Annäherungen an Budapest

Briefe an Freunde und Freundinnen in Deutschland und den USA

Ankunft in Budapest (16. Januar, 2004)

Seit einer Woche unterrichte ich nun an der Central European University in Budapest. Der Anfang war schwer, was ja eigentlich nicht verwunderlich ist. Die Sprache ist nicht im entferntesten zugänglich für mich, und wenn man nicht einmal in der Lage ist, im Supermarkt Salz zu kaufen, weil Salz nicht als solches erkannbar ist und man jemanden ansprechen und bitten muß, das Salz aus dem Regal zu holen, so kommt man sich schon ein bißchen blöd vor. Kein Wort verstehe ich, was die Leute so reden. Keiner hat darauf gewartet, daß ich nun gerade hier auftauche. Alle sind ja irgendwie in irgendwelche sozialen Netze eingebaut, nur ich schwirre haltlos durch die sozialen Gefüge. Die schöne Sitte der Amerikaner, new faculty irgendwie einzuführen, ist hier nicht verbreitet. In Deutschland ja leider auch nicht… Aus Verzweiflung flirte ich schon mit dem doorman . Meine Wohnung hatte in den ersten Tagen keinen Fernseher, und auch jetzt, wo ich wenigstens einen Fernseher erstanden habe, gibt es in den mir zugänglichen Sprachen nur CNN (selbst Selbstmordattentate nehmen sich aus Atlanta gesehen, wie Unterhaltung aus!), TV 5 und, man höre und staune, ich kann hier den deutschen Kultursender Pro Sieben empfangen. Das wollte man doch schon immer mal haben. Jedenfalls kann ich jetzt endlich mal die Simpsons in Ruhe ansehen. Tja. Jetzt gilt es erfinderisch zu sein und sich ein Leben aufzubauen, in dem man abends weder Kulturzeit, noch, in schöner Regelmäßigkeit, am Sonntagabend Tatort sehen kann. Dabei merkt man, daß man durchaus die eine oder andere liebgewordene Sitte entwickelt hat und daß sie einem in irgendwelcher Form auch Stabilität gibt. Unser Tun besteht halt aus kleinen Dingen, und eine drastische Veränderung des Rahmens empfinden wir offenbar als destabilisierend. Da hat es in den ersten Tagen auch nicht direkt geholfen, daß ich mir gesagt habe: Immerhin bin ich nicht in einer Kriegszone, sondern leide ja doch auf sehr hohem Niveau. Überhaupt ist mir natürlich bewußt, sie sehr ich mich wie eine Westlerin fühle und mich vermutlich auch mehr oder weniger so aufführe.

Inzwischen haben auch die Lehrveranstaltungen angefangen. Die Studentinnen und Studenten sind hochmotiviert und sind allgemein ein Lichtblick. Sie sprechen sehr gut Englisch, häufig besser als die faculty , was mir durchaus auch ein Problem zu sein scheint. Ich bin noch dabei, mir eine Vorstellung von den Studierenden zu machen, denn ihr Hintergrund ist natürlich sehr unterschiedlich. (Unterschiede, die ich nicht kenne und noch nicht begreife.) Sie werden hier in zehn Monaten durch ein MA-Programm gescheucht, und wenn man sich nur ein bißchen verständnisvoll zeigt, daß sie vielleicht überfordert und überarbeitet sein könnten, so öffnen sich die Schleusen. Meine beiden Seminare sind sehr gut besucht, was einerseits sehr schön, andererseits natürlich mit viel Arbeit verbunden ist. Das Unterrichten macht Spaß, na, sonst wäre ich ja auch nicht hier.

Budapest will grow on me, or so I hope .

Eine unzugängliche Sprache (25. Januar, 2004)

Ab und zu klingen aus meinem kleinen Radio französische Worte und Satzfetzen an mein Ohr, und dann erinnere ich mich daran, daß ich irgendwann mal irgendwo gelebt habe, wo ich tatsächlich die Sprachen, die so gesprochen werden, verstand… Ja, die Sprache hat es in sich. Am meisten beeindruckt mich, daß “kettö” “zwei” heißt. Da ist “harom”, was “drei” heißt, mich aber eigentlich an Harem erinnert, ja auch nicht weiter erstaunlich. An den Ein- und Ausgängen steht manchmal “pull” and “push”, zumeist jedoch “kölni” und “hosni”. Wenn man nicht genau weiß, oder vergessen hat, was das eine oder das andere ist, rennt man halt gegen die Tür. “Etterem” ist “Restaurant”. Das lernt man ja schnell, schon, weil man ab und zu was essen muß. Ich hoffe, daß ich nie die Polizei rufen muß, denn die heißt nicht etwa “polizia” oder so was, sondern “rendörség”. Auch hoffe ich, daß ich mich selten donnerstags verabrede, denn das heißt czütörtök, und ich finde es einfach schwer auszusprechen. Dates also lieber am Montag (hétfö) oder am Freitag (pének) oder Samstag (szombat), was ja für solcherlei Aktivitäten sowieso die favorisierten Tage sind. Ich gehe jeden Tag über den Vörösmartty tér zur CEU. Mein Stadtführer findet es nützlich, wenn man gelegentlich fragen kann, ob ein Geschäft, Restaurant (Etterem!) auch Kreditkarten akzeptiert. Dem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen. Nur heißt das dann: “Hitelkártyát is eifogardnak?” Und aus irgendeinem Grunde will mir das noch immer nicht so ganz flüssig über die Lippen kommen und folglich trage ich lieber genügend Bargeld bei mir. Es wäre auch außerordentlich nützlich zu lernen einigermaßen flüssig zu sagen: “Megmutantná a têrképan, hogy hol vagyok?” (“Können Sie mir auf der Karte zeigen, wo ich bin?”). Zum Glück bin ich bislang noch immer überall dort angekommen, wo ich tatsächlich hin wollte. Wenn ich es jetzt noch schaffe, meine Telephonrechnung, die ich als solche erst mal gar nicht erkannt habe und die mir ein Buch mit sieben Siegeln ist, zu bezahlen, bevor mir das Telephon und damit mein Zugang zur Welt, abgestellt wird, dann… nun ja, schwindet die Sehnsucht danach, eigentlich vor meinem Kamin in Berlin sitzen zu wollen, vielleicht so allmählich.

