Wie Europa mit Europa sprechen könnte

Eine europäische Öffentlichkeit muss von bereits etablierten nationalen Medien getragen werden, meint Carl Henrik Fredriksson, Chefredakteur von Eurozine. Eine solche Entwicklung verlangt allerdings ein Mindestmaß an Offenheit jener Medien, die sowohl das Format als auch den Willen besitzen, ihre publizistische Verantwortung im Licht einer neuen gesellschaftlichen Situation zu definieren.

In einer tragikomischen, aber dennoch ermutigenden Passage in Gustav Freytags Romanwälzer Soll und Haben erzählt ein stolzer, aber unbedeutender Provinzjournalist, was er tagsüber geschrieben hat. Selbstbewusst stellt er fest, dass ihm wieder einmal ein Artikel gelungen sei, der am nächsten Tag aus den Druckerpressen flattern und den Zaren ordentlich “kratzen” werde.

Wie viele Journalisten oder auch Intellektuelle in den heutigen Provinzen Europas leben eigentlich in der Überzeugung, dass ihre Worte morgen den weit entfernten Machthabern in Brüssel oder Straßburg was zu denken geben, oder – etwas bescheidener – überhaupt irgendjemanden außerhalb des isolierten Kreises ihrer eigenen Landsleute erreichen werden?
Viel zu wenige. Österreichische Denker schreiben für österreichische Leser. Genauso wie die estnischen Intellektuellen für Esten und die schwedischen für die Schweden schreiben. Und was schlimmer ist, sie schreiben noch dazu fast ausschließlich zu österreichischen, estnischen beziehungsweise schwedischen Themen, und dies aus einer begrenzten österreichischen, estnischen und schwedischen Perspektive.

Trotz der im Wesentlichen geglückten Einführung des Euro in vielen Ländern Europas ist es noch immer weit bis zu einer Europäisierung der Identitäten, Lebensstile und Perspektiven – und zu einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit. Gleichzeitig steht und fällt die nachhaltig vertiefte europäische Gemeinschaft mit der Möglichkeit, eben diese Eigenschaften zu entwickeln. Manuel Castells hat dieses Dilemma in einem Artikel über den europäischen Identitätsbau folgendermaßen formuliert:

Die Technik ist neu, die Wirtschaft global, der Staat ein europäisches Netzwerk im Zusammenspiel mit anderen internationalen Akteuren – während die Identität der Menschen eine nationale, in gewissen Fällen sogar eine lokale oder regionale ist. In einer demokratischen Gesellschaft kann eine solche strukturelle, kognitive Dissonanz unhaltbar sein. Auch wenn es im besten Fall möglich wäre, Europa ohne europäische Identität zu integrieren, kann jede größere Krise – in Europa oder in einem seiner Staaten – eine Implosion mit unvorhersehbaren Konsequenzen auslösen.

Ohne gemeinsame Identität kein gemeinsames Europa, und ohne eine paneuropäische Öffentlichkeit keine europäische Identität. Eine Öffentlichkeit, in der transnationale Werte, oder – wem dieses Wort besser gefällt – transnationale Praktiken formuliert, geformt und umgeformt werden und aus der überstaatliche politische Institutionen ihre Legitimität schöpfen können.

