Verteidigung der Leidenschaft

Von Lemberg nach Gleiwitz, von Gleiwitz nach Krakau, von Krakau nach Berlin (für zwei Jahre); dann nach Paris, für lange Zeit, und von dort Jahr für Jahr vier Monate nach Houston. Meine erste Reise erfolgte zwangsweise, aufgrund internationaler Abkommen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs besiegelten, die zweite aus gewöhnlichem Wissensdurst (die jungen Polen meinten damals, die beste Bildung bekäme man im alten Krakau). Das Motiv meiner dritten Reise war Neugier auf die andere, die westliche Welt. Bei der vierten waren, im Vertrauen gesagt, “persönliche Gründe” im Spiel. Meine fünfte Reise (Houston) erfolgte wiederum aus Neugier auf die Welt (auf Amerika) sowie – vorsichtig formuliert – aus ökonomischen Erwägungen.

In Lemberg, über hundert Jahre die Hauptstadt Galiziens und Teil des Habsburger Reichs, vereinten sich westeuropäische Kultureinflüsse mit der Ausstrahlung des Ostens (der hier freilich weniger spürbar war als in Wilna oder gar Warschau). Gleiwitz, Provinz- und preußische Garnisonstadt, deren Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von drei älteren Herren Polen zugesprochen; in der Schule lernte ich Russisch und Latein und privat Englisch und Deutsch. Die Tatsache, dass meine Familie – gezwungenermaßen – von Lemberg nach Gleiwitz umsiedelte, war symptomatisch für die gewaltigen Umwälzungen. Zwar wurde mein Land 1945 dem Ostimperium zugeschlagen, doch paradoxerweise verschob es sich physisch gleichzeitig nach Westen, was viel später Früchte zeitigen sollte.

Mein Großvater war zweisprachig, Polnisch war seine zweite Sprache. Ihn hatte die deutsche Familie seiner früh verstorbenen Mutter großgezogen; aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sich während der Okkupation in die deutsche “Volksliste” einzutragen. Als junger Mann schrieb er auf deutsch eine Dissertation über Albrecht von Haller, die um 1900 in Straßburg erschien.

In Krakau spürte ich die besten polnischen Traditionen – Anklänge der Renaissance, die in der Architektur und den Exponaten der Museen zum Ausdruck kamen. Ich spürte den Liberalismus der Intelligenz des 19. Jahrhunderts, die Energien der beiden Zwischenkriegsjahrzehnte sowie das Wirken der demokratischen Opposition.

Westberlin erschien mir Anfang der achtziger Jahre wie eine eigentümliche Synthese von einstiger Reichshauptstadt und einer von Manhattan und der Avantgarde faszinierten Metropole (manche Intellektuelle und Künstler betrachteten die Mauer offenbar als eine weitere Schöpfung von Marcel Duchamp). In Paris begegnete ich nicht mehr den großen Geistern, den bedeutenden Richtern über die Zivilisation, ich kam zu spät. Dafür erlebte ich die Schönheit einer europäischen Großstadt, die als eine der wenigen das Geheimnis ewiger Jugend bewahrt hatte (nicht einmal die Barbarei Baron Haussmanns hatte die Kontinuität des urbanen Lebens zerstören können). Am Ende meiner kurzen Liste lernte ich dann das in einer Ebene gelegene Houston kennen, eine Stadt ohne Geschichte, eine Stadt immergrüner Eichen, eine Stadt der Computer, Autobahnen und des Erdöls (aber auch wunderbarer Bibliotheken und einer großartigen Philharmonie).

Allmählich begriff ich, dass ich aus der Kriegskatastrophe – dem Verlust meiner Geburtsstadt – und auch den späteren Reisen einen gewissen Nutzen ziehen konnte, wenn ich nicht zu träge war, mir die Sprache und Literatur meiner wechselnden Wohnorte anzueignen. Und so bin ich jetzt wie der Passagier eines kleinen U-Bootes, das nicht nur über ein, sondern vier Periskope verfügt. Das Hauptperiskop zeigt mir meine Familientradition; das zweite öffnet sich auf die deutsche Literatur, auf ihre Dichtung, ihr einstiges Streben nach Unvergänglicheit; das dritte blickt auf die französische Kultur mit ihrem scharfen Geist und ihrem jansenistischen Moralismus; das vierte auf Shakespeare, Keats und Robert Lowell, die Literatur des Konkreten, der Leidenschaft und der Konversation.

Irgendwann im September, Europa war gerade in intensiver Entspannung begriffen, verbrachten wir zwei Wochen in einer der schönsten europäischen Landschaften, in Chianti in der Toskana. Im Innenhof eines hochherrschaftlichen Besitzes, einem zum Palast ausgebauten und von einem prachtvollen Garten umgebenen Kloster aus dem 11. Jahrhundert, das längst keine Mönche mehr beherbergte, fand ein Kammerkonzert statt. Das Publikum war von besonderer Art: bis auf wenige Ausnahmen (darunter auch ich) wohlhabende Leute, Eigentümer benachbarter Paläste, Herrenhäuser und Villen; eine internationale Gesellschaft – zahlreiche Engländer, Amerikaner und natürlich Italiener. Manche verbrachten nur den Sommer in der Toskana, andere lebten ständig hier. Das Konzert begann mit einem Mozartquartett; vier junge Frauen musizierten ganz hervorragend, aber der Applaus hielt sich in Grenzen. Das ärgerte mich, und ich kam auf die Idee, dass man die Begeisterung verteidigen müsse. Warum waren diese reichen Leute unfähig, eine so großartige Mozartinterpretation zu würdigen? Lag es am Reichtum? Warum bewirkte eine begeisternde Mozartinterpretation keine begeisterte Reaktion?

