Wie bastle ich mir moralisch einen Feind?

Kleine Bauanleitung, verfertigt nach neuesten Praxiserfahrungen.

“Viel Feind viel Ehr”. Ausgehend von diesem Leitspruch, der einen Schlafsaal der Deutschen Bundeswehr schmückte, untersucht Lothar Baier “den Feind” als “Nutzvieh” für Politiker. Baier erklärt seine Feindbastelanleitung anhand des amerikanischen Angriffskrieges gegen den Irak und geht in seinem Essay den rhetorischen Kniffen und Besonderheiten der Sprache, anhand derer Feinde produziert werden, nach.

“Wer davon lebt, daß er einen Feind bekämpft, hat ein Interesse daran, daß er am Leben bleibt”, schrieb Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches. Liest George W. Bush jetzt deutsche Philosophie? Der Schwenk des amerikanischen Präsidenten von der reinen Vernichtungsrhetorik gegenüber Saddam Hussein zu dem Vorschlag, den irakischen Diktator am Leben und in irgendein Exil ausreisen zu lassen, deutet auf einen beachtenswerten Positionswandel hin, der vielleicht von der Frage ausgelöst war: Von welchem Gebrauchswert wäre noch ein Saddam Hussein, der tot unter den Trümmern eines seiner von Cruise-Missiles weggeblasenen Paläste liegt? Es könnte aber auch so weit kommen, wenn es so weitergeht wie bisher, dass der Iraker bereits vor seinem physischen Ableben zu Tode gekommen ist, und zwar zu Tode moralisiert. Doch auch in diesem Fall wäre der Clanchef aus Tikrit zu nicht viel mehr nütze.

Woraus folgt, auch mit Feinden muss man haushälterisch umgehen. So viele davon gibt es heute nicht, und selbst welche herstellen, ist kompliziert, aufwändig und teuer. Man muss Fernsehketten, Filmstudios und Zeitungen sein Eigen nennen. Ein Berlusconi kann sich das vielleicht gerade noch leisten, nicht aber ein durchschnittlicher Regierungschef. “Viel Feind, viel Ehr”, las ich als achtzehnjähriger Rekrut der westdeutschen Bundeswehr, einer angeblich modernen, demokratischen Bürgerarmee, an der Wand in der Schlafstube, und konnte mir darunter nicht viel vorstellen. Der Spruch hing dort wahrscheinlich seit Nazizeiten, als der Schuppen noch “Fliegerhorstkaserne” hieß. Ein Spruch aus wahrhaft grauen Vorzeiten, als es noch “Ehre” gab und daneben das perfide Albion, den französischen Erbfeind und den grausamen Serben und Russen und so fort. Hätte ich das nicht mit eigenen Augen gesehen, vor etwas mehr als vierzig Jahren, würde ich “Viel Feind, viel Ehr” wahrscheinlich für eine verstaubte Antiquität aus der Zeit der preußischen Befreiungskriege Anfang des 19. Jahrhunderts halten. Aber es ist noch kein halbes Jahrhundert her, dass der Spruch die Stube in einer Bundeswehrkaserne schmückte.

Columbia über Palestine

Im Hinblick auf das Herstellen von Feinden war George W. Bush wahrscheinlich nicht gut beraten, als er nicht lange nach dem 11. September 2001 das inzwischen berühmte Wort in die Welt setzte: “Entweder ihr seid mit uns oder mit den Terroristen”. Kein guter Einstieg in ein Feind-“Narrativ”, wie man das in der Fachsprache nennt. Denn wenn auch kein vernünftiger Mensch Terroristen um sich haben will, so fehlen letzteren doch die Eigenschaften, die einen Feind unmissverständlich zum Feind machen, Benennbarkeit, Identifizierbarkeit oder eben jene Feind-Evidenz, die für Carl Schmitt noch selbstverständlich war. Terroristen haben keine Adresse, an die man eine Kriegserklärung schicken kann, verfügen über kein Territorium, das sich bombardieren ließe, über kein bekanntes Führerhauptquartier.

