Utopisch scheitern. Zwei Zeitschriftenprojekte

Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.
Samuel Beckett, Worstward Ho

Im Frühjahr 1963 gestehen sie sich ihr Scheitern ein. Die Revue Internationale, Ende 1960 als Hoffnung auf die historische Realisierung eines “Schreibens in der Mehrzahl” (Maurice Blanchot) unter Beteiligung französischer, deutscher und italienischer Schriftsteller erdacht, bleibt Projekt. 1964 erscheint in Italien eine Dokumentation des zusammengetragenen Materials.1 Hans Magnus Enzensberger nennt sie das “Zeichen eines Schiffbruchs”.

Schiffe geraten nicht im Hafen in Not, sondern wenn sie auf hoher See sind. Zerbersten die Planken, so ist das Scheitern, auch etymologisch, das Ergebnis großer Aktivität. Man scheitert am Anspruch.

Hier qualifiziert sich die Idee der internationalen Zeitschrift. Im Moment des Scheiterns ist sie ganz nah bei sich selbst. “For indeed”, notiert bereits Daniel Defoe in seinem Essay upon Projects von 1697, “the true definition of a project, according to modern acceptation, is (…) a vast undertaking, too big to be managed, and therefore likely enough to come to nothing.”2 Defoe entwirft den Projektemacher als eine prometheische Figur, die am Rande des ihr und in ihrer Zeit Möglichen plant. Überfordert und fasziniert zugleich nimmt sie in Kauf, beim Schritt in die Praxis zu stolpern. Defoe, der Schriftsteller-Unternehmer, mag beim Schreiben an den eigenen Schuldenberg gedacht haben, den er seit dem Bankrott seiner Handels- und Spekulationsgeschäfte abzutragen hatte.3

Vom Standpunkt einer Poetik des Scheiterns aus gesehen, ruht auf dem Gelingenden mithin der Verdacht, es habe sich von vorneherein auf der sicheren Seite befunden. Was ohne eine kritische Menge an Aspirationen, Sehnsüchten und Widrigkeiten mit leichter Hand zu verwirklichen ist, kann nicht beanspruchen, im emphatischen Sinne ein “Projekt” genannt zu werden. Irgendwo unterhalb verläuft die Grenze zu den Dingen, die man eben einfach tut (zugegeben wurde diese Linie in den letzten Jahren unsinnig tief gelegt, sodass heute die banalsten Aspekte des Lebensvollzugs zum “Projekt” geraten).

Anders bei Zeitschriftenvorhaben. Sie sind nachgerade idealtypische Projekte von Defoe’schem Zuschnitt. Gelingen ist die Ausnahme. Kommt doch einmal ein Plan durch, so sind Krisen- und Umbruchsituationen aller Art, vor allem Wirtschaftskrisen, dafür günstige Momente. Manchmal helfen auch aus Stiftungs-und Staatskassen subventionierte Frontal-Angriffe auf die Öffentlichkeit, um Zeitschriften einzuführen und vorübergehend am Leben zu erhalten (hier keine Namen). Und manchmal ist die Zeit einfach reif. Es wäre ehrlicher, die Zeitschriftengeschichte nicht länger chronologisch zu erzählen, als ewige Abfolge von Titeln und Medieninnovationen seit dem Journal des Scavans von 1665, sondern kairologisch, als die Geschichte von Plänen, Sehnsüchten, Latenzen und – wenigen – geglückten Coups.

Einer Archäologie des Unveröffentlichten ist damit die Aufgabe gestellt, die Fundamente freizulegen, auf denen die etablierten Periodika unserer Zeit ruhen: In einer ersten Schicht werden die archivierten Pläne für viele Zeitschriften sichtbar, die vor der ersten Ausgabe abgebrochen wurden. Wiederum darunter liegend eine kaum überschaubare Zahl an Vorhaben, die es nicht einmal zur Registerkarte im Archiv gebracht haben, sondern allenfalls über Fußnoten tradiert werden.

