtbewohner weder eine ihnen eigene kollektive Sprache noch eine Mobilisierungsform finden, die Protestaktionen oder Widerstand möglich machen würden. Ein wesentliches Charakteristikum der Vorstadtviertel in Frankreich ist die starke Präsenz staatlicher Institutionen. Diverse Verwaltungen beeinflußen dauerhaft den Alltag der Bewohner. Auch wenn der öffentliche Dienst bisweilen Defizite aufweist, so sind doch Schule, Polizei und die verschiedenen wohlfahrtsstaatlichen Dienste im täglichen Leben der Familien und Einzelpersonen allgegenwärtig. Die staatliche Intervention ist keine externe Aktion in bezug auf die bestehenden Probleme, sondern letztere entstehen eben gerade in dem Verhältnis zwischen Bürgern und Institutionen. Die Wohnbevölkerung in den Vororten ist abhängig von den sozialen, schulischen, polizeilichen und anderen Maßnahmen, insbesondere in bezug auf die finanzielle Unterstützung, aber auch hinsichtlich sozialer Aspirationen. Dieses Abhängigkeitsverhältnis hat zur Folge, daß die Individuen den Institutionen und ihrer Intervention unterworfen sind. Gleichzeitig ruft die Abhängigkeit das Gefühl hervor, “in der Falle” oder “in der Klemme” zu sitzen, eben gerade weil die Institutionen nicht in der Lage sind, den Wunsch nach Mobilität zu befriedigen. Die Falle ist damit sowohl Faktum als auch Symbol. Das institutionelle Eingreifen verdeutlicht dem einzelnen die Hoffnungslosigkeit in bezug auf seine Mobilität sowie seine Unwürdigkeit in einer Gesellschaft, die eben gerade Mobilität und Autonomie zu den höchsten Werten macht. Die Normen verlieren dadurch ihre Legitimität, daß sie keine Entsprechung besitzen. Das Widersprüchliche hierbei ist, daß die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Institutionen und ihrer Intervention gegenläufig zu ihrer Legitimität anwachsen. In dieser Ambivalenz bildet sich eine “anti-institutionelle Kultur” und eine direkt gegen die Vertreter dieser Institutionen in den betroffenen Vierteln gerichtete Gewalt heraus. Die institutionellen Repräsentanten werden im übrigen um so mehr abgelehnt, als sie nur selten aus den betroffenen Stadtteilen kommen. Soziale Einrichtungen werden in Brand gesetzt; Sozialarbeiter und Lehrer, aber auch Feuerwehrleute, Ärzte, Angestellte der Müllabfuhr oder Busfahrer werden tätlich angegriffen.
Durch alle Ebenen des staatlichen Institutionenapparats zieht sich der Diskurs von der “idealen Vorstadtsiedlung”, die auf der “notwendigen Partizipation der Bürger” beruhe. In dieser Perspektive wird die Vorstadt für die an den Staat gebundenen Berufskategorien zu einem laizistischen Missionsfeld. In bezug auf die jungen Leute geht es ständig um die “Erziehung zur Staatsbürgermoral”, darum, die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu “sozialisieren”. Lehrer und Sozialarbeiter sprechen davon, daß sie “das Abdriften” der Vorstadtbewohner vermeiden und diese an “persönlichkeitsstrukturierende Normen” binden müßten. Die gesellschaftliche Analyse wird auf einen konservativen Appell zur Ordnung und zur Norm reduziert und kennt nur die Alternative zwischen Erziehung und Repression, Integration und Exklusion.16