Im letzten Jahr konnten wir einen der bislang wichtigsten Versuche, Europas gemeinsame Zukunft auf transnationalem Niveau zu diskutieren, mitverfolgen. Am 31. Mai 2003 veröffentlichten sieben europäische Qualitätszeitungen Artikel namhafter Intellektueller, die alle eine Antwort zu geben versuchten auf die Frage: “Was ist Europa?” In der italienischen La Repubblica schrieb Umberto Eco, in La Stampa Gianni Vattimo, in der Schweizer Neuen Zürcher Zeitung Adolf Muschg, in der Süddeutschen Zeitung Richard Rorty und im spanischen El País Fernando Savater. Der wichtigste und in der Folge am meisten diskutierte Artikel war jener, der auf Deutsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachzulesen war und auf Französisch in La Libération – geschrieben von Jürgen Habermas, der diese “Aktion” initiiert hatte, und unterschrieben von Jacques Derrida. Bereits das Faktum, dass gerade jene zwei europäischen Intellektuellen, die während der vergangenen Jahrzehnte den meisten Einfluss hatten, ganz pragmatisch sämtliche Streitigkeiten und Differenzen in ihren philosophischen Praktiken beiseite geschoben hatten, um in dieser Debatte mit einer Stimme zu sprechen, ist Aufsehen erregend. Dass darüber hinaus ihre Analyse von einer derart politisch aufgeladenen Konkretisierung geprägt war, ist nicht weniger bemerkenswert.

Üblicherweise verlieren sich die Diskussionen darüber, was denn nun eigentlich das Fundament einer europäischen Identität bilden könnte, in einer diffusen kulturellen oder religiösen Prähistorie. Vage Vorstellungen von Demokratie und Freiheit werden noch verschwommener, wenn sie in Ansprachen als europäische Patente gepriesen werden. Für die meisten, die sich daran versuchen, die besonderen Merkmale aufzuzeigen, die den Alten Kontinent definieren und ihn zusammenhalten könnten, scheint diese Aufgabe in einer Art von “Wiederverzauberung” zu bestehen: Ein mythischer oder zumindest mystischer Schleier soll über ein Europa gehängt werden, das zu einem rein ökonomischen Projekt instrumentalisiert und reduziert wurde. Wie leer diese Symbole sind, in denen man sich dann wiederfindet, wird beinahe überdeutlich in den unbestimmten Architekturmotiven der Eurogeldscheine. Wo steckt zum Beispiel die europäische Identität im konturlosen Aquädukt des Fünfeuroscheins? Was hat es für eine emotionale und symbolische Dichte? Welche gemeinsamen Träume kann es tragen?

In diesem Zusammenhang ist Habermas’ und Derridas Artikel ein Wunder an zeitgeschichtlich verankerter Substanz. Mindestens genauso interessant wie die Analyse und die Schlüsse in deren Artikel ist der Ansatz selbst. Das Ganze ist eher ein Ereignis als ein Text. Es handelt sich um eine Intervention, ein performatives Manifest für eben das, was der Text sowohl ist als auch heraufbeschwört: eine Diskussion über Europa in Europa – eine europäische Öffentlichkeit.

Zur Öffentlichkeit im weitesten Sinne müssen natürlich die alten sozialen Bewegungen ebenso wie die neu entstandenen NGOs gerechnet werden, die sich mit derselben atemraubenden Geschwindigkeit vermehren, mit der die etablierten Institutionen ihr Unvermögen zeigen, ihre ursprünglichen Funktionen zu erfüllen. Aber die wichtigsten Spielorte der Öffentlichkeit sind immer noch die Medien: TV, Radio, Zeitungen und Zeitschriften. Sah Habermas in den Demonstrationen gegen den Irakkrieg im letzten Jahr den Startschuss für eine europäische Öffentlichkeit, die die Straße mit einbezieht, so war dieser Aufruf also ein Versuch, einer medialen Entsprechung Leben einzuhauchen. Trotzdem muss man wohl seine Initiative in dieser Hinsicht als missglückt betrachten. Die breite, grenzüberschreitende Diskussion ist ausgeblieben. Stattdessen haben wir einen weiteren Beweis dafür erhalten, wie stark der öffentliche Dialog von nationalen und sprachlichen Grenzen geprägt wird. In Spanien konzentrierte man sich vor allem auf Savaters Einwurf, in Italien auf jenen von Eco beziehungsweise Vattimo. In der deutschsprachigen Presse erschienen die meisten Reaktionen, aber auch hier war man nicht besonders interessiert an dem, was auf Italienisch oder Spanisch publiziert worden war. Außerhalb der Länder, in denen die ursprünglichen Texte gedruckt wurden, war das Engagement noch geringer.