Terroristen, so sieht es im Jahr 2003 aus, sind nirgendwo und gleichzeitig überall. Je weiter die Zeit seit dem 11. September fortschreitet, desto mehr scheinen die Terroristen in alle Richtungen zu diffundieren und dadurch immer weniger feindfähig zu werden. Ein Beispiel: Lewis H. Lapham, der Chefredakteur des liberalen New Yorker Monatsmagazins Harper’s, berichtet in seinem Februar-Editorial, dass er jüngst als “Terrorist” beschimpft wurde, weil er sich im Central Park eine Zigarette anzündete. Als terrorismusverdächtig werden in den USA Anfang 2003 sogar Absolventen von Taucherschulen betrachtet, da Sicherheitsexperten der US-Regierung zu dem Schluss gelangten, dass der nächste terroristische Angriff wahrscheinlich nicht mehr aus der Luft, sondern aus dem Wasser kommen werde. Während ich diesen Artikel schreibe, kommt die Nachricht von der Explosion des “Columbia”-Shuttle über Texas. Schneller, als unsereins zur Besinnung kommt, waren TV-Journalisten schon mit der Frage bei der Hand, ob terroristische Sabotage denkbar sei. Unter den sieben Astronauten hatte sich ein hochdekorierter israelischer Kampfpilot befunden. Sollte die unsichtbare Hand am langen Arm Osama Bin Ladens zugelangt haben, als der Shuttle in sechzig km Höhe einen texanischen Ort mit dem symbolträchtigen Namen Palestine überflog? An den Weihnachtsmann, und sei er auch Muslim, wollen wir dennoch nicht glauben.
Das Hauptopfer der Terroristen, nach den Insassen der Twin Towers, scheint mir, ist der “Feind” gewesen. Deshalb hat die US-Regierung auch so viel Mühe aufwenden müssen, einen Ersatz für jenen Osama Bin Laden zu finden, der sich nicht einmal mehr am TV al-Dschasira zeigt. Saddam Hussein also, ein älteres Erbstück der Familie Bush, wurde als Feinddarsteller gecasted. Viel Neues über seinen Star hatte George W. nicht zu erzählen, die durch Giftgas getöteten irakischen Kurden hatte bereits der Vater aufgebraucht, verfolgte irakische Schiiten bewegen das westliche Publikum nicht so furchtbar, dagegen waren UNO-Berichte, die von Hunderttausenden an den Folgen des UNO-Embargos gestorbener irakischer Kinder sprachen, nicht zu verheimlichen gewesen. Der Tod im Irak war also nicht ausschließlich Saddam-made.

Entlarvung eines Lügners

Um den irakischen Diktator glaubwürdig als Feind der übrigen Menschheit auftreten zu lassen, waren folglich weitere Operationen vonnöten. George W. Bush wird nicht müde, mit seinem texanischen Akzent die “weapons of mass destruction” zu beschwören, die Saddam trotz UNO-Inspektionen horte und produziere. Gewiss ist dem Clanchef aus Tikrit alles zuzutrauen – um aber öffentlichkeitswirksam einen richtigen Feind herzustellen, bedarf es mehr als rhetorischer Redundanzen. Die von Woche zu Woche in Aussicht gestellten “Beweise” für die Einsatzbereitschaft irakischer “weapons of mass destruction” sind bisher, Mitte Februar 2003, von Bush nicht vorgelegt worden. Womit ich nicht suggerieren will, dass es sie nicht gibt. Nur wenn solche Massenvernichtungswaffen schon ausreichen, einen Feind zu machen, dann müssten auch das verbündete Pakistan, das etwas weniger verbündete Indien und das außerordentlich verbündete Israel dem Lager des Feinds zugeschlagen werden. Dies ist aber nicht der Fall und kann aufgrund der gegebenen geostrategischen Lage auch nicht der Fall sein. Woraus folgt, dass zur Feindherstellung mehr vonnöten ist als der schlichte Nachweis, dass ein Land oder ein Regime solche Waffen besitzt und herstellt.

Bei all den Redundanzen, die George W. Bushs Anti-Saddam-Reden auszeichnen, fällt ein moralisch konnotiertes Element ins Auge, das die Beschuldigung, ein diktatorisches Regime anzuführen, in den zweiten Rang verweist (ist im Hinblick auf die zahlreichen diktatorisch regierten “friendly countries” auch nicht sehr überzeugend). Der dem “rough state” Irak vorstehende Saddam Hussein hat sich, durften wir vom US-Präsidenten lernen, dadurch als einmaliger Schurke entlarvt, dass er schamlos lügt. Der von der UNO verlangte 12.000 Seiten starke irakische Report über irakische Waffenproduktion stecke voller Lügen (mag durchaus sein, nur vermag unsereins das von der Sache her nicht zu beurteilen). Der Lügner Saddam also. Auch jene acht europäischen Staats- und Regierungschefs, von Silvio Berlusconi bis Václav Havel, die sich von der US-Regierung zur Unterzeichnung einer vorgefertigten, danach im Wall Street Journal veröffentlichten Erklärung über eine amerikanisch-europäische Front bewegen ließen, unterstrichen “den fortdauernden und gut dokumentierten Hang Saddams zu lügen” Ein recht merkwürdiger politischer Vorwurf.