Schon zweimal war ich im Széchenyi Bad, wo ich in dekadenter Atmosphäre, einmal im Regen, einmal bei Minus-Graden im Freien meine laps geschwommen bin (das Bad verfügt über wunderbare beheizte Außenbecken). Das Széchenyi liegt gleich hinter dem Hösök tére, dem Heldenplatz. Ja, hier gibt es noch Helden. Sie sind in einem beachtlichen Rondell zu besichtigen. Nix da mit Dekonstruktion von Denkmälern, oder so. Die Helden reiten hoch zu Roß für Ungarn.

Wenn einem das Gewohnte abhanden kommt, muß man die Leerstellen auffüllen – eine zwar schwierige, aber in vielerlei Hinsicht auch nützliche Herausforderung. In unseren postmodernen Zeiten kann man mit solcherlei Herausforderungen ja gar nicht genug Erfahrung sammeln. Man muß Dinge anders machen, als man es gewohnt ist. Plötzlich hört man klassische Musik, anstatt ins Kino zu gehen oder fernzusehen. Man liest (oder fängt an Rundbriefe, Stücke von Ego-Historie, Tagebuch und sonstiges zu schreiben oder gar imaginäre Liebesbeziehungen zu verfolgen), anstatt das zu tun, was man ansonsten für zwingend und unvermeidlich hält: arbeiten, am Schreibtisch sitzen, wenn das nicht mehr geht, Wohnung aufräumen, mit Freunden telephonieren, vorm Kamin sitzen, Kulturzeit sehen, den Tatort nicht zu vergessen, (jene völlig redundante Tätigkeit, die aber hohen Entspannungswert hat) und anderes, von dem man fälschlicherweise annimmt, daß es zu ihm keinerlei Alternativen gibt.

Schwer ist es nach wie vor zu verkraften, daß sich mir die Welt nur durch die drei bereits genannten Fernsehsender CNN, ProSieben und TV5 erschließt. CNN: Deutschland ist selten “on”. Unser Leiden auf hohem Niveau interessiert die Welt nicht so besonders. Das wäre ja noch zu verkraften. Aber: die amerikanische Selbstgerechtigkeit gegenüber den Weltregionen, in denen sich die USA gerade engagieren, im CNN-O-Ton aufzunehmen und keine Alternative dazu zu haben, ist schon hart. ProSieben: Habt Ihr schon mal Nachrichten auf ProSieben um 20 Uhr gehört? Ich sage Euch: Es lohnt sich. Die Welt stellt sich einem plötzlich signifikant anders dar, und aus der Differenz zum Gewohnten (ARD, ZDF) kann man veritable Kulturtheorien entwickeln. Häufig höre ich mir den ästhetisch schönen Fluß des Französischen auf TV5 an in der Hoffnung, daß meine Synapsen in der vorgesehenen Weise funktionieren und die Leerstellen meines Verständnisses sich mehr und mehr auffüllen. C’est ca. That is my connection to the world . Und als ein news addict leide ich. Moral von der Geschicht: Man gewinnt im Kulturschock einen völlig anderen Blick auf die Welt, auch wenn man selber das Gefühl hat, daß dieser Blick eher dem einer Kellerassel gleicht, weil er so begrenzt ist. Um nichts in der Welt jedoch möchte ich diese Erfahrung missen, und ich werde sie immer wieder suchen, auch wenn es, wie jetzt mal gerade, Heulen und Zähneklappern bedeutet. In this sense: Budapest is growing on me. Very slowly, but it is growing.

In dem Maße, in dem die Arbeit die Tage füllt, wird die Leere des Anfangs verdrängt. Am meisten fasziniert mich die Intelligenz und das Interesse der Studierenden an der CEU. Es sind alles erwachsene Menschen, die bereits im Beruf gestanden haben. Da muß man sich schon ein bißchen anstrengen und was bieten. Wenn ich, was das Engagement der Studierenden angeht, an meine Studenten in Hannover denke… Diese Studenten und Studentinnen wollen es wirklich wissen. Jedenfalls waren pünktlich zum gesetzten Abgabetermin letzten Sonntag abend alle 25 writing assignments in meiner inbox . Wenn ich mir so anschaue, was diese jungen Leute hier leisten, dann weiß ich, daß ich es jedenfalls nicht könnte, mir die notwendigen credits in einem Jahr zu erwerben und dann am Ende eine MA-thesis zu schreiben. Die Motivation ist unglaublich hoch, und das zieht einen einfach in seinen Bann.