Obwohl sie breit angelegt war, ist die Habermas-Initiative ein sprechender Beleg dafür geworden, wie schwer es ist, in diesem Europa genannten Babylon einen transnationalen Diskussionsraum zu Stande zu bringen, der diese Bezeichnung verdient.

Dass solche Ambitionen teuer werden können, zeigt sich an The European, dem gescheiterten Projekt des Zeitungsmagnaten Robert Maxwell, das 1990 unter dem Motto “Europas erste nationale Zeitung” lanciert wurde. Die höchste Auflage war 180 000 Stück, davon mehr als die Hälfte in Großbritannien. In Schweden – eines jener europäischen Länder, in denen The European die meiste Beachtung fand – erreichte die Auflage nie mehr als 5 000, also nicht mehr als etablierte, aber elitäre Zeitschriften wie Ord&Bild oder Arena haben. Mitte der Neunzigerjahre verwandelte sich die Zeitung unter Andrew Neils Leitung zu einem Wochenmagazin, das ebenso gut “The Anti-European” hätte heißen können. Und dann starb sie, von kaum jemandem betrauert und weit entfernt von der ursprünglichen Vision einer paneuropäischen Nachrichtenzeitung für einen breiten Leserkreis. Die Gesamtverluste für das ein knappes Jahrzehnt währende Abenteuer werden auf ungefähr siebzig Millionen Pfund geschätzt.

Als der zweisprachige, deutsch-französische Qualitätssender Arte zehn Jahre alt wurde, konnte er sich im Glanz der nicht weniger als 1 260 Preise und Auszeichnungen sonnen, die er eingeheimst hat. Das bescheidene Ziel, ein klägliches Prozent Marktanteil zu erreichen, liegt allerdings noch in weiter Ferne. Die stolze Devise von Arte lautet “Europa sieht Fern”, doch die Suche nach wenigstens einem dritten Partner an der Seite Deutschlands und Frankreichs scheint aussichtslos, und nicht einmal in diesen beiden Ländern hat man ein Profil schaffen können, das stark und attraktiv genug ist, um von einer soliden Basis für etwas zu sprechen, das einer europäischen Öffentlichkeit gleicht.

Dass es Politik- und Kulturzeitschriften waren, die die Artikel von Habermas, Derrida & Co schwedischen, türkischen, slowenischen oder, erst kürzlich, polnischen Lesern zugänglich machten, ist wohl kaum ein Zufall. Es sind eben diese Zeitschriften, in denen man dem Ideal einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeit am nächsten kommt. Hier werden politische, philosophische, ästhetische und im weiteren Sinne kulturelle Ideen von Sprache zu Sprache verbreitet, innerhalb und außerhalb transnationaler publizistischer Netzwerke. Die überwiegend französisch gesteuerte Le Monde diplomatique erscheint in beinahe zwanzig verschiedenen Sprachen. Das weniger zentral koordinierte Lettre international ist ein weiteres Beispiel. Im Rahmen des Zeitschriften-Netzwerkes Eurozine tauschen an die fünfzig Partnerzeitschriften und ungefähr noch einmal so viele assoziierte Magazine Artikel und Ideen aus. Aber obwohl einzelne Beiträge, die übersetzt und innerhalb sowie außerhalb des Eurozine-Netzwerkes verbreitet werden, eine Gesamtauflage von über einer Million erreichen können, sind dem Kosmopolitismus der Kulturzeitschriften Grenzen gesetzt. Sie bilden zweifelsohne eine unentbehrliche Teil- oder Gegenöffentlichkeit; aber um das tragende Fundament für jenen Raum auszumachen, in dem Meinungen gebildet und Willen geformt werden, in dem entscheidende Gegenwartsfragen ernsthaft formuliert und diskutiert werden, ist ihre Reichweite zu beschränkt. Eine Öffentlichkeit, in der und durch die eine gemeinsame europäische Identität entstehen kann, die als Legitimierungsbasis für neue transnationale politische Organisationsformen funktioniert, muss breiter sein.