Institutionell und politisch werden die “Problemstadtteile” auf diese Weise über die Distanz definiert, die zwischen ihnen und der “guten” Gesellschaft besteht. Sie werden gegenüber der “Tugendhaftigkeit” und der staatsbürgerlichen Vernunft, die von einem gebildeten Bürger erwartet werden, als Orte der “Unzivilisiertheit” und der “Passivität” abgegrenzt. Die kulturelle Weisung, ein autonomes Individuum zu sein, ist untrennbar mit der institutionellen und politischen Aufforderung, Staatsbürger zu sein, verbunden. Gleichzeitig geht es um die Konstruktion einer zentralen Integrationsnorm, die die “nationale Gemeinschaft” mit den “universellen” Werten gleichsetzt. Aufgabe ist, ein Staatsbürger in der Tradition des französischen republikanischen Integrationsmodells zu sein. Das Individuum kann lediglich dann zu einem Bürger werden, wenn es diesem Modell entsprechend “erzogen” worden ist.
Wird jedoch die nationale, “integrierte” Gesellschaft mit dem Universellen identifiziert, so ist die Außenwelt per definitionem und notwendigerweise die des Partikularen und die der “Gefahr des Kommunitarismus”. In diesem Sinne richtet sich die Anweisung, Staatsbürger zu werden, immer an die Bewohner der “Problemstadtteile” (und nicht an die des gesellschaftlichen Zentrums). Jeder abweichende Sprachmodus verliert so seine Legitimität; denn er kann nur das Partikulare darstellen, das in den Augen des französischen Integrationsmodells zwangsläufig eine ethnische Gemeinschaft widerspiegelt. Da die Werte und Grundsätze der Republik unantastbar sind, setzt das republikanische Deutungsmonopol die Ungültigkeit von anderen Formen der Sinnzuschreibung geradezu voraus. Eine Kritik oder Metasprache kann es nicht geben; entweder tritt der einzelne vom “Draußen” ins “Drinnen” der integrierten Gesellschaft und ordnet sich unter, oder er bleibt draußen, weil er unanpaßbar ist. So wird jedes Individuum, wie Pierre Bourdieu bemerkt, “an die Ordnung des Universellen gemahnt, sobald es sich im Sinne universeller Rechte mobilisiert, die ihm in Wirklichkeit verweigert werden”.17Das Individuum kann nur partizipieren, wenn es sich der französischen republikanischen Tradition unterwirft.18Andernfalls wird die Person zu einem Integrationsproblem.
Unter diesen Bedingungen ist es unmöglich, individuelle Verhaltensweisen von kollektiven Normen zu trennen. Der Mangel an politischer Auseinandersetzung und Alternativen innerhalb der politischen Sprache führen dazu, daß die politischen Dimensionen in den Raum der individuellen Verhaltensmuster zurückkehren. Diese sind sozusagen politisch übersättigt. Jede Begegnung und jede Konfrontation im Alltag spiegelt sofort die Machtverhältnisse zwischen den sozialen Gruppen wider, was wiederum heißt, daß die Bewohner der Vorstädte auf der gesellschaftspolitischen Ebene die Probleme nicht umsetzen können. Sie erleben die Problematik auf einer persönlichen Art und Weise, das heißt in ihrem Leben als Individuen. Die Intention staatlicher Institutionen – Sozialarbeiter und sozialstaatliche Einrichtungen – verkehrt sich gegebenenfalls ins Gegenteil. Unterstützung und Solidarität werden als herabwürdigendes Einsperren in einer Art Substatus empfunden. Sie kommen damit dem Oktroy einer Norm gleich, die lediglich Deckmantel für die Interessen jener ist, die es geschafft haben, sich auf der richtigen Seite der Kluft anzusiedeln. Solidarität, die nicht auf Kritik- und Konfliktfähigkeit basiert, wird als reines Ordnungs- und Normierungssystem erlebt. Auf dieser Prämisse beruhen der Groll und der häufig zu beobachtende Ausbruch von Gewalt in den Beziehungen zwischen sozialen Dienstleistungsanbietern und den Vorstadtbewohnern (vornehmlich den Jugendlichen). In der französischen Nachkriegsgesellschaft waren Kompetenzen, Interventionsmöglichkeiten und eine nach außen gerichtete Offenheit der Institutionen dazu bestimmt, die Individuen in die gesellschaftliche Welt einzubinden. In den Vorstadtbezirken werden institutionelle Handlungen heute aber als etwas erfahren, das integriert, indem es marginalisiert. Staatliche Integration schließt damit Welten gegeneinander ab und wirkt sich destruktiv für das gesellschaftliche Zusammenleben aus. Die “normale Gesellschaft” wird von der zur Formlosigkeit verdammten Welt des “Draußen” abgegrenzt.
Rassismus ist die “natürliche” Fortsetzung dieser hierarchisierenden Ideologie, genauso wie die Formen “fundamentalistischer” Rückzüge eine Konsequenz davon sind. Rassismus ist die Interpretation, die sich das sozial benachteiligte Milieu von der exklusiven Konstruktion der Ordnung und Integration macht. Wird der einzelne über ein Abweichen von der “Integrationsnorm des französischen Modells” definiert, so wird die Unterscheidung zwischen dem, was “französisch” ist, und dem, was es nicht ist, zu einem wesentlichen Mittel für das Streben nach Anerkennung und der Suche nach Erklärungsmustern für die eigene Situation. Es gilt, auf der richtigen Seite zu stehen. Deswegen prangert man an, daß die Institutionen die “Einwanderer” zum Nachteil der “Franzosen” begünstigen. Den “Einwanderern” wird der Vorwurf gemacht, “das Viertel zu verderben”; denn schließlich seien sie die Träger der “Unzivilisiertheit” und der “nicht zu integrierenden Unterschiede”; sie verhinderten, daß die Vorstadtbewohner einen Platz in der nationalen Gemeinschaft und damit die vollständige Anerkennung erlangten. Die Partikularität “des anderen” bedroht sozusagen den Status als Staatsbürger und den Zugang zu den Institutionen. Der Rassismus erhält hier die Funktion, die soziale Lage zu interpretieren, der Formlosigkeit zu entkommen und “das andere” abzustoßen. Aus der Sicht der unteren Gesellschaftsgruppen setzt er die politische Ideologie der Ordnung fort, die aus der “Differenz” und “dem anderen” ein Integrationsproblem und eine Ursache für soziale Probleme macht. Der Rassismus ermöglicht auf diese Weise, die Erfahrung in einen allgemeinen politischen Bedeutungszusammenhang zu stellen.
Die rassistische Handlungslogik ist also das Produkt der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Schichten und nicht eine “pathologische” Form der sozialen Ordnung. Dabei handelt es sich um einen besonderen Typus sozialer Beziehungen, der sich dadurch auszeichnet, daß er “desubjektiviert”, indem er dem sozialen Akteur eine Norm auferlegt und kollektives Handeln unmöglich macht. Derartige Machtverhältnisse gleichen einer Kolonialisierung. Ideologie und Normen werden zum einen als extern und aufgezwungen erfahren; denn sie werden von Personen und Gruppen – Sozialarbeiter, Lehrer oder Polizisten – vermittelt, die von außen in die Viertel kommen. Zum anderen werden die Bewohner der Vorstädte, entsprechend den Analysen von Fanon, über den Blick des anderen, des Herrschenden, definiert; das heißt über den Blick der Mittelschicht, der Medien und der sich selbst als integriert bezeichnenden Welt. Schließlich wird dieser Blick verinnerlicht.19