Unter den Büchern, die ich damals in den Urlaub mitgenommen hatte, waren auch Essays von Thomas Mann, darunter “Freud und die Zukunft” aus den dreißiger Jahren. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der lauen Reaktion eines betuchten Konzertpublikums und einem Essay von Thomas Mann? Vielleicht den, dass ich bei Mann, der neben dem Essay gleichzeitig an dem Roman Joseph und seine Brüder arbeitete und nach einem Fundament für seine geistige Neuorientierung suchte, auch eine eher laue, ironische Haltung feststellte. Natürlich hatte diese ganz und gar nichts gemein mit der Haltung meines blasierten Konzertpublikums. In seinem Essay vergleicht Mann Freuds Grundintention mit der Arbeit eines Pioniers in einem Minenfeld: Es handelt sich um hochexplosives Material; die alten Mythen bergen schwere Gefahren; sie gleichen noch nicht entschärften Bomben. Natürlich muss man die Essays historisch und in ihrem Kontext lesen. Thomas Mann interpretierte Nazismus und Faschismus als Rückkehr zu den Energien der mythischen Welt, zu der zerstörerischen Gewalt archaischer Mythen; er versuchte der Terrorwelle das besänftigende Wesen humanistischer Ironie entgegenzusetzen, einer Ironie, die nicht wehrlos, abstrakt und intim, sondern dem Mythos aufgepfropft war, allerdings auf ihre Art, indem sie das Leben animierte und auf Gewalt verzichtete.

Hat also Thomas Mann den Sieg davongetragen? Denn ähnliche Töne hört man heute in modernen und postmodernen Kreisen. Die Ironie ist keine Waffe mehr gegen die Barbarei eines primitiven Systems, das sich in Europa triumphal etablierte, sondern artikuliert eher Enttäuschung über den Absturz utopischer Visionen und über die durch Erosion und Kompromittierung verursachte Krise jener Ideen, die die Metaphysik religiöser Überzeugungen durch eschatologische politische Theorien ersetzen sollten. Der Ironie als desperatem Schutzschild gegen die Barbarei – diesmal die Barbarei des Kommunismus, seine seelenlose Bürokratie – hat sich so mancher osteuropäische Dichter bedient (heute hat auch das ein Ende; ist der Neokapitalismus nicht ein geschickter Ironiker?).

Aber nein, nicht Thomas Mann hat gesiegt, sondern eine andere Spielart der Ironie; auf jeden Fall befinden wir uns in einer ironischeren und skeptischeren Landschaft; alle vier Periskope zeigen mir ein ähnliches Bild, wahrscheinlich verteidigt man nur noch in meiner Heimat die letzten Bastionen eines assertorischen Weltverhältnisses.

Manche Autoren kritisieren die Konsumgesellschaft mit dem Mittel der Ironie, andere attackieren nach wie vor die Religion, wieder andere die Bourgeoisie. Manchmal drückt die Ironie auch etwas anderes aus: das Verlorensein in einer pluralistischen Welt. Und mitunter bemäntelt sie nur Gedankenarmut. Denn wenn man nicht weiß, wie man sich verhalten soll, ist Ironie kein schlechter Ausweg. Danach sehen wir weiter.

Die Ironie rühmt auch Leszek Kolakowski in seinem Essay “Narr und Priester” (1959), einem nicht nur in akademischen Kreisen berühmten Text, den man sich in Warschau, Prag, Sofia, Moskau und bestimmt auch in Ostberlin aus den Händen riss. Die brillante Argumentation versprach eine neue Sicht. Sie beschwor die Allgegenwart theologischer Traditionen, auch wenn sie sich in zeitgemäßem Gewand darboten. Dem Dogma des hieratischen Priesters – der intelligente Leser erkannte die leidenschaftliche Kritik am Stalinismus – stellte er den scharfsinnigen, proteushaften Narren gegenüber, der die versteinerte, auf eine Doktrin gegründete Zivilisation verspottete. Dieser Text, der seine Kraft und Frische bis heute bewahrt hat, war damals ein origineller Beitrag zur Kommunismuskritik. In ihm schwingt ein Nachklang der vielen urkomischen Studentenkabarette, die in Danzig, Warschau, Krakau ihren überschäumenden antisowjetischen Humor produzierten. Auch in der Poesie (bei Wislawa Szymborska, deren Gedichte man neben Kolakowskis programmatischem Essay lesen sollte) gibt es verwandte Töne.

