Vom Schweigen der Union

Die Frage nach dem Zustand öffentlicher Kommunikation in und über Europa stellt sich heute dringlicher denn je, denn öffentliche Willens-und Entscheidungsfindung sind nur demokratisch wenn ihnen öffentliche Auseinandersetzung zu Grunde liegt. Leonard Novy fragt, ob eine europäische Öffentlichkeit angesichts des viel diskutierten “Demokratiedefizites” jemals geschaffen werden kann.

Auch wenn der Durchbruch bei Europas Verfassung schließlich doch noch gelang, der Katzenjammer ist groß in Europa. Just nach dem “Big Bang”, der Erweiterung um 10 Länder, laufen EU-Europa die Bürger davon. 342 Millionen Wähler waren Mitte Juni aufgerufen, das Europäische Parlament zu legitimieren. Und nicht einmal die Hälfte mochte sich beteiligen, in den Beitrittsländern nur knapp ein Drittel. Seit dem ersten Urnengang vor 25 Jahren ist die Stimmbeteiligung bei den Europawahlen kontinuierlich zurückgegangen. Müde war der Wahlkampf, die Wahlen selber einerseits Denkzettel für die nationalen Regierungen, andererseits Ausdruck weit verbreiteter Indifferenz gegenüber dem Projekt Europa. Europathemen wie die Verfassung, der künftige Kommissionspräsident oder der neue Finanzrahmen spielten praktisch keine Rolle.

Europas Bürgerschaften reden nicht miteinander?

Warum ist das so? Wissenschaft, Publizistik und Politik machen dafür gerne das Fehlen eines wirklich europäischen Demokratiebewusstseins und, damit zusammenhängend, einer europäischen Öffentlichkeit verantwortlich. Indikativ hierfür ist ein Beitrag der Neuen Zürcher Zeitung am Tage nach der Wahl. Hier wird launig kommentiert, “die Suche nach einer europäischen Identität [wird] bis auf weiteres in erster Linie auf dem Papier stattfinden. Eine gemeinsame Verfassung und wohlklingende Phrasen von politischer Einheit bleiben weiterhin Wunschdenken der EU-Bürokraten.” Überschrieben ist der Text mit der Ziele “Eine europäische Öffentlichkeit fehlt”. Der Historiker Christian Meier wiederum fragt “Wie […] soll eine europäische Demokratie möglich sein? Es mangelt an einer gemeinsamen Öffentlichkeit, einer gemeinsamen Gesellschaft, der sich der finnische Waldarbeiter und der andalusische Stierkämpfer so wie der deutsche Studienrat zugehörig fühlt. Es fehlen alle vermittelnden Instanzen, Medien so gut wie europäische Parteien.” Hier also liegt der Hase im Pfeffer: Europa leidet unter einem Mangel an Öffentlichkeit und Gemeinschaftsgefühl. Trifft diese Beobachtung zu? Leidet die EU wirklich unter einem “Öffentlichkeitsdefizit”? Was genau umschreibt dieser Begriff? Und was kann man dagegen tun?

Fest steht, dass sich die Frage nach dem Zustand öffentlicher Kommunikation in und über Europa heute mit größerer Dringlichkeit denn je stellt. Denn, so hat es der Berliner Sozialhistoriker Hartmut Kaelble formuliert, zu einer “lebendigen europäischen Verfassung gehört nicht nur ein guter Verfassungstext, sondern auch eine Öffentlichkeit, die einerseits eine europäische Regierung stützt, berät, kritisiert oder auch bekämpft und die andererseits zu einer Identifizierung der europäischen Bürger mit demokratischen europäischen Institutionen und mit Bürgerrechten und Bürgerpflichten führt”. Zudem werden die Bürger in mindestens zehn Ländern zu den Urnen gebeten werden, um direkt über den Entwurf abzustimmen. Somit hängen die Konstitutionalisierung Europas und die Zukunft europäischen Regierens insgesamt also ganz handfest davon ab, inwieweit es gelingt, die Bürger für diesen Prozess zu gewinnen.