Denn im Raum der Politik sticht er nicht, weil er auf jeden Beliebigen zutreffen könnte. Ein Berufspolitiker, der nicht anständig zu lügen verstünde, hätte seinen Beruf verfehlt. Jeder massendemokratische Wahlkampf ist ein farbenprächtig inszeniertes Lügenfestival. Und alle wissen das. In Deutschland schlugen sich die Parteien wahlweise “Rentenlügen” und “Steuerlügen” um die Ohren. Säße Saddam Hussein als Abgeordneter im deutschen Bundestag, würde ihm jetzt die “Massenvernichtungswaffenlüge” vorgehalten. Vom Stuhl würde das höchstwahrscheinlich niemanden reißen. Weshalb also wurde die “Lüge” zur Vorbereitung eines bewaffneten Angriffs auf den Irak so auffällig, sogar mit kleineuropäischem Nachschieben, in Stellung gebracht?

Hochwertressource Moral

Erklärende Unterscheidungen sind vonnöten. Der Siegener Linguist Clemens Knobloch, der seit Jahren die Vorgänge auf dem Markt der moralischen Werte beobachtet und analysiert, besteht auf der strikten Unterscheidung der Sphären von “Kommunikationssystemen” und “Funktionssystemen”. “Während Moral als Ressource in den (normalistisch entpathetisierten) Funktionssystemen der Gesellschaft eher zurücktritt, wird sie als Ressource in den Kommunikationssystemen unentbehrlich.” (Clemens Knobloch, “‘Moralische’ Eskalation von Feindschaft”. In: Vom Sinn der Feindschaft, hg. v. Christian Geulen, Anne von der Heiden, Burkhard Liebsch. Berlin: Akademie-Verlag, S. 238)
Als Funktionssysteme betrachtet, kennen unsere Gesellschaften keine ausschließlich moralisch bewertbaren Rollen. Bösewichter, Feiglinge, Lügner, Geizhälse, Habgierige, Misanthropen zählen auf der Bühne, nicht aber im Business. Dort gibt es Kunden, Lieferanten, Konkurrenten, Verhandlungspartner. Bis Ende der Achtzigerjahre galten auch die Irakis, als Öllieferanten ebenso umworben wie als Abnehmer von Hoch- und Waffentechnologie, als Angehörige dieses Kreises. Damit war es 1990, aus den bekannten Gründen, vorbei. Die Irakis wurden zum Feind schlechthin. Ihren Führer Saddam Hussein verglich George Bush senior, unterstützt von Hans Magnus Enzensberger und anderen Moralproduzenten, mit Hitler.
Mehr als ein Jahrzehnt später bleibt das unter strikter Überwachung stehende und von Sanktionen betroffene Land aus der Welt der Funktionssysteme ausgeschlossen. Dafür sorgen jedoch nicht diese selbst, was sie mit ihren Mitteln auch gar nicht können, sondern die Systeme öffentlicher Kommunikation. Wie gehen diese vor? Knobloch kennzeichnet die Problematik dieser Kommunikation folgendermaßen: “Aus Kunden, Konkurrenten und Diskussionspartnern werden aber Feinde in der Tat nur dann, wenn sie unter höchsten moralischen Vorbehalt gestellt und damit gewissermaßen aus der gemeinmenschlichen Wertewelt exkludiert sind.” (ebda, S. 236)

Moralische Kategorien sind nach dem Ende des Kalten Krieges als Mittel der Feindbestimmung aus nahe liegenden Gründen zu wachsender Bedeutung gelangt, da sich Konfliktsituationen nicht mehr, wie jahrzehntelang eingeübt, nach dem strategischen und ideologischen Ost-Westmuster einordnen ließen: entweder mit uns – oder mit den Roten.
Woher aber die hohen Dosen Moral nehmen, die dann zwecks Feindbestimmung in die Kommunikationssysteme eingespeist werden müssen? Knobloch macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Moral in Teilen der öffentlichen Kommunikation eine auffallend schlechte Presse hat. Jemanden einen “Moralapostel” nennen, kommt einer symbolischen Exekution nahe; die Lacher hat ein Redner sofort auf seiner Seite, wenn er sich über Leute amüsiert, die mit “entsicherten Moralpistolen” in der Tasche herumliefen. In Deutschland ist seit Jahren der “Gutmensch” zum allgemeinen Gespött geworden. “Moralisieren” gilt als verachtenswerte Operation, gegen die jede PR-Abteilung eines Biotech-Unternehmens ganze Pakete von “Diskurs”-Strategien entwickelt hat. Sich auf Moral berufen, ist sowohl dysfunktional als auch unfein.