Kolakowski hat sein Manifest hinter sich gelassen – er beschäftigt sich zunehmend mit theologischen Problemen (die ihn übrigens schon immer interessierten); der glänzende “Techniker” der Philosophie, der Autor der Hauptströmungen des Marxismus näherte sich dem Glauben asymptotisch, als wollte er uns sagen (nie direkt, er ist kein Dichter), dass man nicht permanent in der Situation eines Narren leben kann, da diese sich im Polemischen, in unablässigen Angriffen auf mächtige Gegner erschöpft.

In dem Essay “Odwet sacrum w kulturze s’wieckiej” (Die Rache des Heiligen in der säkularen Kultur) sagt Kolakowski: “Eine Kultur, die den Sinn des Sacrum verliert, verliert jeglichen Sinn.” Der Priester kann ohne den Narren auskommen; doch niemand begegnet einem Narren in der Wüste oder der Waldeinsiedelei. Aber unser Zeitalter, der Puer aeternus der Geschichte, vergöttert den Widerspruch. Nicht ohne Grund hat Bachtins Konzeption des “Karneval”, eine Revolte gegen die Hierarchien, den Literaturprofessoren so gefallen.

In der Vertreibung des Menschen aus der Kunst verweist Ortega y Gasset in dem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift “Zur Ironie verurteilt” auf den ironischen Charakter der Avantgarde, auf ihre Abneigung gegen das Pathos und das Erhabene: “Es ist klar, dass die neue Kunst durch dies unvermeidliche Ingrediens der Ironie einen äußerst gleichförmigen Anstrich erhält, der den Geduldigsten zur Verzweiflung bringen kann.”

Zu langes Verweilen in der Welt der Ironie und des Zweifels weckt Verlangen nach nahrhafterer Kost. Vielleicht sehnen wir uns nach einer neuerlichen Lektüre von Platos Gastmahl mit Diotimas klassischer Rede über die vertikale Wanderung der Liebe. Es kann aber auch passieren, dass eine amerikanische Studentin über Plato sagt: “He’s such a sexist”, und ihr Kommilitone, die erste Strophe von Hölderlins Elegie “Brot und Wein” kommentierend, feststellt, es gebe in unseren Großstädten keine richtige Dunkelheit, keine richtige Dämmerung mehr, da Lampen, Computer und Energie nie ausgehen. Als wollte er nicht zur Kenntnis nehmen, was wirklich wichtig ist, der Übergang nämlich von der Geschäftigkeit des Tages zur Meditation, die uns die Nacht, “die Fremdlingin”, bietet.

Das erweckt den Anschein, als favorisiere unsere Gegenwart nur eine Etappe der ewigen, nie endenden Wanderung, die mit Platos Begriff metaxu so trefflich beschrieben ist: das Dazwischen-Sein zwischen unserer Erde, zwischen der uns (vermeintlich) vertrauten materiellen Umgebung und der Transzendenz, dem Geheimnis. Metaxu definiert die Situation des Menschen als die eines Wesens, das sich “auf halbem Wege” befindet. Simone Weil und auf andere Art Eric Voegelin (beides Denker, die den Totalitarismus hassten und aus deren Schriften ich von Platos metaxu erfuhr) haben diesen Begriff verwendet. Voegelin machte ihn sogar zur zentralen Kategorie seiner Anthropologie.

Nie können wir uns in der Transzendenz auf Dauer niederlassen (nie erkennen wir ihren Sinn). Diotima ermutigt uns zu Recht, der Schönheit, den schöneren Dingen entgegenzugehen, doch in den höchsten Alpenregionen wird sich niemand ansiedeln, dort länger seine Zelte aufschlagen oder im ewigen Schnee ein Haus bauen. Wir werden täglich hinuntersteigen (um zu übernachten … die Nacht hat zwei Gesichter: Sie ist die “Fremdlingin”, die uns zur Meditation aufruft, aber auch die Zeit der Gleichgültigkeit, des Schlafes, und Schlaf verlangt ein radikales Auslöschen der Ekstase). Wir kehren zur Normalität zurück: Nach der Epiphanie, nach der Niederschrift eines Gedichts gehen wir in die Küche und überlegen, was wir zu Mittag kochen; dann öffnen wir den Brief, aus dem eine Telefonrechnung fällt. So pendeln wir unablässig zwischen dem inspirierten Plato und dem sachlichen Aristoteles … Glücklicherweise, denn oben droht Wahnsinn und unten Langeweile.

Wir befinden uns stets “dazwischen”; und permanent in Bewegung, verraten wir in gewissem Sinne stets die andere Seite. Verwickelt in den Alltag, in die triviale Routine des praktischen Lebens, vergessen wir die Transzendenz. Nach dem Göttlichen strebend, vernachlässigen wir das Gewöhnliche, das Konkrete und übersehen den Kieselstein, dem Zbigniew Herbert ein schönes Gedicht widmete, eine Hymne an dessen steinerne, souveräne Präsenz.