Der Öffentlichkeitsbegriff im Europadiskurs

Vor allem Jürgen Habermas hat überzeugend herausgearbeitet, dass Demokratie nicht nur Methoden zur Aggregation individueller Präferenzen voraussetzt, sondern auch Diskussion, Argumentation, die Artikulation und das Testen von Meinungen umfassen sollte, kurz: öffentliche Deliberation. Willensbildung und Entscheidungsfindung sind nur dann demokratisch, wenn ihnen öffentliche Auseinandersetzung zu Grunde liegt. Da die Legitimität und Effektivität moderner Demokratien auf der Vermittlung zwischen den politischen Eliten und der Gesellschaft basiert, gilt Öffentlichkeit allgemein als Demokratiefaktor. Sie vermittelt Kenntnis und Überblick und konstituiert jenen intermediären Raum, in dem die Regierten ihre Bedürfnisse artikulieren und die Regierenden versuchen, ihr politisches Handeln an den Willen der Regierten rückzukoppeln. Außerdem fungiert sie als notwendiges Gegengewicht zum Regierungshandeln.

Sowohl in der europapolitischen Rhetorik als auch in der Wissenschaft hat der Öffentlichkeitsbegriff seit geraumer Zeit Konjunktur. Lange wurde die EU technokratisch und aus ökonomischen Imperativen heraus begründet. Infolgedessen – und dabei handelte es sich um einen konstanten und in der historischen Rückschau vielleicht auch notwendigen Begleitumstand der europäischen Einigungsgeschichte – hinkte der öffentliche Diskurs in den Mitgliedstaaten den vollendeten Tatsachen europäischer Integration hinterher. Seit mit dem Vertrag von Maastricht 1993 jedoch just jenes Dokument auf den Protest der nationalen Bürgerschaften stieß, das die Bürger der Mitgliedsstaaten zu Bürgern der EU machte, gelten Aufmerksamkeit und Anteilnahme der breiten Öffentlichkeit als conditio sine qua non einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration. Dieses Streben nach Bürgernähe fußt auf der Erkenntnis, dass auch ein Politzwitter wie die EU, die zwar mehr als eine internationale Organisation, aber dennoch kein Staat ist, der Legitimation durch seiner Bürger bedarf. Diese Einsicht schien mit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 auch auf politischer Ebene (zumindest rhetorische) Anerkennung gefunden zu haben: Eine “umfassende Debatte” mit Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wie auch der Öffentlichkeit insgesamt solle es geben, hieß es in der Schlusserklärung der Staats- und Regierungschefs. Die EU-Kommission schließlich sprach sich 2001 in ihrem Weißbuch “Europäisches Regieren”, einem wegen seiner “technokratischen Attitüde” (Erik Oddavar Eriksen) weitgehend folgenlosen Rohrkrepierer, für mehr zivilgesellschaftliche Beteiligung aus und konzedierte, dass von Seiten der EU aktiver mit den nationalen Bürgerschaften über Europafragen kommuniziert werden müsse. “Alle demokratischen Institutionen und alle Volksvertreter müssen sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene den Versuch unternehmen, die Kluft zwischen der Union und ihren Bürgern zu überbrücken.” Und: “Die Menschen müssen das politische Projekt hinter der Union besser erkennen können.”

Dieser Forderung folgte in Laeken die Einberufung des Verfassungskonvents, der den Bürgern die Arbeit der europäischen Organe näher bringen sollte. Seine Zusammensetzung, die Offenheit der Debatte und der Zugang zu Informationen sollten den Konstitutionalisierungsprozess in die nationalen Öffentlichkeiten tragen und Debatten generieren, in Folge derer die Unterstützung für die Verfassung steigen werde.

An hehren Worten fehlte es also nicht. Ganz im Gegenteil. Denn mit dem inflationären Gebrauch des Öffentlichkeitsbegriffs verschwimmen auch seine Konturen. Zu fragen ist: Welche Form von Öffentlichkeit entspricht überhaupt dem sich traditionellen Kategorisierungen entziehenden Charakter der europäischen Mehrebenendemokratie? Welche ist erforderlich, um Informiertheit und Partizipation ihrer Bürger zu ermöglichen?