Die Modernität, die mit Konsum und Individualismus gleichgesetzt und von externen Akteuren vermittelt wird, bleibt selbst extern. Sie ist für die Bewohner der Vorstädte nicht mehr losgelöst von Repression und Identitätsdestruktion zu sehen. Damit entsteht eine Spannung zwischen dem “Drinnen” und “Draußen”, also zwischen zwei Konzepten, die sich nicht in Einklang bringen lassen. Das Verhältnis zwischen den beiden Welten wird durch den Diskurs und die Wahrnehmungsmuster der dominierenden Gruppen definiert und kann von dem “Draußen” nicht mitbestimmt werden. Das von den übergeordneten sozialen Schichten, den Institutionen und Medien ausgehende ständige Mahnen zu “Staatsbürgerlichkeit”, “Moral” und “Integration” steigert die Desubjektivierung der Nichtprivilegierten. Die Bewohner der Vorstädte müssen ihr Selbst aufgeben, um eine Nähe zu den übergeordneten sozialen Milieus oder gar eine Gleichheit mit ihnen herzustellen. Da jeder Versuch der Anerkennung als Persönlichkeit und Staatsbürger scheitert, kann Subjektivität nicht konstruiert werden. Das Individuum wird in eine Negatividentifikation hineingezwungen, die letztendlich nur auf feindlicher Gesinnung oder Haß gegenüber dem sozialen Umfeld und damit auch gegenüber sich selbst beruht. Das Paradoxe an einem Integrationsversuch ist die mit ihm verbundene Disqualifizierung der eigenen Person, die die gewünschte Anerkennung unmöglich macht.
Während der Rassismus in der Industriegesellschaft aus dem Zuammentreffen von konkurrierenden Gruppen und deren kulturellen Unterschieden entstand, ist er in der postindustriellen Gesellschaft ein Produkt der Identitätskonstruktion. Er basiert auf dem “Haß” “des anderen”, das in einem selbst steckt, das das Selbst ist. Er geht mit einer Negatividentifikation einher, die jegliche Stärkung der eigenen Subjektivität und das Streben nach politischer Anerkennung ausschließt. Rassismus ist also die endlose Produktion “des anderen” ausgehend von einer Gruppe ohne soziale und politische Sprache, die aufgrund von Erfahrungsarmut und mangelnden Ressourcen für eine Sinnkonstruktion die Fähigkeit zur Subjektivierung verliert.