Die Beziehungen zwischen hoher und niederer Ebene sind kompliziert. Betrachten wir Chardins schönes Stilleben mit Pflaumen aus der Frick Collection in New York: Anscheinend haben wir es hier lediglich mit einem dickwandigen Trinkglas zu tun, mit glänzender Emaille, einem Teller und einer bauchigen Flasche. Wir haben ja gelernt, konkrete einzelne Dinge zu lieben. Wofür? Dafür, dass sie existieren, dass sie gleichgültig, das heißt unbestechlich sind. Wir haben gelernt, Sachlichkeit, genaues Beschreiben, zutreffende Darstellungen zu schätzen – zumal in einer Zeit, die sich, vor allem in Mitteleuropa, gern der Lüge bediente.

Metaxu ist mehr als ein Schwebezustand zwischen Himmel und Erde; für diejenigen, die zu denken und zu schreiben versuchen, enthält diese Kategorie auch eine ernste Warnung. Da wir nicht versteinern dürfen – weder in der Höhe noch unten auf der Erde –, müssen wir uns genau beobachten und uns, falls wir ein erhabenes Leben anstreben, vor Rhetorik hüten, gegen die gerade die Frommen nicht gefeit sind. Fast hat es den Anschein, als führe Religiosität mitunter zu unerträglichem Dünkel und zu dem salbungsvollen Priesterton, den man in manchen Tempeln hört. Aber wir wollen nicht übertreiben. In ihrem autobiographischen Werk The Land Unknown sagt die Dichterin und Philosophin Kathleen Raine: “Die moderne Praxis neigt immer mehr dazu, die Regeln bezüglich dessen, was oder was man nicht sagt, einfach umzukehren. Man hält es für ‘ehrlicher’ und in diesem Sinne auch für wahrhafter, niedere Gedanken auszusprechen, anstatt Zeugnis abzulegen von den Ahnungen, die nur in jenen Momenten aufscheinen, wenn wir unser gewohntes Ich transzendieren. Die Behauptung, erhabene oder schöne Dinge gesehen zu haben, gilt als heuchlerische Selbstüberhebung …”

Und hatte Benedetto Croce nicht recht, als er in seiner 1939 in Oxford vorgetragenen “Verteidigung der Poesie” sagte: “Sie [die Kritiker] sind mit einer seltsamen Immunität ausgestattet, die es ihnen erlaubt, sich ein Leben lang mit Gedichtbänden zu beschäftigen, sie herauszugeben und mit Anmerkungen zu versehen, Interpretationen zu diskutieren, Quellen zu erforschen, biographische Informationen zu sammeln, ohne Gefahr zu laufen, sich am poetischen Feuer zu entzünden.” Und über die Priester: “Religiöse Faszination empfinden große Geister und ganz einfache Menschen, aber nicht unbedingt jene, die mit den heiligen Gefäßen umgehen, Priester und Mesner, die gleichgültig und manchmal ohne jegliche Ehrfurcht die Rituale vollziehen.”

Andererseits kann man auch in der Ironie und in der vulgären Alltäglichkeit leicht “versteinern”, und das – nicht der Hochmut der Priester – scheint mir die wirkliche Gefahr unserer Zeit zu sein. Überdies sind Leidenschaft und Ironie nicht kohärent; aber nur Leidenschaft ist ein Grundbaustoff unserer Literaturkonstrukte. Zwar ist die Ironie genauso unentbehrlich, aber sie kommt später, sie ist, wie Norwid sagte, “die ewige Korrektorin” und hat eine ähnliche Funktion wie Fenster und Türen, ohne die unsere Bauwerke bloß solide Denkmale wären und keine bewohnbaren Behausungen. Die Ironie schlägt nützliche Öffnungen in die Mauern, wenn es aber keine Mauern gäbe, müsste sie das Nichts durchlöchern.

Wir haben gelernt, die Dinge zu schätzen, weil sie existieren. In einer Zeit wahnwitziger Ideologien und utopischen Widersinns verharrten die Dinge in ihrer kleinen, aber unerschütterlichen Würde. Nicht nur das: Wir haben gelernt, die Dinge auch deshalb zu achten, weil alles, was sie betrifft, klar und präzise definiert ist. Keine Nebelwände, keine Rhetorik, keine Übertreibung. Aber es kann geschehen, dass sogar Platos Diotima voller Hochgefühl in Richtung Pathos segelt, und wer weiß, vielleicht werden wir uns für sie schämen. Und unsere Theologen, verlassen sie nicht liebend gern die sachlichen Ufer, das Territorium, wohin wir ihnen noch folgen können? Und unsere romantischen Dichter, sind sie nicht zu weit gegangen?

Die Studenten, die den Sinn von Diotimas Rede und der Eingangsstrophe zu “Brot und Wein” zu ergründen versuchen, wehren sich gegen das Pathos, als fürchteten sie, getrieben von der Stimme der ironischen Souffleuse, der Stimme unserer skeptischen Epochen-Tante, die zerstörerische Kraft ekstatischen Erlebens. Aber dadurch verharrt jenes ebenso großartige wie archaische und stets aktuelle va et vient zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen nüchternem Empirismus und dem Sich-Berauschen am Sichtbaren, zwischen dem Konkretum des Lebens und dem Göttlichen – es verharrt in seiner niederen Phase, nicht nur die Studenten gebieten ihm Einhalt, sondern all die vielen, die sich im Druck und im Internet äußern, unsere geistigen (oder, besser, mentalen) Gesetzgeber, unsere Kulturführer, unsere jeweiligen bien pensants.