Wer noch weiter hinab will, braucht psychoanalytisches Besteck. Es ist aber unwahrscheinlich, dass dort unten viel zum Verständnis von Zeitschriften zu gewinnen ist. Sicher gehören Schreibhemmungen, Momente des Zauderns und problematische Projektemacher-Biografien zum Sehnsuchtssystem der Publizistik dazu, aber man sollte darüber nicht vergessen, was im Zentrum steht. In Zeitschriftenprojekten geht es um Mit-teilung, um den Versuch, aus günstigen historischen Konstellationen heraus gemeinsame Denk-und Handlungsräume zu eröffnen. In diesem Sinne folgen zwei Berichte: zunächst zu Walter Benjamins und Bertolt Brechts Krise und Kritik, dann zur Revue Internationale.

Krise und Kritik

In der Weltkrise um 1930 sitzen Walter Benjamin und Bertolt Brecht über dem Plan einer Zeitschrift beisammen (maßgeblich beteiligt sind zudem Herbert Ihering und Bernard von Brentano, des weiteren Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Alfred Kurella und Georg Lukács). Erdmut Wizisla hat das ambitionierte Projekt dem Vergessen entrissen.4 Krise und Kritik, der Arbeitstitel der Zeitschrift, verdeutlicht: Benjamin und Brecht lassen einem erweiterten Kritikbegriff die entscheidende, vermittelnde Rolle zwischen ästhetischer Verpflichtung und Weltbezug zukommen. Kritik soll in ihrer Zeitschrift nicht auf Literatur- und Theaterkritik beschränkt bleiben, sondern alle Bereiche des Lebens umfassen. “Kritik, wie sie den Gesprächspartnern vorschwebte”, fasst Wizisla die Redaktionssitzungen zusammen, “war eingreifende, wirksame, von Konsequenzen begleitete Kritik, eine Kritik, die … [mit Brechts Worten] … so aufzufassen sei’ dass die Politik ihre Fortsetzung mit anderen mitteln wäre'”.5

In der Überzeugung, die Revolution stehe vor der Tür, und vor der Erfahrung von 1933, gehen Benjamin und Brecht so weit, der entscheidenden Krisis etwas auf die Sprünge helfen zu wollen: “Das Arbeitsfeld der Zeitschrift”, schreibt Benjamin, “ist die heutige Krise auf allen Gebieten der Ideologie und die Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik.”6 Klarer lässt sich das Verhältnis linker Intellektueller zu ihren Zeitschriften nicht formulieren: Wenn nach M. Rainer Lepsius’ berühmtem Wort gilt, dass Kritik der Beruf der Intellektuellen ist, so liegt hier eine Subversion dieser Jobbeschreibung vor, die den Kritiker wieder mit dem revolutionären Projekt in Verbindung bringt. Brecht und Benjamin erarbeiten, was Brecht fortan “eingreifendes Denken” nennt. Kritik nicht als abschließendes Urteil, sondern als gemeinsames Tun. Bezeichnenderweise ist ein Zeitschriftenplan ihr Medium der Aussöhnung von Literatur und Revolution.

Die Anlage des Projekts rückt produktionsästhetische Fragen, etwa der Medientechnologien und der Schreibweise, auf Augenhöhe mit inhaltlichen. Zwar soll die “Gesamteinstellung” der Zeitschrift “scharf nach links” gehen, nicht aber will man Probleme der Form und des Redaktionsprozesses zu Gunsten politischer Erfordernisse opfern. Im Gegenteil rührt der hohe Anspruch – wie auch die Anschlussfähigkeit an die künstlerischen Avantgarden – eben daher, dass Brecht und Benjamin die formale Radikalität der literarischen Moderne als nicht hintergehbare Voraussetzungen gesellschaftlich wirksamer Kritik ansehen. Die resultierende Spannung gilt es aushalten. Eine “wissenschaftliche” Fundierung der Kritik muss, so heißt es gegen die Geschmackskritik des Bürgertums gerichtet, den “technischen Standard” der Literatur respektieren und produktiv machen. Die Krise um 1930 scheint Benjamin und Brecht geeignet, um das bürgerliche Lager auf die ihrer eigenen Literatur innewohnenden progressiven Elemente zu stoßen und sie gleichsam über sich selbst hinauszutreiben: “Die Zeitschrift sollte”, schrieb Benjamin später, “der Propaganda des dialektischen Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen dienen, die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten anzuerkennen genötigt ist”.7

Auf dem Weg in die publizistische Praxis beginnen die beiden Herausgeber, einen “Katalog der Schreibweisen” für Krise und Kritik zu entwickeln. Benjamin bringt das Ideal einer “physikalischen”, “das Experiment benötigenden” Schreibweise ein. Brecht schränkt ein, Literatur solcher Ordnung, die er “Übung” nennt, entspreche letztlich einer “nur durch reale revolution verwirklichbaren stufe des gesellschaftlichen Lebens: des völlig literarisierten – Lebens”.