Vom Schweigen der Union. Die These vom europäischen Öffentlichkeitsdefizit

Im akademischen wie publizistischen Diskurs ist die Annahme weit verbreitet, dass die EU unter einem “Öffentlichkeitsdefizit” leidet. Der europäische Einigungsprozess, heißt es, realisiere sich in zwei Geschwindigkeiten: Während die politischen, ökonomischen und juristischen Sphären zusehends konvergieren, blieben die Kommunikationsstrukturen national fragmentiert. Doch die Meinungen darüber, wie gravierend das vielzitierte “Öffentlichkeitsdefizit” der EU sei und ob es überhaupt behoben werden könne, gehen auseinander, was nicht zuletzt auf unterschiedliche normative Prämissen zurückzuführen ist. Lange Zeit dominierten die Skeptiker. Ausgehend vom Ideal eines paneuropäischen Kommunikationsraums, dessen Grenzen mit denen des vom supranationalen Regieren betroffenen sozialen Raums übereinstimmen, argumentieren sie, dass eine “wirkliche” europäische Öffentlichkeit sowohl ein einheitliches, alle Mitgliedsstaaten umfassendes Mediensystem als auch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsam erfahrene Geschichte voraussetzt. Da diese Bedingungen alleine angesichts der sprachlichen Heterogenität in der EU nicht erfüllt sind und von einem Demos im klassischen, staatszentrierten Sinne schon gar keine Rede sein kann, ist es um die Aussichten für Öffentlichkeit, Identität und Demokratie in der Union schlecht bestellt. Europas Bürgerschaften reden nicht miteinander. Von Austausch, gegenseitiger Verständigung und gemeinsamer Identität keine Spur. “Es sind Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kollektive Identität sich herausbildet, sich stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa, ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft. Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, weil Europa ein vielsprachiger Kontinent ist – das banalste Faktum ist zugleich das elementarste”, so Peter Graf Kielmansegg. Da es “auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen Diskurs geben wird”, sieht auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm das Projekt einer Demokratisierung Europas zum Scheitern verurteilt. Europäische Entscheidungsprozesse stünden “nicht in derselben Weise unter Publikumsbeobachtung wie nationale”. “In ihrem Kern”, resümieren die beiden Journalisten Andreas Oldag und Hans-Martin Tillack in ihrem Buch Raumschiff Brüssel angesichts des Mangels an Information und Diskurs “ist die EU ein vordemokratisches Gebilde geblieben – die Bürger bleiben außen vor”.

Gewiss: Wer den Nationalstaat zur Norm für die Suche nach einer einheitlichen, fest umrissenen europäischen Öffentlichkeit erhebt, landet unweigerlich in der Sackgasse. Wo sind, in einer EU mit 25 Mitgliedern, die Medien, wo die Akteure und wo das eine, kulturell und sprachlich homogene Publikum, das sich über den Raum erstreckt, auf den die Union wirtschaftlich und politisch Einfluss nimmt? Es gibt – folgt man diesen Kriterien – keine europaweite Öffentlichkeit, sondern allenfalls eine Experten-Öffentlichkeit der Berufseuropäer aus Wirtschaft und Politik, die sich über europaweit verbreitete Elitemedien wie Financial Times, Economist oder Euronews informieren. Von oben herab, mittels Verordnungen und finanzschwerer Programme herstellbar ist eine solche von Estland bis Gibraltar, von Schottland bis Zypern reichende Öffentlichkeit schon gar nicht. Genauso wie klar ist, dass sich nationalstaatliche Identitäten nicht durch Hymne, Flagge und Feiertag zu einer europäischen Identität verschmelzen lassen, wird die EU auf absehbare Zeit eine aus nationalen Öffentlichkeiten zusammengesetzte sein.