Ungewissheit ist nicht das Gegenteil von Leidenschaft; wenn man die Spannung von metaxu aufrechterhält, wird Ungewissheit (nicht identisch mit Zweifel!) nie zum Fremdkörper, weil unser Hiersein und unser Glaube nie absolut und permanent sanktioniert werden, wie sehr wir auch danach streben. Ironie hingegen ist die Aufhebung der Ungewissheit; wenn Ironie im Denken einen zentralen Platz einnimmt, wird sie zu einer ziemlich perversen Spielart der Gewissheit. Selbstverständlich kann man verschiedene Ironien ausmachen; in der Poesie von Zbigniew Herbert bezieht sie sich meist auf die Person, die ihre Meinungen kundtut, die Wahrheit oder das Gesetz (nomos) sucht, und sie wird häufig zur Selbstironie – der Wahrheitssucher betrachtet skeptisch sich selbst (hüte dich dennoch vor überflüssigem hochmut/ betrachte dein narrengesicht im spiegel) und nicht die Wahrheit oder das Gesetz, wie häufig bei modernen Autoren, die selten sich selbst, aber gern alles andere in Zweifel ziehen.

In schweren Zeiten erwächst die Bewegung zum “Schönen” zuweilen aus schlechtem Gewissen, aus moralisch zweifelhaften Situationen. “Das brennende Paris, ein herrlicher Anblick!” spottet W.G. Sebald über die Begeisterung des Hauptmanns Ernst Jünger. In seinem kritischen Essay “Der Schriftsteller Alfred Andersch” schreibt er: “In Kirschen der Freiheit [Anderschs Autobiographie] ist die Rede von der sonn- und festtäglichen Flucht ins Ästhetische, die es ihm erlaubte, ‘im Schmelz der Lasuren Tiepolos die Wiederentdekkung der eigenen verlorenen Seele zu feiern’.” Ich bin mit Anderschs Werk nicht sonderlich vertraut; als junger Mann hat er sich mit dem Dritten Reich arrangiert, ich vermute, dass Sebald in dem Punkt recht hat. Übrigens lässt er einen anderen bezeichnenden Satz von Andersch unerwähnt: “Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.”

Wer sich über den Zustand der Literatur Gedanken macht, sollte sich dessen bewusst sein, dass unter den Pfaden, die auf den Platonischen Berg führen, auch der Pfad der Heuchelei ist. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass auch die anderen Pfade nicht frei von Heuchelei sind oder sein können und dass die Andersch angelastete Heuchelei vermutlich vor allem in totalitären Systemen grassiert, also ein Phänomen ist, das Australier, Eskimos und Kathleen Raine kaum kennen dürften. Vielleicht weiß auch die junge Generation von heute nicht viel davon. Schönheit im Totalitarismus – aber das ist ein besonderes Problem; das ist Mandelstam in Woronesh, der sich nach Schubert und Ariost sehnt, und Jaroslaw Iwaszkiewicz in Podkowa Les’na, ein großartiger Dichter und ausgemachter Opportunist. Hier könnte man eine wesentliche Korrektur anmelden: Ausflüge auf den “Berg” sollte man nur im Besitz innerer Redlichkeit unternehmen.

Und der Sinn für Humor? Kann er mit der Leidenschaft koexistieren? In den postum veröffentlichten Cahiers von Cioran heißt es: “Simone Weil hat keinen Sinn für Humor. Hätte sie ihn, wäre sie im geistigen Leben nicht so weit vorangeschritten. Denn der Sinn für Humor entfernt uns von der Erfahrung des Absolutums. Mystik und Humor dulden einander nicht.” Die nächste Notiz präzisiert diese Aussage; Cioran hat wohl gemerkt, dass er eine Halbwahrheit niedergeschrieben hat, und ergänzt: “…Angenommen, das Heilige kann mit Momenten des Humors, ja mit dem Humor selbst koexistieren. Wenn es aber überleben will, kann es Ironie als System nicht tolerieren …”

Man kann sich gut vorstellen, dass Meister Eckhart lacht, sich schieflacht. Ich sehe keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Humor und mystischem Erleben; beide entreißen uns der Wirklichkeit. Beim Lachanfall ebenso wie bei Anwandlungen von jäher Frömmigkeit werfen wir den Kopf nach hinten!

Der schöne Satz Paul Claudels: “Artur Rimbaud war ein Mystiker im Zustand der Wildheit”, könnte für alle Dichter gelten, die leidenschaftlich nach verborgener Wahrheit suchen. Und mehr, auch auf alle Mystiker. Kann man sich einen domestizierten Mystiker vorstellen, einen beruhigten, einen Mystiker mit Planstelle? Einen Dichter, der mit seiner Ausbeute zufrieden ist? Leider wissen wir aus Erfahrung, wie leicht man selbstzufriedenen Lyrikern und Theologen begegnet. Aber man darf sich nur “im Zustand der Wildheit” auf die Suche begeben … dafür ist Paul Claudel ein Beispiel. Seine Fünf Großen Oden enthalten herrliche wilde Fragmente, während seine späteren religiösen Gedichte häufig von fortgeschrittener Domestizierung zeugen.