Leiden im allgemeinen und im besonderen (8. Februar, 2004)

Der Direktor meines Instituts ließ mich zum Abschied im Dezember wissen, daß die Ungarn durch die Jahrhunderte konstant die höchste Selbstmordrate in der Welt (oder in Europa, das weiß ich nicht mehr so genau), haben. Das war mir bislang unbekannt. Mit diesem Wissen eines ausgewiesenen Südosteuropa-Historikers gerüstet, begab ich mich dann auf meine Reise nach eastern central Europe . Manches hier ist ja nun schlicht nur eine Steigerung von Mitteleuropa, sprich Deutschland. So zum Beispiel die Leidenskonkurrenz, jene unsägliche Sitte, sich in unverbindlichen Alltags-Gesprächen als jemand zu outen, dem das Schicksal besonders hart mitgespielt hat. Je schlechter es einem geht und je eloquenter man diesen Zustand zum Ausdruck zu bringen weiß, auf desto mehr Mitgefühl glaubt man bei seinen Mitmenschen hoffen zu dürfen. Zumindest kann man es ja mal mit dieser Art der negativen Aufmerksamkeits-Erregung versuchen…. Mein amerikanisches Selbst durchschaut solche Mechanismen inzwischen natürlich gnadenlos und bleibt unbeeindruckt. Nun erlebe ich, daß die Ungarn die Deutschen bei diesem Tun des Sich-Elend-Fühlens, bzw. Das-Eigene-Elend-Zum Ausdruck-Bringens noch bei weitem übertreffen… O.k., da ich Deutsche bin und im Moment in Ungarn lebe, geht es mir auch schlecht. Wie könnte es anders sein?

Jedenfalls mußte ich mir überraschend eine neue Wohnung suchen. Ich bin also tapfer bei Regen und Schnee durch Budapest gestapft und habe mir verschiedene möblierte Quartiere angeschaut. Dieses habe ich nun geschafft, und die Eindrücke der neuen Umgebung müssen schleunigst festgehalten werden, weil sie sonst verblassen. Ich habe eine kleine, aber gemütliche Wohnung am Fuße der Elisabeth-Brücke auf der Pester Seite. Die Wohnung mit schönen antiken Möbeln bestückt wird mir in der verbleibenden Zeit sicher ans Herz wachsen. Aber erst einmal muß ich mich nun schon wieder an eine neue Umgebung gewöhnen. Das ist einfach schwer für jemanden, der wie ich, wesentliche Teile seiner lebensweltlichen Orientierung aus der Stabilität von Orten bezieht. Gerade für transatlantic und sonstige travellers ist die Stabilität der jeweiligen Orte wichtig. Hier ist also keineswegs ein Widerspruch begraben, falls jemand lächeln sollte ob solcher tiefgründiger Beobachtungen einer, die viel umherzieht. Also zurück zur neuen Wohnung und den psychischen Höchstleistungen, die mir das Umziehen abverlangt. Jedenfalls schließe ich die Haustür auf und versuche mit möglichst geschlossenen Augen zum Aufzug zu gehen, denn was man dort so sieht im Hausflur und bis man schließlich seine Wohnungstür hinter sich zugeschlossen hat, ist unbeschreiblich. Ich will es mal so ausdrücken: Wenn ich morgen oder übermorgen die Haustür aufschließen würde und sähe, daß sich einige oder auch sämtliche Hausbewohner im Hausflur erhängt hätten, würde ich das für eine durchaus angemessene Reaktion halten und wäre nicht im mindesten erstaunt. Mit anderen Worten: Ich muß die ein bis zwei Minuten, die es dauert, bis ich meine Wohnungstür hinter mir zugeschlossen habe, jedesmal mit einem massiven depressiven Schub kämpfen. Nichts lindert den Schmerz über so viel Heruntergekommenheit, Vernachläßigung, Dunkelheit, Düsterkeit. Aber vermutlich werde ich mich auch daran in kürzester Zeit gewöhnt haben und lächelnd durch alles das hindurchschreiten (und, wie die anderen Mitbewohner auch, am Leben bleiben). Da ich in den letzten beiden Wochen eine Reihe von Wohnungen notgedrungen habe anschauen müssen, habe ich mehr solcher Hausflure, Treppenhäuser und Innenhöfe gesehen. Ich weiß nicht, ob man alles damit erklären kann, daß die Menschen hier halt ärmer sind als bei uns, wo es ja – ich denke an unser “Gartenhaus” in meiner Berliner Wohnung – auch nicht direkt zum Besten steht mit dem Putz der Wände, dem Zustand der Fenster und den verrostenden Fahrrädern im Innenhof.

Wo ich schon beim Elend bin. Die Obdachlosigkeit ist hier ein Alltagsphänomen. Die Menschen schlafen in Hauseingängen und Unterführungen. 50 000 Obdachlose soll es in Budapest geben. Wie mag es da erst in Bukarest aussehen? Oder in noch ärmeren Regionen weiter ostwärts? Richtig gewöhnen kann man sich an so was nicht. Möchte man ja auch nicht, und meine eigene innere Unbehaustheit der letzten Wochen ist ja ein Witz gegen das, was man auf den Straßen und in den Unterführungen sieht. Eins jedenfalls lernt man aus all dem: Nichts, aber auch gar nichts mehr im Leben als selbstverständlich anzusehen, oder zu glauben, man hätte auf irgendetwas einen Anspruch. Ein Blick in die Geschichte lehrt einen das ja auch, aber irgendwie sind die Lehren der Anschauung sehr viel wirksamer, weil eindringlicher.