Jetzt greift die Projektdynamik. So kommt es, dass Krise und Kritik – nach der Frage der Artikulation von Politik und Literatur – auch an die zweite Schwelle ambitionierter Zeitschriftenpublizistik gerät. Dort steht: “Wie wollen wir arbeiten?” und weil Brecht und Benjamin antworten: “Gemeinsam!”, gelangen sie auf die offene See, von der noch kein Herausgeberkollektiv heil zurückgekehrt ist.

Nach Erdmut Wizislas Darstellung planen sie, durch Arbeitsausschüsse und geteilte Verantwortung aller Mitarbeiter sicherzustellen, dass die Zeitschrift gemeinsame Prinzipien erarbeitet und für die Veröffentlichungen öffentlich einsteht. Man will den literarischen Kommunismus der “Übung” so weit wie möglich im Redaktionskreis antizipieren. Anderen geht das zu weit. So zögert Ernst Bloch, seine Autorität und wachsende Bekanntheit an die “Richtlinien” eines Kollektivs abzugeben. Es habe etwas “Grüppchenhaftes”, schreibt er an seine spätere Frau, und ohnehin sei “der Akkord des geniehaft-alexandrinischen Benjamin, des geniehaft-ungewaschenen Brecht übermässig kurios”8. Erdmut Wizisla folgert prosaisch: “Die angestrebte Kollektivität blieb Wunschtraum.”

Als schließlich die ersten Aufsätze für Krise und Kritik eintreffen, zieht sich Benjamin enttäuscht zurück. Es ist nicht geglückt, die Beiträger auf eine neue kritische und kollektive Form zu verpflichten. Zwar wäre mit den vorliegenden Beiträgen eine linke Zeitschrift zu machen, doch derer hat die Weimarer Republik genug. Was die Herausgeber versuchten, gleicht eher einer “Experimentalanordnung”, die, wie Brecht notiert, “das Bild einer Fabrik in Tätigkeit gewähr[t]”. Die Planungen werden noch einige Zeit weitergetrieben, doch die Luft ist raus. Letztlich gilt für Krise und Kritik, was Joachim Kirchner in seiner Zeitschriftengeschichte schon über Schillers prototypisches Horen-Projekt schreibt: “[Das publizistische Unternehmen] beansprucht unsere Teilnahme vielleicht mehr durch das, was ihr Herausgeber, dem idealen Flug seiner Gedanken folgend, mit dieser Monatsschrift erstrebte, als durch das, was im Endergebnis vorliegt […] Die hervorragendsten Schriftsteller der Zeit wie Goethe, Herder, W. v. Humboldt, Kant, Fichte, Woltmann und a. m. waren von Schiller eingeladen und hatten ihre Mitarbeit zugesagt. Aber schon vor dem Erscheinen des ersten Stückes der ‘Horen’ im Jahr 1795 musste der Herausgeber feststellen, daß die Versprechungen nicht eingehalten wurden, und daß die wenigen eingegangenen Beiträge keineswegs seinen Erwartungen entsprachen.”9

Revue Internationale

Es gibt keine Hinweise, dass Maurice Blanchot Kenntnis von Krise und Kritik hat, als er mit seinem internationalen Zeitschriftenprojekt im Winter 1960/61 den Faden aufnimmt. Der Moment ist ebenso vielversprechend wie der dreißig Jahre zuvor: “Die gegenwärtige Weltkrise, bestimmt durch die polare Spannung der Weltmächte Amerika und Rußland”, schreibt Reinhart Koselleck 1959 in der Einleitung zu seinem Buch Kritik und Krise, “ist – historisch gesehen – Ergebnis der europäischen Geschichte. Die europäische Geschichte hat sich zur Weltgeschichte ausgeweitet und vollendet sich in ihr, indem sie die ganze Welt in den Zustand einer permanenten Krise hat geraten lassen […]”10. Es herrscht die nervöse Stimmung eines Zeitenwandels. Hatten um 1930 Wirtschaftskrise, Revolution und faschistische Bedrohung das Terrain eingreifenden Denkens abgesteckt, so ist die große Herausforderung für die Intellektuellen in der von Entkolonisierung und Blockkonfrontation geprägten Welt um 1960, sich zu internationalisieren. Es bleibt ihnen keine Wahl, wenn sie Handlungsräume und Beschreibungskraft wiedergewinnen wollen, schließlich sind, wie Maurice Blanchot an Schriftsteller-Kollegen in Deutschland und Italien schreibt, fortan ,”sämtliche Probleme von internationaler Dimension”11. Als Antwort auf die Frage, was das für politisch-literarische Publizistik bedeutet, entsteht zwischen Winter 1960/61 und Frühjahr 1963 einer der radikalsten Zeitschriftenpläne des vergangenen Jahrhunderts.