Europas emergenter Kommunikationsraum

Aber bedeutet das, dass Debatten über das Gemeinwohl betreffende Themen über Sprach-, Mediensystem- und Ländergrenzen hinweg unmöglich sind? Nein, lautet die Antwort einer stetig wachsenden Gruppe vor allem deutscher Wissenschaftler. Statt das Vorhandensein transnationaler Kommunikation auf EU-Ebene durch unnötig rigide Maßstäbe auszuschließen, geht diese Forschungsrichtung davon aus, dass sich Öffentlichkeit in Europa als Prozess der Europäisierung bestehender nationaler Kommunikationsräume konstituiert. Die Mehrsprachigkeit der EU stellt demnach keinen prinzipiellen Hinderungsgrund für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit dar. Sich dem Phänomen europäischer Massenkommunikation nicht nur normativ sondern auch empirisch nähernd vertreten Wissenschaftler wie die Berliner Soziologen Klaus Eder und Cathleen Kantner die Position, dass sich eine Öffentlichkeit in Europa über die transnationale Verschränkung nationaler Debatten bildet. Von einer EU-weiten Öffentlichkeit kann dieser (erstmals 1996 von Jürgen Habermas in seinem Buch Die Einbeziehung des Anderen entwickelten) Argumentation folgend dann die Rede sein, wenn die Medien der Mitgliedsstaaten “die gleichen europäischen und europäisierten Themen in Europa im Großen und Ganzen zur gleichen Zeit und unter gleichen inhaltlichen Relevanzgesichtspunkten” diskutieren. Auch wenn sie ein Thema nur über die Berichterstattung ihrer nationalen Zeitungen und Fernsehsender verfolgen, teilen die Unionsbürger demnach durchaus transnational ein gewisses Maß an wechselseitiger Informiertheit. Umstritten ist allerdings, ob neben dieser Themenkonvergenz nicht zusätzliche Kriterien (wie die Bewertung der europaweit diskutierten Themen unter einer europäischen Perspektive, wechselseitige Beobachtung der nationalen Arenen und gegenseitige Bezugnahme in der Berichterstattung) erfüllt werden müssen, damit von Öffentlichkeit die Rede sein kann.

Die Forschung hat gerade erst damit angefangen, sich dem Phänomen europäischer Massenkommunikation empirisch zu widmen. Doch sprechen einige Wissenschaftler wie Hans-Jörg Trenz, Marianne van de Steeg oder Cathleen Kantner bereits von einem “öffentlichen Raum” in Europa. Genuin europäische Themen wie die Einführung des Euro, der Umgang mit BSE oder der Skandal um die Santer-Kommission produzieren nicht nur Sprachgrenzen überschreitende kommunikative Verdichtungen. Sie zeugen auch (wie zum Beispiel die Untersuchung der Reaktionen auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich durch ein Forscherteam um Thomas Risse deutlich macht) von ähnlichen Interpretationsmustern und images der EU (die Union als “Wertegemeinschaft” etc.) in den nationalen Öffentlichkeiten.

Auch wenn es an Erkenntnissen über die genaue Strukturierung dieses emergenten europäischen Kommunikationsraums noch mangelt: Es spricht einiges für eine solche Rekontextualisierung des Öffentlichkeitskonzepts, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie dem Mehrebenencharakter der EU und dem komplexen Spannungsverhältnis von lokaler, nationaler und supranationaler Identitätsbildung in Europa näher kommt als das nationalstaatlich geprägte Modell. Zudem bestehen Öffentlichkeiten in pluralistischen Gesellschaften schon auf nationaler Ebene aus widersprüchlichen, heterogenen Kräftefeldern. So werden selbst multikulturelle und linguistisch segmentierte Gesellschaften wie die Schweiz, Spanien oder Kanada den normativ überfrachteten Maßstäben eines nationalstaatlichen Öffentlichkeitsverständnisses nicht gerecht – und gelten trotzdem als konsolidierte Demokratien mit wirkungsvollen Öffentlichkeiten.

Auch ohne ein Volk im klassischen, staatszentrierten Sinne kann also Öffentlichkeit entstehen. Voraussetzung sind weder eine lingua franca noch europäische Medien, sondern europäische Themen als “relevante Gegenstände politischer Kommunikation in den lokalen, regionalen und nationalen öffentlichen Arenen” (Klaus Eder und Cathleen Kantner).