Dies ist eine der Bereicherungen durch die Arbeiten vonPierre-André Taguieff,Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double, Hamburg, 2000.

Was den Rassismus in der Arbeitswelt betrifft, siehePhilippe Bataille,Le racisme au travail, Paris, La Découverte, 1997. Für einen allgemeineren Ansatz sieheMichel Wieviorka,La France raciste, Paris, Le Seuil, 1992.

Gilles Lajoie, "La ségrégation des populations urbaines de 1982 - 1990", in:Denise PumainundMarie-Flore Mattei,Données urbaines, Paris, Anthropos, 1998.

Dieser Prozeß vollzieht sich oftmals außerhalb jeglicher direkter Äußerung von Rassismus oder Ablehnung. Die Entwicklung der Pariser "Szeneviertel", wie La Bastille oder die Rue Oberkampf, beruhte zum Beispiel auf dem Zuzug "kultureller Neuerer". Geschäfte, Bars und Nachtlokale wurden eröffnet, die wiederum die Mittelschicht anzogen. In einer weiteren Stufe werden diese Orte für die Leute aus den Vorstädten, das heißt für die Angehörigen der Unterschicht, als Vergnügungsviertel attraktiv. Nun ziehen die "Neuerer" in ein anderes Viertel weiter. Der Bezirk gilt symbolisch als überholt, er wird "hinterwäldlerisch".

Äußerung eines jungen, in Frankreich geborenen und in der Pariser Vorstadt lebenden Mädchens algerischer Herkunft. Zitiert vonFarid Benbekaï, "De l'autre côté du miroir. Entretiens avec quelques jeunes de nos grands ensembles", in:Recherches, la revue du MAUSS, no 14, 2. Semester 1999

Aussagen von Schülern in der Pariser Vorstadt. Zitiert beiFarid Benbekaï, op. cit.

Diesen Ansatz findet man z. B. beiRobert Castel, der die Désaffiliation zu einer zeitgenössischen Version von Durkheims Anomie macht, oder beiPierre Bourdieu, der mit Worten aus der Anomieanalyse Mertons das Elend sozialer Positionen erklärt. Vgl.Robert Castel,Les métamorphoses de la question sociale, Paris, Fayard, 1995 (deutsch 1997) undPierre Bourdieu(Hrsg.),La misée du monde, Paris, Le Seuil, 1992 (deutsch 2001).

Mary Douglas,De la souillure. Essais sur les notions de pollution et de tabous, Paris, Maspéro, 1971

Farid Benbekaï, op. cit.

Pierre-André Taguieff,Le racisme, Paris, Flammarion, 1997.

Agnès Villechaise, "La banlieue sans qualité. Absence d'identité collective dans les grands ensembles",Revue Fançaise de Sociologie, XXXVIII, 1997.Cyprien Avenel, "La notion d'underclass, l'épreuve de fait",Sociologie du Travail, no2, 1997.

Zitiert bei Agnès Villechaise, op. cit.

Der FilmLa HainevonMatthieu Kassowitz(in der deutschen Version ebenfalls unter dem Titel Haß) hebt diese Dimension des Lebens in einer Vorstadtsiedlung gut hervor.

David Riesman,La foule solitaire, Paris, Arthaud, 1964 (1952).

Fjodor Dostojewski,Les carnets du sous-sol, Paris, Actes-Sud, 1992 (1864). Siehe dessen Analyse vonMarshall Berman,All That Is Solid Melts Into Air, New York, Simon and Schuster, 1982.

Hier kann man zum Beispiel auf die Aussagen vonJean Pierre Chevènement(Libérationvom 27.10.1997) zurückgreifen sowie auf verschiedene Erklärungen des Bildungsministeriums bezüglich der Notwendigkeit der "Wiederherstellung" der staatsbürgerlichen Bildung und der republikanischen Werte.

Pierre Bourdieu,Méditations pascaliennes, Paris, Le Seuil, 1997, S. 98.

Ein Beispiel dieser ideologischen ministeriellen Rhetorik, die den Sinn des Politischen definiert und in der die Arroganz mit der Unkenntnis über die gesellschaftliche Realität wetteifert, findet sich beiAndré-Clément Decouflé, "L'intégration: quelques idée imples",Revue Française des Affaires Sociales, April 1997.

Frantz Fanon,Peau noire, masques blancs, Paris, Le Seuil, 1952. Von Beginn an war die Republik stets so integrierend wie kolonisierend.

Published 21 June 2001
Original in French
Translated by Nikola Tietze, Petra Kassler

Contributed by Mittelweg 36 © Mittelweg 36

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