Über zwanzig Autoren verschiedener Herkunft und Sprache sind beteiligt. Von einem Kern um Maurice Blanchot, Dionys Mascolo und Elio Vittorini ausgehend, kommen im Laufe der Zeit Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Uwe Johnson, Martin Walser und Peter Rühmkorf im deutschsprachigen Raum hinzu. Italo Calvino und Francesco Leonetti in Italien. Robert Antelme, Roland Barthes, Michel Butor, Marguerite Duras, Louis-René des Forêts, Michel Leiris und Maurice Nadeau in Frankreich. Leszek Kolakowski in Polen.

Das Projekt leidet an zahllosen Hindernissen, Unverträglichkeiten, Rückschlägen und divergierenden Interessenlagen. Um sie aufzuarbeiten fehlt hier der Raum.12 Entscheidend ist, dass die Revue Internationale nicht etwa daran scheitert, dass man um 1960 keine internationale Zeitschrift machen kann – dazu sind alle Autoren und die drei Verlage Suhrkamp, Einaudi und Julliard bereit. Eine internationale Zeitschrift, das wäre eine, zu der ein Kreis politisch wie literarisch verwandter Autoren Texte beisteuert und diese in regelmäßiger Folge unter gemeinsamer Herausgeberschaft in mehreren Ländern veröffentlicht. Das ist es wohl, was den deutschen Beteiligten um 1960 vorschwebt. “Ich sagte neulich zu Robert (Antelme) und Dionys (Mascolo)”, hält Blanchot in einem Brief an Elio Vittorini fest, “dass wir keiner der Schwierigkeiten begegnen würden, die uns begleiten, wenn unser Ziel ausschließlich eine internationale politische Zeitschrift wäre.”13

Doch er und seine Pariser Freunde wollen mehr: Wie bei Krise und Kritik geht es auch in dieser “Experimentalanordnung” darum, nicht einfach eine weitere Zeitschrift zu lancieren, sei sie auch noch so wirkmächtig und – im genannten, schwachen Sinne – international. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, eine neue publizistische Form und Arbeitsweise zu entwickeln. “Als Zeitschrift, die international ist, muss sie dies auf wesentliche Weise sein”14, verlangt Blanchot in der Projektskizze. Hatten Brecht und Benjamin versucht, die bürgerlichen Intellektuellen im Prozess einer radikalen und immanenten Kritik auf ihre eigene Radikalität zu verpflichten, so geht es nun darum, den Schriftstellern Wege zur kollektiven Überschreitung des nationalen Status quo zu eröffnen. Wenn sie das leistet, dann kann eine Zeitschrift, schreibt Blanchot, “ein kollektives schöpferisches Werk der Überschreitung sein; ein Werk von Anforderungen, die eine bestimmte Richtung nehmen, und welches allein durch die Tatsache, dass die Zeitschrift existiert, jeden, der sich daran beteiligt, ein wenig jenseits seines eigenen Weges führt”15.