Öffentlichkeit braucht Debatte

Für EU-Europa lässt sich, folgt man den hier nur kurz skizzierten Arbeiten, die Entwicklung (nicht die Vollendung) einer “European sphere of publics” (Kevin und Schlesinger 2000) konstatieren. Sie spiegelt den dynamischen Mehrebenen-Charakter der EU. Für diese These sprechen sowohl die angesprochenen Studien zur Medienberichterstattung über Europa als auch eine Reihe weiterer Anzeichen wie die wachsende Bedeutung von europäischen NGOs, Interessensgruppen, Politik- und Expertennetzwerken, die zunehmende Präsenz von Europasymbolen und die über die letzten Jahrzehnte betrachtet steigende Fremdsprachenkenntnis der Europäer.

Freilich dürfen diese Beobachtungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese europäische Öffentlichkeit mit gravierenden Defiziten behaftet ist. Erstens sind die Institutionen und Entscheidungsprozessen der EU, das belegen Medienanalysen, gemessen an ihrer stetig zunehmenden Bedeutung für den Alltag der EU-Bürger in der Berichterstattung der nationalen Medien völlig unterrepräsentiert. Dies gilt vor allem für das beinahe öffentlichkeitsabstinente Europäische Parlament. Man muss dem italienischen Premier Berlusconi schon fast dankbar sein für seinen Ausfall gegenüber dem SPD-Abgeordneten Martin Schulz im Sommer letzten Jahres, bescherte er doch dem EU-Parlament so eine wahrscheinlich nie da gewesene Präsenz in den TV-Nachrichtensendungen der Mitgliedsstaaten. Und selbst wenn sich Presse, Rundfunk und Fernsehen intensiver mit europäischen Fragen beschäftigen (etwa wenn es sich um ein nationale Gemüter bewegendes Problem wie die Einführung des Euro oder blaue Briefe aus Brüssel handelt), geschieht dies überwiegend aus der nationalen Perspektive. Von europäischen Bezugsrahmen und Bewertungen ist die Europaberichterstattung noch weit entfernt, sieht man einmal von den wenigen bereits erwähnten europäischen Medien ab. Eben diese verweisen auf ein weiteres Defizit, die Tatsache, dass die europäische Öffentlichkeit bislang vor allem eine Eliten- beziehungsweise Expertenöffentlichkeit ist. Symptomatisch dafür war die Wortmeldung einer Gruppe Intellektueller überwiegend westeuropäischer Provenienz in diversen europäischen Tageszeitungen vor knapp einem Jahr. Auf Initiative von Jürgen Habermas räsonierten Adolf Muschg in der Neuen Zürcher Zeitung, Umberto Eco in La Repubblica, Gianni Vattimo in La Stampa, Fernando Savater in El País, Richard Rorty in der Süddeutschen Zeitung sowie Jacques Derrida und Jürgen Habermas sowohl in Libération als auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Veränderung des geopolitischen Gleichgewichts nach dem Ende des Irakkrieges. Der Versuch, eine grenzüberschreitende und vielsprachige Debatte über die Identität Europas und die Perspektiven der EU nach dem Irakkrieg anzustoßen, war verdienstvoll. Ganz ihrem Berufsethos als öffentliche Intellektuelle verpflichtet, leisteten die sieben ihren Beitrag zu einer europäischen Sinnstiftung. Sie stehen somit in der noch jungen Tradition einer transnationalen Diskurskultur, für die Joschka Fischers “Quo Vadis”-Rede an der Berliner Humboldt-Universität die Initialzündung war. Dennoch war das ganze eher ein hübsches Diskursfeuerwerk als die transnationale Debatte, die sich Habermas damals vorstellte.

Doch genau daran, an Debatte und Anteilnahme, mangelt es in den Mitgliedsländern, auch und vor allem bei den zehn neuen, das belegt die überdurchschnittlich niedrige Wahlbeteiligung. Auch dem Verfassungskonvent gelang es nicht, den eingeschränkten Kommunikationsraum europäischer Eliten zu überschreiten und das Interesse der nationalen Massenöffentlichkeiten zu gewinnen. Eine Eurobarometer-Studie ergab letztes Jahr, dass nur 45 Prozent der europäischen Bürger überhaupt von diesem bewusst deliberativ konzipierten Gremium gehört hatten.