Doch Vorsicht, argumentiert der Linguist Knobloch, “die Geschichten, die vor der ‘Moral’ warnen, sind selbst ‘moralische’ Geschichten. Der ‘moralische’ Sinn einschlägiger Warnungen besteht darin, dem nicht moralisch begründeten (oder nicht moralisch begründbaren) Machthandeln selbst eine höhere ethische Legitimation zu erteilen als dem moralisch begründeten. Man moralisiert den Unterschied zwischen ‘moralischen’ und außermoralischen Haltungen, und zwar zugunsten der außermoralischen. Dem kommt die einigermaßen paradoxe Semantik moralischer Hochwertausdrücke ebenso entgegen wie die heutigentags allgemein abrufbare Erfahrung, dass öffentlich zur Schau gestellte Hochwertorientierungen oft den diskursiven Schutzschirm abgeben, hinter dem sich sehr viel profanere Macht- oder Geldinteressen verbergen können.” (ebda, S. 234/235)

Notwendige Ambivalenzreduktion

Knobloch hat seinen Aufsatz lange vor Beginn der US-amerikanischen Kampagne zur Vorbereitung eines bewaffneten Angriffs auf den Irak geschrieben; nichts könnte seine These besser illustrieren als die Inszenierung dieser Kampagne durch die Regierung Bush. Auf die Bühne gestellt wird ein archaischer Bösewicht, der Lügner und Betrüger Saddam, an dessen Entfernung aus der Gemeinschaft anständiger Menschen das Publikum das allerlebhafteste Interesse haben müsste. Gleichzeitig ist es für keinen Leser liberaler und kritischer US-amerikanischer Publikationen wie Harper’s oder Tikkun ein Geheimnis, dass es die irakischen Ölfelder sind, die die USA gegenwärtig weit mehr interessieren als die Befreiung des Universums vom Bösen. Zwischen Washington und den alten saudi-arabischen Freunden hängt, wie Fernsehen und Zeitungen berichten, der Haussegen Besorgnis erregend schief (die Saudis scheinen es nicht zu mögen, dass sie immer wieder mit den Kamikazepiloten vom 11. September identifiziert und als finstere Islamisten dargestellt werden), so dass die USA zur Sicherung ihrer Ölversorgung nach anderen Quellen Ausschau halten. Nichts, auch geografisch, näher liegend als die irakischen.

Dass Ölversorgung etwas Vitales ist, wird jedem vorortbewohnenden US-Amerikaner einleuchten, der einen spritsaufenden Riesenschlitten, einen Pick-up-Truck, einen geländetauglichen schweren Familientransporter in der Garage stehen hat. Dennoch würde es wohl nicht jeder dieser Autofahrer mögen, würde ihm amtlicherseits klargemacht, dass der angekündigte Angriffskrieg gegen den Irak letzten Endes nur der Sicherung seiner künftigen Tankfüllungen diene. Auch dafür kann Knobloch eine überzeugende Erklärung liefern: “Für einen massendemokratischen Krieg dürfte moralisch enthemmte Feindschaft die einzige zur Zeit zustimmungsfähige Ressource sein, da Macht- und Wirtschaftsinteressen als Motive in der Öffentlichkeit nicht zugelassen sind.” (ebda, S. 242) Diese Motive sind zwar allen bekannt, werden in der öffentlichen Kommunikation aber nicht ausgesprochen, weil ihre Erwähnung den Hauptzweck der Kommunikation, die Herstellung von Eindeutigkeit, bedroht. Dazu vor allem wird Moral gebraucht, was man auch sonst gegen sie haben mag.
Arnold Gehlen sprach einst von der “Reduktion von Komplexität” als Bedingung gesellschaftlichen Verkehrs. Knobloch erweitert den Gedanken, Komplexität durch Ambivalenz ersetzend, um die psychologische Dimension: “Moralisierungen dienen der Ambivalenzreduktion (und sind damit parteibildend, insofern nämlich jede handlungsfähige Parteiung auf Ambivalenzreduktion angewiesen ist). Entmoralisierung eines Konflikts hat den Effekt, dass Ambivalenz wieder in ihr Recht tritt, wodurch die ‘moralisch’ geeinte Partei geschwächt wird (und die außermoralisch geeinte gestärkt).” (ebda, S. 240) Wird es aus möglicherweise rein funktionalen Gründen wichtig, eine handlungsfähige, insbesondere kriegshandlungsfähige Partei zusammenzuhalten, gelangt das, was Knobloch “Hochwertmoral” nennt, als Focus öffentlicher Kommunikation gerade auch “funktional” zu außerordentlicher Bedeutung. Wie “moralisch enthemmte Feindschaft” hergestellt und aufrechterhalten wird, das ist für meinen Begriff geradezu labormäßig im Lauf des Jahres 2002 und Anfang 2003 von den Kommunikatoren der US-Regierung und deren europäischen trojanischen Eseln vorgeführt worden.