In der gleichen Zeit, in der ich das alles erlebe, erlebe ich auch den Magnetismus der CEU, mit einem unglaublich intensiven intellektuellen Leben, mit Studenten, mit denen ich in der kommenden Woche eine Extra-Sitzung abhalten werde, weil wir all die Probleme, die sich aus einem Aufsatz über die fünfziger Jahre in Deutschland ergeben haben, in ihrer möglichen Übertragung auf postkommunistische Gesellschaften nicht haben ausloten können. Die Studentinnen und Studenten wollen über die Situation in ihren Ländern sprechen, und sie sind keinesfalls resigniert, sondern sie wollen bei der Gestaltung der Zukunft ihrer Länder und Europas mitwirken. Bei so viel Enthusiasmus und Interesse der Studentinnen und Studenten macht der Beruf Freude und man weiß, warum man tut, was man tut, auch wenn es einem oft durchaus auch schwer fällt.

Service with a Smile (22. Februar, 2004)

Wenn man an die amerikanische Dienstleistungsgesellschaft gewöhnt ist, so hält so manches Einkaufserlebnis in Deutschland gewisse Frustrationen für einen bereit. Das ist aber gar nichts gegen das, was einen in der post-kommunistischen Gesellschaft Ungarns gelegentlich erwartet.

Gestern ging ich ins Széchenyi Fürdö (fürdö ist Schwimmbad, hört man doch gleich, oder?), jenes dekadente klassizistische Freibad in königsgelb mit muskulösen Männerstatuen, die am Rande des Schwimmbades in bemerkenswerten Verrenkungen irgendwelche Fische oder Meerjungfrauen umarmen. Nachdem ich meine Eintrittskarte gelöst hatte, wollte ich gerne in die besseren Kabinen (geräumig und in Mahagoni gehalten), eine Möglichkeit, die sich dem unbedarften Besucher zumindest auf den ersten Blick nicht erschließt. Ich fand nicht, daß ich Ungebührliches vorhatte, denn auch andere Menschen gingen dort ein und aus. Ich, als inzwischen routinierte Besucherin des Széchenyi Fürdö, die aber bisher immer mit den äußert dürftigen locker rooms im unteren Stockwerk vorlieb genommen hatte, fange nun jedoch an, mir Geheimwissen zu erschließen und bestand darauf, daß ich in diese besseren Kabinen eingelassen würde. Ein solches Ansinnen nun war jedoch nicht vorgesehen. Zunächst wurde ich zurückgeschickt, fünf Personen umgaben mich, um mir die Dramatik dieser Entscheidung vor Augen zu führen. Ich ging zurück zur Kasse, um meine extra 300 Forint (ca. 1 Euro) zu entrichten, nur um von einer ziemlich unwirschen Kassiererin an die gegenüberliegende Kasse verwiesen zu werden. Die dortige Kassiererin schickte mich wieder zurück und die ursprüngliche Kassiererin fing an mich zu beschimpfen. Auf Ungarisch. Eine hilfreiche Mitbaden-Gehen-Wollende fragte mich freundlich und in perfektem Englisch, ob sie helfen könne, eine Hilfe, die ich dankbar annahm. Dann setzte sie sich mit der Kassiererin auseinander, die dann schließlich eine weitere Quittung über 300 Forint rausrückte. Die Angelegenheit wurde mithin zu meiner Zufriedenheit geklärt. Ich bedankte mich bei meiner Retterin, die zum Abschied sagte: ” This is what we call service with a smile. ” Für dieses Einverständnis einer allgemeineren Weltsicht war ich außerordentlich dankbar. Ich hatte erreicht, was ich wollte und konnte mich in besagter Mahagoni-Kabine, statt in dem schmutzigen, rostigen locker room umziehen.

Das zu erhalten, was man möchte, kostet gelegentlich nicht unerhebliche Anstrengungen, und ich werde den Eindruck nicht los, daß der Postkommunismus hier eine gewisse Rolle spielt. Oder eine neue Form von Ausländerfeindlichkeit. Das kann ich nicht beurteilen. Wenn es jedoch die Dannemann Zigarillos, die ich vor drei Tagen in einem kleinen Lädchen gekauft habe, heute partout nicht gibt, dann scheint das doch irgendwie unwahrscheinlich zu sein. Da auch ich hartnäckig sein kann, kommen die gewünschten Dannemanns dann irgendwie doch noch zum Vorschein. Na bitte, geht doch. Warum nicht gleich? Die beleidigte Miene der Verkäuferin ist dann meine Strafe. So be it .

Ein anderes Beispiel: Heute ging ich in einen Buchladen und fragte nach einem bestimmten Buch. Na, was erwarten wir da? Irgendwie doch, daß der Verkäufer zum Computer schreitet und nachguckt, ob das gewünschte Buch da ist, oder? Nicht so hierzulande. Eine vage Handbewegung: The German books are back there. Ich: Could you please look up, whether you have that title, I do not want to look at random. Antwort: Eine weitere vage Geste in Richtung undefinierter Bücherregale. Der Völkerverständigung dient es dann sicherlich auch nicht, wenn ich mich mit dem Satz verabschiede: Thank you for your excellent service. Aber irgendwie war mir nach kleinlicher Rache zumute. ? Überhaupt das kleinliche, rachsüchtige (auch muffige und depressive) Selbst wird hier genährt, was ich keineswegs schön, aber manchmal fast unvermeidlich finde.