Dazu kommt das Paradox, dass sich in den europäischen Bürgerschaften zunehmend ein Bewusstsein für Europa und die Tragweite des europäischen Einigungsprojekts bildet, der Transfer zur EU allerdings nicht funktioniert hat. So stehen der Relevanz und Leistung der EU in einem krassen Missverhältnis zu ihrer Wahrnehmung. In seiner berühmten Humboldt-Rede fasste es Außenminister Fischer zutreffend zusammen: Die EU gelte “als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen Eurokratie in Brüssel und bestenfalls als langweilig, schlimmstenfalls aber als gefährlich”. Während Europa dank des Schengener Abkommens, des Euros, des europäischen Passes sowie diverser Schüler- und Studentenaustauschprogramme in den Köpfen der Bürger angekommen ist, verhält es sich mit der EU anders: Ihre Relevanz im Alltag wird nicht erfasst; ihre Entscheidungen scheinen geradewegs aus dem Nichts zu kommen; was über sie bekannt ist, geht an den Bedürfnissen der Bürger vorbei und ruft nicht selten Protest hervor. Insgesamt wird die EU als eine vorwiegend die Binnenmarktintegration betreffende Angelegenheit zwischen Staaten verstanden, aber nicht selbst als Gemeinwesen, das die Möglichkeit und Notwendigkeit der Teilhabe und Identifikation mit sich bringt.

Einflussmöglichkeiten schaffen

Wie kann die kognitive Lücke zwischen den europäischen Organen und dem Politikerwerk Integration einerseits und den europäischen Demokratien und ihren Bürgern anderseits geschlossen werden? Wie lässt sich die Alleinzuständigkeit politischer professionals und Eliten, für die Habermas` Initiative ein Beispiel ist, sprengen?

Wesentlich für die Transnationalisierung politischer Kommunikation sind eine stärkere thematische Beschäftigung der mitgliedstaatlichen Medien mit Europa, medial ausgetragene Kontroversen, in denen verschiedene Meinungen und Interpretationen zu diesem Thema miteinander konkurrieren, und die Überwindung der bislang üblichen Praxis, Europapolitik ausschließlich durch das Prisma nationaler Probleme und Konfliktlinien zu thematisieren. Doch vor allem die Verästelungen und Verflechtungen, die schwer durchschaubaren Entscheidungsstrukturen und das Fehlen von Kernmerkmalen innerstaatlicher Demokratie wie der Dauerstreit zwischen Regierung und Opposition und die fehlende Verbindung der Wahlen zur Besetzung der europäischen Exekutive, also der europäischen Kommission, erschweren eine der nationalen Politik ähnliche Mobilisierung der öffentlichen Meinung in Europa. Das Defizit an europäischer Öffentlichkeit ist demnach auch ein Reflex des vielfach konstatierten Transparenz- und Demokratiedefizits der EU. Die Strukturen öffentlicher Massenkommunikation und die Praktiken demokratischer Politik bedingen sich wechselseitig. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass sich die Frage einfachen Antworten entzieht. So hat das Europäische Parlament in den letzten 25 Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, ohne dass damit ein Mehr an medialer Aufmerksamkeit oder Wahlbeteiligung einher gegangen wäre.

Wichtig ist, dass die stark nationalstaatliche Prägung von politischer Kommunikation und Meinungsbildung durchbrochen wird. So werden bislang, begünstigt durch intransparente Zuständigkeiten und fast byzantinische Verfahren – positive Entwicklungen von den politischen Protagonisten “nationalisiert”, d.h. als eigene Verdienste deklariert, während Misserfolge und Fehlentwicklungen externalisiert und der Kommission oder anderen Mitgliedstaaten angelastet werden.