In dem vom Duce-Bewunderer Berlusconi, vom Exdissidenten Havel, vom dänischen Rechtspopulisten Rasmussen und anderen europäischen Musterdemokraten unterzeichneten Wall Street Journal-Artikel heißt es: “Die Verbindung von Massenvernichtungswaffen und Terrorismus stellt eine Bedrohung von unermesslichen Konsequenzen dar. Wir sollten uns alle davon betroffen fühlen.” Wo jene “Verbindung” beobachtet oder festgestellt wurde, geben die betroffenen Premierminister nicht an (ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die polnischen oder portugiesischen Nachrichtendienste in dieser Hinsicht sensationelle Erkenntnisse beizutragen hatten), aber aus dem Kontext ihres Schreibens geht hervor, dass jenes fatale Rendez-vous nirgendwo anders als bei Saddam Hussein stattfand. Das steht ja auch schon im öffentlichen Drehbuch des Autorenteams Bush/Rumsfeld. Zum Vollschurken kann der Schurke Saddam Hussein demnach erst durch eine starke Beigabe Terrorismus gedopt werden. So kommt es mir vor, als wäre die ungeheure Bewegungsenergie, die am 11. September 2001 die gekaperten Boeings auf die Twin Towers und das Pentagon prallen ließ, inzwischen unter dem Namen Terrorismus auf eine Weise umgewandelt worden, dass sie zum Antrieb einer ganzen Reihe anderer Aggregate tauglich wurde. Zum Beispiel zur Transformation des Regionaldiktators Saddam Hussein in eine Universalgefahr für die Menschheit.

Der Krieg, ein Film

Dennoch bleiben Fragen. Wie bringt man einen solchen Superfeind, dessen Bekämpfung einen milliardenteuren kommunikationellen, militärischen und logistischen Aufwand kostet und die zweifellos zahlreiche zivile Opfer fordern wird, in einer westlichen Welt unter, in der nach den Worten Knoblochs “ethnischer Nationalismus verpönt ist, als archaisch und primitiv gilt, und Menschenrechts-Moralismus ebenso zur kurrenten Weltanschauung der ‘fortgeschrittenen’ Nationen gehört wie die öffentliche Ächtung von Gewalt und Terror? Wie erzeugt und eskaliert man Feindschaft in einer massendemokratischen ‘Szene’ mit diskursiv halbwegs durchgesetztem Multikulturalismus – der ja als Figur auch den rhetorischen Vorzug hat, seinen Vertretern die Ressourcen einer nicht überbietbaren universalistischen ‘Toleranz’ zuzuspielen, der gegenüber alle anderen Positionen als eng, partikular (und potentiell feindlich) codiert werden können?” (ebda, S. 243)

Clemens Knobloch hatte den NATO-Krieg gegen Serbien von 1999 im Auge, als er diesen Aufsatz schrieb. Damals war es den Chefs der NATO-Staaten gelungen, die Allianz bis zum Ende der Militärintervention halbwegs zusammenzuhalten und die Öffentlichkeiten ihrer Länder hinter sich zu bringen, obgleich sich die genannten Fragen ebenso stellten wie heute, im Jahr 2003. Und Slobodan Milosevic war im Vergleich mit Saddam Hussein ein “kleiner” Feind: Niemand sagte ihm nach, Massenvernichtungswaffen zu horten und mit Terroristen zu kungeln. Sein bestrafungswürdiges Verbrechen bestand darin, mit klassischen militärischen und polizeilichen Mitteln gegen die – von der serbischen Propaganda als “terroristisch” eingestufte – albanische Sezessionsguerilla UCK auf dem eigenen Staatsgebiet vorzugehen und dabei teilweise die Zivilbevölkerung als Geisel zu nehmen.