Semesterende (30. März, 2004)

Das Semester ist vorbei und tatsächlich: Budapest starts to grow on me . Und das obwohl alle paar Tage irgendein Individuum gegen unsere Haustür pinkelt, was dann, da die Haustür verrostet und überhaupt in nicht besonders gutem Zustand ist, dazu führt, daß sich im Hausflur eine ansehnliche Pfütze bildet. Gleichwohl werden die Lebensumstände irgendwie alles in allem doch erträglicher. Die Sonne scheint, es wird wärmer, die Menschen sitzen in Straßencafés, und inzwischen kenne ich auch schon ein paar Leute. Manchmal ist das Kennenlernen ein bißchen mühsam. So war ich gestern abend in der Akademie der Wissenschaften, wo es ein Treffen der verschiedenen akademischen Institutionen in Budapest gab – ein Treffen, das dem gegenseitigen Kennenlernen dienen soll. Das Kennenlernen mit einer jüngeren Kollegin spielte sich folgendermaßen ab:

Ich: You are XY. I am not sure, have we ever met? I am Hanna Schissler.
Sie: I know who you are.
Ich: Well, I just thought it would be nice, if we could make a connection.
Sie: Yes, I have seen you in meetings.
Ich: Well, then. Now we at least know who we are.

Was sollte ich noch weiter sagen? Die social graces sind dramatisch unterentwickelt, aber vielleicht verstehe ich ja irgendwann die kulturellen Codes dieses Landes. Aber diese Dame hat einen amerikanischen Ph.D. und müßte eigentlich ein bißchen gelernt haben, was in internationalen akademischen settings so üblich, angebracht oder zumindest wünschenswert ist. Die männlichen Kollegen muffeln nur so vor sich hin und vermeiden jeglichen Blickkontakt, damit sie nur ja nicht angesprochen werden. So halten denn, bei dieser wunderbaren Gelegenheit sich kennenzulernen, die Ungarn sich an ihren Gläsern fest. Ich notgedrungen irgendwann auch.

In meinen Seminaren, die nun zu Ende sind und mir einen beachtlichen Stoß zu korrigierender Hausarbeiten hinterlassen haben, hatte ich höchst interessante Diskussionen über Ost-West-Wahrnehmungen vor und nach 1989. Da steht man dann als Westler durchaus auf dem Prüfstand. Zum Glück konnte ich den Studierenden doch vermitteln, warum sich unsere westliche Weltsicht anders entwickelt hat und warum viele in Deutschland zumindest bereit waren, die Teilung Deutschlands und Europas als Konsequenz des Zweiten Weltkrieges hinzunehmen. Daß dies eine Haltung der progressiven Linken war, die großzügig übersah, daß diese Art der Vergangenheits-Aufarbeitung irgendwie auf Kosten der Menschen jenseits des eisernen Vorhangs ging, ist natürlich, wenn man aus Osteuropa kommt, eine massive Kränkung. Heute, fünfzehn Jahre nach dem annus mirabilis ist es einem irgendwie doch recht peinlich, daß man seine eigene politische Progressivität und das, was man für seine moralische Integrität gehalten hat, so schnöde auf Kosten der Menschen in Osteuropa geformt hat.

Die Enttäuschung, daß “der Westen” Osteuropa lange Zeit vergessen hat, nicht “rettet”, und die Westeuropäer die Osteuropäer nur widerstrebend und mit großen Vorbehalten in die EU aufnehmen, und daß viele Westler kalt, arrogant und besserwisserisch sind, ist groß. Man hatte so auf uns gesetzt! Und was ist dabei herausgekommen? Warum die deutsche Wiedervereinigung nicht ein einziges nationales Glück gewesen ist, und warum wir Westdeutschen nicht 40 Jahre lang auf diesen Moment hin gefiebert haben, bedurfte ausführlicher Erklärungen. Alles in allem, stehen wir Westler jedenfalls doch als ziemlich gemein, gefühllos und selbstbezogen da. Die Erwartungen, die an “den Westen” gestellt wurden und werden, sind ziemlich überzogen, und der Westen ist eine riesige Projektionsfläche für ein imaginiertes besseres Leben. Daraus erklärt sich dann auch, warum uns in osteuropäischen Ländern so häufig die Grimasse des Westens entgegen blickt. Für Westler bedeutet das eine anstrengende Wahrnehmung im Zerrspiegel einer doppelten Entfremdung: Man ist im Osten, und gleichzeitig ist man mit einem Bild vom Westen konfrontiert, in dem man sich kaum wiedererkennen kann. Jedenfalls war die Sitzung, in der wir die Fragen wechselseitiger Wahrnehmungen und Projektionen diskutiert haben, höchst lebhaft. Es ging zumeist um die Projektionen auf den Westen, wo ich dann Rede und Antwort zu stehen hatte. Meine eigenen Projektionen habe ich tunlichst zurückgehalten. Unsere Diskussionen waren jedenfalls ergiebig und auch nicht von jenem penetranten und mir unerträglichen “sense of entitlement” geprägt, den viele, von der NGO-Kultur korrumpierte Osteuropäer sich inzwischen angewöhnt haben und auf den ich in genügend anderen Zusammenhängen immer wieder getroffen bin und vermutlich auch weiterhin treffen werde. Ein wirklich gutes und offenes Gespräch mit Menschen zu führen, die ja nicht zu Unrecht ein Gefühl des Zu-Kurz-Gekommen-Seins haben, ist nicht einfach, und es führt bei mir durchaus zum Überdenken so manches dessen, was uns im Westen selbstverständlich zu sein scheint.