Öffentlichkeit wird sich in dem Maße entwickeln, wie die EU mit klar definierten Kompetenzen und verständlichen Strukturen (Exekutive, Legislative, Judikative) erkennbar und erfahrbar wird und von den nationalen Entscheidungsträgern auch als politisches System statt als Vehikel nationaler Interessen kommuniziert wird. Dazu kommt: Je größer Transparenz und Bürgernähe der EU, desto größer der öffentliche Rechtfertigungsdruck auf die handelnden Akteure. Damit entsteht politischer Wettbewerb, der wiederum öffentliches Interesse, Medienaufmerksamkeit und Meinungsbildung generiert.

Obwohl es nicht gelungen ist, die europäischen Entscheidungsstrukturen signifikant den nationalen anzupassen, bringt die Verfassung mit der Aufwertung des Parlaments, der Einführung eines öffentlich tagenden Legislativrats und der Integration des europäischen Grundrechtkatalogs Besserung. Wünschenswert für ein Mehr an öffentlicher Akzeptanz, an Transparenz und an Bürgernähe wäre allerdings eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union, ihren Mitgliedstaaten und Regionen gewesen.

Grundsätzlich, darauf weist zum Beispiel der Leipziger Soziologe Jürgen Gerhards hin, hängt die Entwicklung von Öffentlichkeit vor allem von den direkten und indirekten Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die für sie relevanten Entscheidungen ab (vgl. Gerhards 2002). Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang eine stärkere Personalisierung der europäischen Politik, angefangen mit den Europwahlen. So hätten die Parteienbündnisse mit etwas Mut schon in diesem Jahr Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstellen können statt Listenführer, die kaum jemand kennt. Die neue Verfassung sieht nun explizit vor, dass der Kandidat “unter Berücksichtigung der Europawahlen” auszuwählen ist. Daher sollten die europäischen Parteien auch bei der nächsten Europawahl 2009 mit eigenen Kandidaten ins Rennen gehen. Die längst überfällige Herstellung einer direkten Verbindung zwischen dem europäischen Wählerwillen und EU-Personalentscheidungen würde den weit verbreiteten Glauben zerstreuen, die Abstimmung bei den Europawahlen bliebe folgenlos und so dazu beitragen, die öffentliche Debatte um Europa zu beflügeln. Wirklich “europäische Parteien”, deren Fehlen im Zusammenhang mit den Wahlen immer wieder beklagt wurde, sind angesichts der bestehenden Verflechtung europäischer und nationalstaatlicher politischer Ordnungen dagegen nicht zwingend erforderlich. Vielmehr bedarf es der öffentlichen Emanzipation des Parlaments, für das der Streit mit dem Europäischen Rat über den zukünftigen Kommissionspräsidenten der längst überfällige Auftakt gewesen sein könnte.

“Wir brauchen den Streit um Europas Vergangenheit und Zukunft; die größte Gefahr ist die Gleichgültigkeit der europäischen Bürger”, schreibt der Historiker Hagen Schulze. Zentrale Bedeutung wird in diesem Zusammenhang dem Verlauf des nun anlaufenden Ratifizierungsprozesses in den Mitgliedsstaaten zu teil. Die Abstimmungen werden nicht nur zur Nagelprobe für die Verfasstheit der Union, sondern bergen auch die Chance, dass aus dem Elitendiskurs doch die öffentliche Debatte wird, die die Regierungschefs in Laeken anstoßen wollten. Außerdem ist über Charakter und Zukunft der EU mit der Einigung über die Verfassung keineswegs das letzte Wort gesprochen. Vor allem bedeutet der Verfassungsvertrag eine “juristisch verbesserte Formulierung des erreichten Integrationsstands”, so der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans Jürgen Papier in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auf die Frage, wohin die Union langfristig steuert oder steuern soll, auf das Ziel der Integration und ihre geographische Ausweitung finden sich – abgesehen von der Formulierung der immer enger werdenden Union – keine Anhaltspunkte. Handelt es sich bei der Verfassung um eine Etappe oder Endstadium? Auch wenn die politischen Realitäten im Europa der 25 hier eine klare Sprache sprechen und das Maximum an Integration erreicht scheint, gilt es doch, diese Fragen diskursiv zu erörtern. Denn ohne Verständigung über die EU, über das quo vadis und das wie auch immer definierte europäische Gemeinwohl wird auch die Verfassung nicht zur erhofften Legitimationsquelle werden. Eine solche Ordnung kann, so Jürgen Habermas in seiner Essaysammlung Die postnationale Konstellation, “erst dann funktionieren, wenn es den durch sie […] angebahnten demokratischen Prozess tatsächlich geben wird”. Ähnlich argumentiert auch der in Oxford lehrende Politologe Larry Siedentop. Eine Debatte über die Ziele, Grenzen und Instrumente der europäischen Integration sei schon alleine deshalb unerlässlich, um den Völkern Europas “wieder Anteil an ihrem eigenen Schicksal” zu geben. Diese Debatte darf weder Dissens leugnen, noch konflikthafte Auseinandersetzungen scheuen. In der Akzeptanz, dem Austausch und der Neuverhandlung solcher Differenzen besteht eine zentrale Voraussetzung für demokratische Öffentlichkeit.