“Wir müssen wirklich Verbrechen begangen haben, dass solches Unheil über uns hereingebrochen ist, denn wir haben die Poesie des Universums verloren”, sagt Simone Weil. Hier könnte einer dagegenhalten: Mag sein, aber dafür haben wir etwas anderes gewonnen, Einfühlungsvermögen in das Unglück, das unseren Nächsten und uns widerfährt, wir haben uns von der Gleichgültigkeit befreit, die den Jüngern der Poesie manchmal eigen ist. Nicht nur das; wir haben auch an kritischer Haltung gewonnen und sind zu aufmerksamen Beobachtern der gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden. Das will ich nicht ignorieren; kritische Haltung (vom Dogmatismus der Marxschen Metaphysik abstrahiert) ist ungeheuer wichtig, und wenn ich hier die Notwendigkeit einer anderen Suche betone, dann nicht deshalb, weil ich Gesellschaftskritik durch religiöse Unruhe abgelöst sehen möchte. Schließlich werden die osteuropäischen Dissidenten wohl nie vergessen, auch wenn sich ihre Interessen inzwischen verändert haben, wie schwer ehrliche, mutige Kritik ins Gewicht fällt.

Doch was ist Poesie?

In den Katalogen der großen Bibliotheken findet man unendlich viele Aufsätze zum Thema “Verteidigung der Poesie”, eine beinahe schon eigene Gattung mit ehrwürdiger Tradition und zugleich eine, die der Verzweiflung nahe ist. Bereits die Titel klingen nach Kapitulation. Am ehesten überzeugen uns noch Autoren wie Joseph Brodsky, der die Poesie so leidenschaftlich – und nicht ohne begeisternden Hochmut – verteidigt, dass er den Gegner in die Defensive zwingt (leider merkt der Gegner gar nicht, dass er auf den Brettern liegt; Verteidigungen der Poesie werden ja nur von Freunden der Autoren gelesen!).

Was Poesie ist, wissen wir glücklicherweise nicht allzu genau und müssen es auch nicht unbedingt analytisch wissen. Auch ich habe nicht den Ehrgeiz, sie zu definieren. Es wäre aber verlockend, die Poesie in der Bewegung “dazwischen” zu sehen, als eines der wichtigsten Vehikel, das uns emporreißt; und um zu begreifen, dass Leidenschaft vor Ironie geht. Leidenschaft; der feurige Gesang der Welt, auf den wir mit unserem unvollkommenen Gesang antworten.

Wir brauchen Poesie, so wie wir Schönheit brauchen. Schönheit ist nicht für Ästheten, Schönheit ist für jeden da, der nach einem ernst zu nehmenden Weg sucht; sie ist Appell, ist Verheißung – vielleicht nicht des Glücks, wie Stendhal es wollte, sondern einer großen, nie endenden Wanderschaft.

Das Unglück unserer Zeit liegt darin, dass wer sich nicht irrt, irrt, und wer sich irrt, recht behält. T.S. Eliot (in Zum Begriff der Kultur) und andere konservative Autoren irren, wenn sie die Situation des modernen Menschen analysieren, vielleicht nicht “ontisch”, aber sie kommen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht zurecht und sind nicht in der Lage, den phänomenalen (wenngleich fragilen) Vorteil einer liberalen Demokratie zu erkennen; jene dagegen, die unsere politischen Probleme analysieren und auf Ungerechtigkeit reagieren, sind oft geistig überfordert und ratlos. Vielleicht hilft uns hier Charles Taylors brillante Beobachtung in seinem Buch Quellen des Selbst: In unserem Zeitalter triumphieren, zumindest im Westen, in den öffentlichen Institutionen die Werte der Aufklärung, während wir im Privatleben an romantischem Ungenügen leiden. Bei öffentlichen Entscheidungen und Gemeinschaftsinteressen billigen wir rationale Verfahren, zu Hause aber, in der Abgeschiedenheit, suchen wir weiter nach dem Absolutum und sind außerstande, Entscheidungen hinzunehmen, die wir in der öffentlichen Sphäre akzeptieren.

Eine antimetaphysische, politisch redliche liberale Linke (oder besser wohl “Mitte”) und eine potentiell gefährliche Rechte, die aber das Gewicht des geistigen Lebens kennt, so ließe sich unser seltsames Dilemma benennen.

Haben wir es hier nicht weiterhin mit den Gestalten des Zauberbergs zu tun, mit dem sympathischen Settembrini, der jetzt in der Tagesschau auftritt oder Kommentator einer führenden Tageszeitung ist, die für Demokratie und humanistische Werte eintritt? Wir lauschen ihm interessiert, lesen seine Kolumnen, doch manchmal verübeln wir ihm eine gewisse Oberflächlichkeit. Und der dämonische Naphta, den wir nicht sonderlich mögen, überrascht er uns nicht manchmal mit intuitiven Erkenntnissen über die Welt der Kultur? Naphta wird man im Fernsehen kaum erleben, seine Traktate erscheinen in elitären Zeitschriften, die die glückliche Mehrheit der gewöhnlichen Sterblichen kaum kennt.