Letztlich scheint nur ein Weg möglich, sich der Herausforderung einer heterogenen Schar national geprägter Zuseher, Zuhörer und Leser zu stellen: Eine europäische Öffentlichkeit muss von bereits etablierten nationalen Medien getragen werden, die per Übersetzung (von sowohl Sprache als auch Zusammenhängen) den ansonsten “fremden” Denkern und Denkweisen Zugang zu einem Raum geben können, in dem sich österreichische, estnische und schwedische Leserinnen und Leser zu Hause fühlen. Hier spielen Qualitätszeitungen wie Der Standard und Die Presse, sowie Postimees und Dagens Nyheter, eine entscheidende Rolle. Eine solche Entwicklung verlangt allerdings ein Mindestmaß an Offenheit jener Medien, die sowohl das Format als auch den Willen besitzen, ihre publizistische Verantwortung im Lichte einer neuen gesellschaftlichen Situation zu überdenken. Wenn der Staat, wie Castells schreibt, ein europäisches Netzwerk ist, so muss auch die vierte Staatsgewalt – also die Medien – ihre Aufgabe neu definieren. Statt ihre kleineren Geschwister, die Zeitschriften, mit einer merkwürdigen Mischung aus Neid (Format und Prestige) und Verachtung (Auflagenhöhe und Durchschlagskraft) zu betrachten, könnten Tageszeitungen überall in Europa Initiativen zu publizistischer Zusammenarbeit ergreifen. Möglichkeiten wären Vorab- oder Nachdrucke von Zeitschriftenartikeln – gekürzt oder ungekürzt – in weit größerem Ausmaß als dies heute geschieht, oder Lizenzabkommen mit fremdsprachigen Zeitschriften, und zwar nicht nur mit jenen der englischsprachigen Welt. So könnten Tageszeitungen die Ansätze zu einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeit nützen und verstärken und gleichzeitig jene Impulse erhalten, die sie brauchen, um auch weiterhin ein kritisches und meinungsbildendes Forum zu sein und zu bleiben. In einem solchen Kontext sind die führenden Meinungsbildner nicht mehr notwendigerweise Österreicher, Franzosen oder Deutsche. Nicht zuletzt, wenn es darum geht, nationen- und konzernüberschreitende publizistische Netzwerke zu etablieren, können die Tageszeitungen viel von ihren Zeitschriftenkollegen lernen.

Eine europäische Öffentlichkeit mag eine Voraussetzung für ein vereintes Europa sein, aber Einheit darf nicht mit Gleichschaltung verwechselt werden. Im Gegenteil: Es geht nicht darum, dass Esten so schreiben und denken sollen wie Österreicher oder Schweden, sondern darum, die Vielfalt ernst zu nehmen und anderen Sichtweisen Platz zu schaffen – im Wort und im Gedanken. Nur in solch einem perspektivenreichen Gespräch kann eine gemeinsame Identität entstehen und erprobt werden. Gewiss können wir noch immer über das schwedische Pendant zu Gustav Freytags Provinzblattjournalisten lachen, genauer gesagt, über den Leitartikler der winzigen Lokalzeitung Smålands Allehanda, der auf seinem Platz in einer größeren Öffentlichkeit bestand, als er hartnäckig in Bismarcks Richtung drohte: “Wir haben den deutschen Kanzler bereits früher gewarnt, auf seiner gegenwärtigen Politik zu beharren und wiederholen hier diese Warnung …”

Ja, wir lachen. Aber es liegt doch auch etwas sehr Verlockendes in solch einem Übermut.

Published 16 December 2004
Original in Swedish
Translated by Sandra Nalepka

Contributed by Wespennest © Eurozine

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