Von der Europaagonie, von der passiven Hinnahme zur aktiven Identifizierung der Unionsbürger mit dem gemeinsamen Projekt Europa ist es noch ein weiter Weg. Angesichts der Größe und Heterogenität Europas mehren sich die Chancen dafür nicht. Die EU bedarf nicht der einen monolithischen Öffentlichkeit sondern einer Debattenkultur innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten. Dann werden auch die Wähler und mit ihnen die Parteien die Wahlen zu europäischen Abstimmungen machen statt sie als Resonanzboden für nationale Politik zu missbrauchen.
Literatur

Eder, Klaus und Kantner, Cathleen (2002): “Interdiskursivität in der europäischen Öffentlichkeit”, in: Berliner Debatte INITIAL, 13, 5/6, S. 79-88

Gerhards, Jürgen (1993): “Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit”, in: Zeitschrift für Soziologie, 22, 2, S. 96-110

Gerhards, Jürgen (2000): “Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit”, in: Maurizio Bach (Hrsg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Sonderheft 40 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, S. 277-305

Gerhards, Jürgen (2002): “Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Demokratietheorien”, in: Hartmut Kaelble, Martin Kirsch und Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main, S. 135-158

Grimm, Dieter (1995): “Braucht Europa eine Verfassung?” in: Juristenzeitung, 50, 12, S. 581-591

Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen (1999): Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main

Kielmansegg, Peter Graf (1996): “Integration und Demokratie”, in: Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen, S. 47-72

Kaelble, Harmut (2004): “Die Genese einer europäischen Öffentlichkeit. Anzeichen und Defizite der politischen Willensbildung auf europäischer Ebene”, Neue Zürcher Zeitung, 24. April 2004

Schlesinger, Philip und Kevin, Deirdre (2000): “Can the EU become a Sphere of Publics?” In: Eriksen, Erik Oddvar und Fossum John Erik (eds.): Democracy in the European Union. Integration through Deliberation?, London, S. 206-229

Meier, Christian (2004): Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik, München

Oldag, Andreas und Tillack, Hans-Martin (2003): Raumschiff Brüssel, Berlin

Risse, Thomas (2002): “Zur Debatte um die (Nicht-)Existenz einer europäischen Öffentlichkeit: Was wir wissen, und wie es zu interpretieren ist” in: Berliner Debatte INITIAL, 13, 5/6, S. 15-23

Risse, Thomas, van de Steeg, Marianne und Rauer, Valentin (2003): “The EU as a Political Community: A Media Analysis of the ‘Haider Debate’ in the European Union”. Paper presented to the Annual Meeting of the European Union Studies Association (EUSA), Nashville TN, 27-30 März 2003

Schulze, Hagen (2003): “‘Traumland Europa’ – Europapläne einst und jetzt”, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 1, 2, S. 167 – 177

Siedentop, Larry (2002): Demokratie in Europa, Stuttgart

“Wohin steuert die Europäische Union? Darauf vermisse ich eine Antwort”. Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans Jürgen Papier, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Juni 2004

Published 21 July 2004
Original in German

© Leonard Novy Eurozine

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