Wenn Parlamentswahlen nahen, neigen wir instinktiv zu Settembrini, denn wir spüren, dass er uns bei all seiner Überspanntheit das Lager zeigen kann, das uns vermutlich nicht erlöst (bei Wahlen geht es schließlich nicht um Erlösung!), aber auch nicht enttäuscht, nicht an den Abgrund führt.

Hinterher aber, wenn das Wahlfieber abgeklungen ist und sich wieder eine anständige moderne Zivilisation etabliert hat, wird uns Settembrini dann nicht allmählich ermüden und langweilen, und werden wir uns nicht eher nach dem interessanten Herrn Naphta umschauen? Möchten wir nicht lieber mit Naphta über unsere metaphysische Unruhe reden? Darin kennt er sich aus. Wird er uns nicht mit seinen Reflexionen über die fundamentale Einheit der Welt faszinieren? Wir verzeihen ihm seinen zweifelhaften Humor, seine Ungeschicklichkeit; Hauptsache, er erregt in uns den seltsamen, erregenden philosophischen Schauer, dessen wir zuweilen bedürfen und den uns der brave Settembrini nicht zu geben vermag.

In Ludwig Rohners großartiger Sammlung Deutsche Essays (1968) fand ich Ludwig Curtius’ “Begegnung beim Apollo von Belvedere” aus dem Jahre 1947. Darin berichtet er von der (wirklichen oder fiktiven) Begegnung mit einem jungen Architekten, der als Wehrmachtssoldat an vielen Fronten kämpfte, aber dem Gemetzel heil entkam. Der von den Kriegsgreueln schwer gezeichnete Mann verbringt drei Abende mit dem Autor und hält drei ungewöhnliche Vorträge. Ausgangspunkt ist der von Winckelmann und Goethe bewunderte Apollo von Belvedere, der bei manchen Kunsthistorikern in Ungnade fiel, als man entdeckte, dass er wie viele andere Statuen nur eine römische Kopie war. Der junge Architekt hält ihm jedoch die Treue und entdeckt an ihm eine seltene Eigenschaft, “Würde”, an der es nach seinem Dafürhalten vielen neueren Kunstwerken mangelt. Am zweiten Tag spricht er über die Bedeutung der “Proportionen” bei der Bewertung und mehr noch beim Erleben architektonischer Kunstwerke und am dritten Tag über das “Geheimnis”, das in großen Werken verborgen ist wie die Kerne im Apfel.

Am vierten Tag schifft er sich nach Argentinien ein. Für immer. Und der Leser gerät ins Grübeln, ob er es mit einer allegorischen oder mit einer konkreten Figur zu tun hat. Denn man kann den Text auch als einen Abschied vom metaphysischen Element in der deutschen Kultur lesen. Der ältere und erfahrenere Autor, der von der Intelligenz seines Gesprächspartners hingerissen ist, verabschiedet in der Person des Architekten die Zukunft der deutschen Intelligenz.

Falls die Figur nicht aus allegorischem Material geformt ist, möchte man hoffen, dass es sich nicht um jemanden handelt, der Grund hat, vor den Gerichten der Alliierten zu fliehen (die Handlung spielt in Rom, und das hatte in den Nachkriegsjahren nicht gerade den besten Ruf). Dieser Zweifel ist symptomatisch und beinahe auch automatisch. Leidenschaft, metaphysischer Ernst, starke Urteile sind heutzutage verdächtig; sie landen, ohne lange, sorgfältige Ermittlung, sofort auf der Anklagebank. Aber ich gestehe, dass auch ich den Architekten verdächtigt habe.

Aber die generelle Frage lautet: Ist die geistige Gespaltenheit, die Verschiebung der Kennzeichen, die uns ständig begleitende Gespaltenheit Settembrinis, der die Aufklärung liebt, und Naphta, der das Mittelalter (oder die Romantik) bevorzugt, eine Gespaltenheit, die es mit sich bringt, dass, wer religiöse Leidenschaft empfindet, geradezu automatisch einer “rechten” Gesinnung verdächtigt wird – ist dies ein Dauerzustand, oder ist diese Krankheit der Moderne heilbar?

Aber nicht alle Schriftsteller passen in dieses Gespaltenheitsschema. Simone Weil brauchte das Examen in den binären Kategorien des Zauberbergs gewiss nicht zu fürchten. Oder betrachten wir das poetisch und geistig opulente Werk von Czeslaw Milosz, der die Arithmetik leichter ideologischer Klassifizierung geringschätzt. In seinem Werk beklagt er die Gleichgültigkeit unserer Zeit gegenüber der metaphysischen Problematik und konstatiert wehmütig das Verkümmern religiöser Imagination. Er darf aber keinesfalls als “reaktionärer” Schriftsteller, als Anhänger Naphtas gelten. Sein Essay “Verführtes Denken” wird noch heute in all den Ländern leidenschaftlich gelesen, wo die Intelligenz von einem Rechtsstaat nur träumen kann (wie ich höre, neuerdings auch auf Kuba).