Ein anderes heißes Thema in meinem Seminar war: Wie erinnern wir schwierige Geschichten, Diktatur und Völkermord? Wann erinnern wir? Welche Funktion erfüllt das Erinnern bzw. das Nicht-Erinnern oder Verdrängen für die Gegenwart? Und zu diesen Problem-Komplexen hat die deutsche Geschichte ja einiges zu bieten. Mit anderen Worten: Langweilig war mir während dieses Semesters nicht. Die Probleme, die wir in meinen Seminaren erörtert haben, sind wichtig, und die Studentinnen und Studenten waren in einer Weise engagiert, die ich bisher noch an keinem Ort, an dem ich unterrichtet habe, also weder in den USA noch in Deutschland oder in Österreich, erlebt habe. Dieses Semester war alles andere als eine pflichtbewußt absolvierte Routine. Es endete mit einem öffentlichen autobiographischen Vortrag des Rektors, Yehuda Elkana, zu dem ich am Abschluß meines Seminars eingeladen hatte. Yehuda Elkana ist Israeli, Kind ungarischer Juden, im Alter von 10 Jahren in Auschwitz gewesen, das er durch eine Kette von Zufällen überlebt hat. Er ist ein bekannter Wissenschaftshistoriker, ständiges Mitglied des Wissenschaftskollegs in Berlin. Das Auditorium war brechend voll, und der Vortrag war phantastisch. Seither bekomme ich viele Komplimente für mein Seminar, manchmal auch mit eigenartigen Wendungen. So kam eine Kollegin aus Serbien (eine aktive Feministin und der gender-Gerechtigkeit vehement zugetan) zu mir ins Zimmer und verkündete, dies sei alles wahnsinnig beeindruckend, aber sie habe noch zwei Fragen: Wie wäre Yehudas Leben verlaufen, wenn er eine Frau gewesen wäre, und wie, wenn er 50 Jahre später geboren worden wäre? Nun hat die Geschichtswissenschaft ja durchaus eine Vorliebe für konterfaktische Fragen, aber dazu fiel mir dann nur ein: vermutlich ganz anders. Dies war nun nicht gerade die Frage, die sich mir aufdrängen würde. Aber wir werden uns im neuen erweiterten Europa noch an vieles gewöhnen müssen: an andere Fragen ebenso wie an andere Wertigkeiten. Es hilft da wenig, wenn wir unsere elaborierte Erinnerungskultur als Totschläger benutzen. Aber das ist ein anderes Thema.

Abschied (10. Juni, 2004)

Ungarn hat Deutschland im Fußball besiegt. Freudestrahlend kam mir gestern einer meiner Studenten mit der frohen Botschaft (die mir natürlich entgangen war) entgegen. Später sah ich ihn die Luft kickend durch die Halle laufen. Ausgleich für das Wunder von Bern! Welcher Triumph.

Die Sonne scheint, und in zwei Wochen fahre ich nach Hause. Da kommt nun allmählich schon so etwas wie Abschiedsschmerz auf. Die Perspektive der Kellerassel, der nur die rudimentärsten Wahrnehmungen möglich sind, habe ich hinter mir gelassen. Allerdings ist köszönöm noch immer das einzige Wort, das mir einigermaßen flüssig über die Lippen kommt. Und aus irgendeinem Grund fetekebors örölt . Das hat mit dem Besuch meiner Schwester zu tun, die selbiges Gewürz auf meinem Küchentisch entdeckte, völlig fasziniert war und meinte: Ein Land, in dem banaler schwarzer Pfeffer fetekebors örölt heißt, muß doch voll von interessanten und faszinierenden Menschen sein. Eine neu gewonnene Freundin, die routiniert wenigstens “Guten Tag” ( Jo napot ), “Auf Wiedersehen” und ähnliche Sentenzen von sich gibt und sogar zählen kann ( öt, hat, het – fünf, sechs, sieben!), und der auch die Straßennamen (z.B. Szentháromsák utca) flüssig über die Lippen kommen, meinte neulich: “Du kannst aber wirklich auch gar nichts.” Und damit hat sie leider recht.

Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, daß Zebrastreifen nichts bedeuten und höchstens zur Dezimierung verwöhnter, an Regelwerke glaubende westliche Besucher erfunden wurden, auch daß man in Restaurants die Rechnung besser darauf hin überprüfen sollte, ob sich nicht auf wundersame Weise nicht bestellte Gerichte und Getränke eingeschlichen haben (bei diesen vielen Forints kommt es doch auf ein paar mehr auch nicht an!) Die Touristen sind eingeflogen, man spricht englisch und deutsch auf dem Vörösmarty Tér (und auch auf anderen térs und utcas und uts – Gäßchen und Straßen), man fühlt sich fast zuhause, oder doch zumindest wie in Rom oder Paris. Endlich kann ich nachvollziehen, was meine New Yorker Freundin Marion sagte: Budapest ist nach Paris meine Lieblingsstadt in Europa (Im düsteren Januar habe ich ernsthaft an ihrem Urteilsvermögen gezweifelt, jetzt verstehe ich und teile sogar ihre Faszination.) Routiniert gebe ich Budapest-Reisenden touristische Hinweise: Ja das Parlament ist dort vorne, zum Géllert Bad geht man über die dritte Brücke, und nein, den Ansagen in der Straßenbahn ist nicht unbedingt zu trauen, sie sind häufig falsch, entweder läuft das Band in umgekehrter Richtung oder sonstige Konfusion hat sich der Ansage bemächtigt. Ein Busfahrer, dem ich neulich bedeutete, daß sämtliche drei Fahrkarten-Entwerter im Bus irgendwie meinen Fahrschein nicht abstempeln wollten, sagte mir lächelnd auf deutsch (obwohl ich ihn auf englisch angesprochen hatte): “Das tut mir aber leid!” und zuckte die Achseln. Damit hatte es dann sein Bewenden.

Vor kurzem bin ich durch Transylvanien nach Bucharest gefahren. Was wissen wir schon von Transylvanien, das bei uns Siebenbürgen heißt? Wir denken an Dracula, und das ist bei weitem nicht alles, was es über Transylvanien zu wissen gilt. Als ich durch dieses wunderschöne, mich an die Schweiz erinnernde Land fuhr, bemächtigte sich meiner eine Art ungarischer Nostalgie: Ja, ich kann verstehen, daß die Ungarn den Verlust Transylvaniens durch die Verträge von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg (wo Ungarn insgesamt 2/3 seiner vorherigen Fläche verloren hat) nicht verschmerzen können. Die Geschichte fügt Wunden zu in dieser Region.

In Bucharest habe ich an einer Konferenz teilgenommen. Es gibt durchaus schöne und gepflegte Hotels in Bucharest. Leider gehörte das Hotel, in dem ich untergebracht war, nicht dazu. Ich habe zwei tote Kakerlaken gesehen, was immerhin besser war als lebendige. Das hat mich denn auch nicht mehr weiter erschüttert; obgleich es mich auch nicht gerade erfreut hat. Nachdenklicher hat mich schon gestimmt, die Hotel Prostituierte zu sichten, die geduldig auf Kundschaft wartete. Den männlichen Kollegen wurde auch prompt die obligate “schöne Frau” angeboten.

Auf der Konferenz sah ich mich an einem Tag einer Flut von 19 Vorträgen ausgesetzt. Das fand ich heftig. Den Zweck der Übung habe ich bis jetzt nicht verstanden. Kein Mensch kann 19 Vorträge am Tag aufnehmen. Untersuchungen haben gezeigt, daß Schüler und Schülerinnen vom Lehrervortrag ca. 5% des Gesagten aufnehmen. Bei erwachsenen Zuhörern dürfte das kaum anders sein, jedenfalls bin ich immer froh, wenn ich in etwa den Rahmen des Ganzen und das Hauptargument heraus gehört habe. Diesmal war ich froh, wenn ich noch in etwa mitbekam, über welches osteuropäische Land der Vortragende (Frauen waren eine Rarität) gerade sprach. Ich habe also, zum Schweigen verurteilt, über die geheimen Botschaften dieser mir doch sehr fremden akademischen Kultur nachgedacht. Sich austauschen, nachfragen, auch Kontroversen austragen, sollen die Teilnehmer offenbar nicht.

Ein paar Leute habe ich nun doch letztendlich kennengelernt, und diese kennen ihrerseits wieder Leute, und so wird die Wahrnehmung allmählich komplexer. Manchmal besuche ich das Collegium Budapest. Dieses liegt auf der schönen Seite Budapests, im Burg-Viertel, direkt neben der Matthiaskirche. Wenn ich dort am Ort der Weisheit und des Wohlbefindens bin, werde ich zum Mittagessen eingeladen, wo ich dann mit Biologen, Philosophen, Politologen und vor allem einer neu gewonnenen Freundin, der “artist in residence” der Malerin Cristina Fessler aus Zürich speise. Endlich habe ich jemanden gefunden, mit der ich Ausflüge unternehmen, abends essen gehen und mich austauschen kann. Ich durfte sogar ihren Vortrag am Collegium einleiten, was ich angesichts ihres umfassenden Oevres als eine große Ehre empfand. Die Kollegiaten sind zumeist, wie ich, Ausländer.

Ungarn bleibt eine mir verschlossene Gesellschaft, und das Ressentiment, das ich gelegentlich zu verspüren meine, hat vielleicht damit zu tun, daß ich einer letztlich doch hegemonialen westlichen Institution angehöre. Vielleicht sind die Ungarn (und andere Mittel- und Osteuropäer) einfach der vielen Regime-Wechsel überdrüssig, die ihnen je andere Glaubensbekenntnisse abverlangen, nun halt das Bekenntnis zur offenen Gesellschaft und demokratischen Werten (nicht zu vergessen: der Öffnung gegenüber kapitalistischen Marktstrukturen) und verlegen sich einfach aufs Privatisieren.