Vier Jahre danach scheinen sich einige der bei der NATO-Intervention gegen Serbien noch ergiebigen moralischen Ressourcen verbraucht zu haben. Obgleich der nun auch terroristisch aufgeladene Saddam Hussein als ein recht gefährlicher Feind gelten könnte, ziehen eine ganze Reihe von NATO-Ländern nicht mit bei der von der US-Regierung ins Werk gesetzten Herstellung moralisch enthemmter Saddam-Feindschaft. Daran ist, scheint mir, großenteils die Blindheit und Schwerhörigkeit der Washingtoner Kommunikatoren schuld. Sie haben da etwas verwechselt. Sich an die Weltöffentlichkeit wendend, gebrauchten sie eine Sprache, als schrieben sie am Drehbuch eines für den US-amerikanischen Markt konzipierten Blockbusters. Manche Kommuniqués lesen sich sogar, als seien sie direkt einem Filmszenario entnommen, etwa dem Drehbuch zu dem die Figur des amerikanischen Präsidenten zum mythischen Weltretter verklärenden Film Air Force One. “Gräueltaten und Terror sind keine politischen Waffen”, verkündet dort der Filmpräsident, “und denen, die sie benutzen möchten, sage ich, eure Zeit ist vorbei. Wir werden niemals verhandeln. Wir werden euch nicht länger tolerieren und wir werden keine Angst mehr haben. Angst müsst ihr jetzt haben.” (zit. n. Robert Jewett und John Shelton Lawrence, “Captain America Takes On Iraq”, Tikkun, vol. 18, Nr. 1, Januar 2003, S. 19).

Zur Zeit des Kalten Krieges hätte sich wahrscheinlich nicht einmal ein Filmpräsident so äußern dürfen, das hätte ihm, auch im Kino, jede Glaubwürdigkeit entzogen. Das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens zwang, was jedermann wusste, alle Beteiligten zu einer gewissen rationalen Zurückhaltung. Da der Westen es mit einem Feind zu tun hatte, der in der Lage war, im Fall eines Angriffs unmittelbar und massiv zurückzuschlagen, betrachtete er diesen Feind bei aller Abneigung stets als potenziellen Verhandlungspartner. Der Filmpräsident in Kubricks Dr. Strangelove hängt entsprechend viel am Roten Telefon, das ihn mit dem Kreml verbindet. Der Feind des Jahres 2003 ist nicht einmal mehr telefonwürdig. Dass Raketen auf sein Territorium abgefeuert wurden, wird er, wie wir anderen auch, bei CNN erfahren.
Was geht eigentlich in jenen, die solche Raketen abfeuern und dabei wissen, dass sie auch Unbeteiligte und Unbewaffnete töten werden, unter “hochwertmoralischem” Gesichtspunkt vor? Wahrscheinlich nichts, oder nicht mehr als bei unsereinem, wenn er im E-Mail-Programm auf die “Send”-Taste drückt. Die modernen Distanzwaffen helfen sehr dabei mit, jeden Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu zerreißen. Die am Computer sitzenden Richtschützen müssen sich keinem besonderen Hasstraining unterziehen, um Mord und Zerstörung beim “Feind” säen zu können, es reicht aus, dass sie die eingeübte Angestelltenmentalität mitbringen, für die alles einerlei ist, vorausgesetzt, von den Chefs kommt von Zeit zu Zeit Anerkennung für gute Arbeit. Wenn diese Angestellten mit Lenkwaffen hantieren statt nur mit Fakturierungsprogrammen, haben sie sogar die Chance, eines Tages bei einer richtigen Siegesparade auftreten zu dürfen und vielleicht sogar vor der Fernsehkamera vom Präsidenten für Patriotismus ausgezeichnet zu werden. Dafür nimmt man doch ein paar anonyme Tote in Kauf, oder? Es gibt heute Menschen, die sogar das eigene Leben riskieren, wenn ihnen nur die Aussicht winkt, einmal im Leben ins Fernsehen zu kommen.

Published 30 June 2003
Original in German

Contributed by Wespennest © Wespennest Eurozine

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