Die Anhänger der beiden so unterschiedlichen Bücher werden gewiss keine gemeinsame Sprache finden, sie gehören zu Lagern, die nicht miteinander reden. Milosz aber gelingt es, sein Interesse an einer liberalen Zivilisation mit starker metaphysischer Sehnsucht zu verbinden. Wie in seinem Gedicht “Mittelbergheim” von 1951:

Noch hab ich die Augen geschlossen. Feuer, Gewalt, Kraft,
Treibe mich nicht, denn es ist noch zu früh.
Ich habe viele Jahre durchlebt und gefühlt wie in diesem
Traum, dass ich an die bewegliche Grenze rühre,
Hinter der Farbe und Klang sich erfüllen
Und wo dieser Erde Dinge zueinander finden.
Noch öffne mir nicht meinen Mund mit Gewalt,
Lass mich vertrauen, glauben, dass ich es erreichen werde,
Und lass mich rasten in Mittelbergheim.

Ich weiß, dass ich sollte. Herbst und Holzräder und die
Tabak-
Blätter unter dem Dachfuß stehen mir bei.
Hier und überall ist mein Land,
Wohin ich mich wende, in welcher Sprache ich auch
Das Kinderlied, das Gespräch eines Liebespaares
Höre. Mehr als die anderen glücklich, nehme ich auf
Den Blick, das Lächeln, den Stern, die Seide,
Die auf der Linie des Knies sich faltet. Heiter, offenen
Blicks
Soll ich durch Berge gehn, im milden Glanzlicht des Tages
Zu Städten, Wegen, Gewässern, Sitten, Gebräuchen.
Feuer, Gewalt, Kraft, die du mich
In der Handfläche hältst, deren Furchen
Wie riesige Schluchten sind, vom Südwind
Geglättet, die du Sicherheit gibst
In der Stunde der Angst, in den Wochen des Zweifelns;
Es ist noch zu früh, mag reifen der Wein,
Die Reisenden mögen schlafen in Mittelbergheim.

Das elsässische Mittelbergheim, ein Dorf oder eine Kleinstadt, wohin ihn Freunde eingeladen hatten (schon der Name ist eine schöne onomastische Fügung; er enthält den Berg und bezeichnet Mitte und Heim), ermöglichte ihm eine innere Wiedergeburt, es vermittelte ihm ein kosmisches Erlebnis von “etwas anderem”, das man in Paris, der Metropole, die sich in den vierziger und fünfziger Jahren wie ein Schwamm mit Ideologie vollgesaugt hatte, nicht mehr erleben konnte. Mittelbergheim eröffnete dem Dichter eine Dimension, die die zeittypischen ideologischen Auseinandersetzungen transzendierte; der elsässische Ort oder einfach Welt, eine archaische und zugleich moderne Welt der Berge, des Weinbaus und der alten dicken Mauern der Bauernhöfe.

Fast in Milosz’ gesamtem Werk finden wir ein unablässiges Reisen zwischen Ideen und Transzendenz, zwischen dem Bedürfnis nach Aufrichtigkeit und Transparenz im Leben der Gemeinschaft, dem Bedürfnis nach Güte und der unstillbaren Sehnsucht nach Größerem, nach Epiphanie, nach Ekstase, in der sich ein höherer Sinn enthüllt (nie bis zum Ende, nie ganz klar). Milosz’ außergewöhnliche Fähigkeit, großen Druck zu ertragen, seine Fähigkeit, vom gesellschaftlichen Bereich auf die metaphysische Ebene zu wechseln, hat ihm eine heute kaum noch anzutreffende poetische Energie verliehen. Es ist ihm gelungen, die Kondition des metaxu in lebenspendende Pilgerschaft, in die Aktivität eines Langstrekkenschriftstellers umzuwandeln.

Der von Nietzsche-Jüngern gern bemühte chtonische Mythos des Antäus, der seine Kraft nur dann erlangt, wenn er die Erde berührt, könnte hier als Ausgangspunkt für eine neue Formel dienen. In seiner Poesie hat Milosz den Antäus-Mythos insofern revidiert, dass Antäus sowohl bei der Berührung der Erde als auch des Himmels seine Kraft erlangt.

Milosz’ glückliche poetisch-essayistische Doppelbegabung, sein gewissenhaftes Erforschen der Wahrheit des Gemeinschaftslebens und der höheren Wahrheit der Begeisterung ermöglichten es ihm, ein Werk zu schaffen, vor dem auch Naphta und Settembrini innehalten müssen – nicht nur mit großer Hochachtung, sondern auch mit tiefer Anteilnahme. Es kann also geschehen, dass echte Leidenschaft nicht trennt, sondern eint. Und nicht zu Fanatismus oder Fundamentalismus führt. Vielleicht führt die Leidenschaft eines Tages zu unseren Buchhandlungen, zu unserem Geist zurück.

Published 11 April 2016
Original in Polish
Translated by Henryk Bereska
First published by Adam Zagajewski's Obrona zarliwosci (a5, 2002) (Polish version); A Defense of Ardor: Essays (Farrar, Straus and Giroux, 2004) (English version); Verteidigung der Leidenschaft. Essays, Edition Akzente, Carl Hanser Verlag 2008 (German Version)

© Adam Zagajewski / Edition Akzente / Carl Hanser Verlag / Eurozine

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