Nächste Woche jedenfalls wird der neue Jahrgang von MA-Studenten und -Studentinnen der Central European University bei ihrer graduation in bewährter amerikanischer College-Tradition in Talaren durch Budapest laufen (und ich werde in eben solchem Talar gewandet, wie die anderen Professoren auch, auf dem Podium sitzen). So faszinierend mir diese Universität erscheint, irgendwie kann ich mir doch auch vorstellen, daß die Menschen sie hier als etwas Fremdes und Übergestülptes empfinden (und möglicherweise eben auch Ressentiments hegen gegen diese Westimporte; zumal die Professoren natürlich auch besser bezahlt werden als an den heimischen Universitäten.) Weiß ich eine Lösung? Nein. Die Verschränkungen werden in der globalisierten Welt und besonders im neuen, erweiterten Europa zunehmen. Brücken werden im Kleinen gebaut, aber gebaut werden müssen sie von allen Seiten und nach allen Richtungen hin.

Nun ist Ungarn also Mitglied der EU. Fahnen auf den Brücken tun es kund, und die Festivitäten am 1. Mai sollen grandios gewesen sein. Ich war gerade in Berlin, und so konnte ich nicht sehen, wie Kunstflieger unter den Donau-Brücken durchflogen. Ja: God’s garden is huge, but there are always some people who need to jump the fence . Was die Ungarn über ihre EU-Mitgliedschaft denken, weiß ich nicht wirklich. Die Berichterstattung über Ungarn (und die anderen Beitrittsländer) in deutschen Medien hat jedenfalls deutlich zugenommen.

Gestern habe ich mir noch einmal István Szabós Film “Sunshine” angesehen, jene epische Geschichte einer jüdischen Familie über vier Generationen hinweg vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des Kommunismus. In Budapest gewinnt der Film sehr viel mehr Plastizität, und ich verstehe plötzlich die Explosivität des Satzes, als es um die Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden ging: “Es waren nicht die Deutschen, es waren die Ungarn selber.” Das tut weh. (Nun gut: Die Deutschen haben immerhin den Rahmen bereitgestellt, und die Kollaboration ist in allen von Deutschland besetzten Gebieten ein schmerzhaftes Kapitel. Aber in Ungarn hat man offenbar recht enthusiastisch die sich bietende Gelegenheit beim Schopfe ergriffen.) Die Aufarbeitung des Holocaust ist eines der wichtigsten Themen in dieser Gesellschaft, nicht zuletzt, weil es in Ungarn im Gegensatz zu anderen west-wie osteuropäischen Ländern, einen beträchtlichen Anteil an Juden gibt. Die Bereitschaft zur Aufarbeitung des eigenen, ungarischen Anteils am Holocaust scheint nicht übermäßig ausgeprägt zu sein, aber das kann ich mangels Sprachkenntnissen auch wiederum nicht wirklich beurteilen. Auch wie groß der viel beschworene aktuelle Antisemitismus wirklich ist, erschließt sich mir auch nur über Erzählungen. Viele meinen, er sei nach 1989 wieder salonfähig geworden. In jedem Fall stellt die Aufarbeitung der unterschiedlichen Vergangenheiten mächtige Anforderungen nicht nur an die Historiker, sondern an die gesamte Gesellschaft.

Wenn ich nun ein Résümée ziehen sollte, was bedeutet mir nun mein halbes Jahr Budapest? In diesem letzten halben Jahr habe ich mich fremd und zu Beginn auch oft einsam gefühlt, manchmal auf äußerst schmerzhafte Weise. Aber Fremdheit ist eine universelle Erfahrung – unabhängig vom Ort, an dem wir uns fremd fühlen. Nicht Budapest war schrecklich, sondern die Tatsache, daß ich so allein in Budapest und mir vieles so fremd war. Was Fremdheit uns ermöglicht, ist die Erweiterung unseres Selbst und die Aneignung von einem Stück Welt, das wir bislang noch nicht kannten. Das ist ein Prozeß, der sich langsam entfaltet. Mühsam und stufenweise habe ich eine mir unbekannte Welt und damit Aspekte meines Selbst erschlossen. Es ist, wie einen schwierigen Berg zu ersteigen. Man ächzt und keucht und klagt und flucht, aber zum Schluß steht man doch auf dem Gipfel und hat eine wunderbare Aussicht. Dann weiß man, daß man den nächsten Berg besteigen oder zu diesem erneut zurückkehren kann. Am Sonntag fahre ich mit dem Schiff auf der Donau noch einmal nach Szentendre, ein kleines Künstlerdorf in der Nähe von Budapest, das sich zu Recht bei den Touristen großer Beliebtheit erfreut. Dort gibt es einen Kirchplatz, der mich wie noch nie ein anderer Kirchplatz an meine Kindheit erinnert und der mir sofort, als ich ihn vor ein paar Wochen das erste Mal sah, auf wunderbare Weise vertraut war. Genau so sah die Linde vor meinem Fenster aus, und sie hat auch so gerochen wie in den temps perdus . So schließen sich die Kreise, und wir finden, wenn wir Glück haben, das Vertraute in dem, was uns zunächst fremd erschienen ist. Dann sind wir angekommen.

Published 1 August 2005
Original in German
First published by Magyar Lettre Internationale

Contributed by Magyar Lettre Internationale © Hanna Schissler / Magyar Lettre Internationale / Eurozine

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