Der erste Schritt in den gemeinsamen Raum des Schreibens ist mit der Preisgabe der in der nationalen Öffentlichkeit erworbenen Souveränität und Autorität verbunden. Nur so ist “totale Kritik” möglich. Jeder Schriftsteller soll die anderen Mitherausgeber über die politischen und kulturellen Vorgänge im je eigenen Land informieren und es dann ihnen überlassen, darüber zu schreiben. So wird jeder für die Texte der anderen verantwortlich, Texte, die er selbst nie verfasst hätte und gleichwohl vor der je eigenen Öffentlichkeit verteidigen muss. “Das ist der Sinn der Zeitschrift als kollektive Möglichkeit”, heißt es aus Paris, und darin liegt der Anspruch des Projekts. Auf die Gefahr zu scheitern – drunter geht es nicht. Nur so kann Scheitern “utopisch” wirken: “Falls wir nicht voll und ganz zu dieser kollektiven Anstrengung entschieden sind, ist es besser, nichts zu unternehmen. Andererseits ist es möglich, dass eine kollegiale Leitung in praktischer Hinsicht undurchführbar ist; das kann sein; dann lassen wir eben davon ab, aber das müssen wir durch unsere Erfahrung bestätigt sehen, und falls es sich um eine Utopie handelt, müssen wir hinnehmen, auf utopische Weise zu scheitern.”16

Wir ahnen: Auch gegen Blanchot wird jemand die Bedenken äußern, die Ernst Bloch gegen Krise und Kritik vorgebracht hatte. Zumal die Revue Internationale über Brechts und Benjamins Plan hinausgeht, der in der Form dem klassischen Essay verpflichtet geblieben war. Blanchot bricht ihn auf, indem er sich von Friedrich Schlegel und den publizistischen Experimenten der Frühromantik inspirieren lässt. Dort ist der Dialog bekanntlich eine “Kette von Fragmenten”. Aber auch sie bricht Blanchot noch einmal auf, internationalisiert Produktion und Artikulation der Elemente und wendet sich in seinem Athenäum-Aufsatz von 1964 gegen Schlegels Diktum, ein Fragment müsse “gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel”. “Le Cours des choses”, die zentrale Rubrik der Revue Internationale, wird von einer radikal unabgeschlossenen, kollektiven, vielleicht gar anonymen écriture fragmentaire geprägt sein.

Doch die theoriegesättigte Reflexion in fragmentarischer Textform steht bei den deutschen Beteiligten unter Ideologieverdacht. Die politischen Ereignisse in den französischen Texten, gibt Johnson bei einem Treffen des Redaktionskreises 1963 in Paris zu verstehen, “seien so indifferent, so indirekt dargeboten; von den deutschen Herausgebern sei aber unmittelbare, ausgesprochene Äusserung erwartet, damit auch von ihrer Zeitschrift”17. Bereits zuvor hatte Helmut Heißenbüttel die französischen Beiträge in die Nähe einer “Ernst Jüngersche[n] Philosophie des Fragments”18 gestellt.

Dabei ist das Gegenteil beabsichtigt. So wie Brecht sein “eingreifendes Denken”, so hat auch Blanchot das für sein spätes Werk stilprägende, fragmentierte “Schreiben in der Mehrzahl”, im eminent politischen Rahmen eines Zeitschriftenplans entwickelt. Die écriture fragmentaire soll die Schriftsteller eben nicht über die politischen Fragen der Zeit stellen, sondern ihnen neue Wege eröffnen, “die Welt zu sagen” (Blanchot). Freilich ist es eine Welt in Stücken, die geteilte Welt, in der 1961 die Mauer gebaut wird. “Das Problem der Teilung – des Bruchs ­, so wie es Berlin stellt […]”, schreibt Blanchot in einem Fragment für die erste Ausgabe, “ist, glaube ich, ein Problem, das wir in seiner GANZEN Realität nur adäquat formulieren können, wenn wir uns entschließen, es FRAGMENTARISCH zu formulieren (was nicht partiell bedeutet).”19 Rückblickend wird deutlich, dass die kollektive Fragmentkette der Ausdruck einer Hoffnung war: Ihre Ethik entfaltet sich als Möglichkeit des Zusammenseins in der Differenz.

Dazu ist es nicht gekommen. Die erhoffte Gemeinschaft der Schriftsteller zerbrach entlang der Grenzen, die zu überwinden man angetreten war. Es ist, Christophe Bident hat es gesehen20, als seien Blanchots spätere Fragmente eine traurige Erinnerung an das, was die wahre écriture plurielle, in der Gemeinschaft einer “wesentlich internationalen Zeitschrift”, hätte sein können.

Dreißig Jahre nach dem Scheitern der Revue Internationale will die französische Zeitschrift La règle du jeu wissen, wie die Schriftsteller zum Nationalismus stehen. Die Mauer ist gefallen, das Nationale zeigt sich von seiner Sonnenseite. Maurice Blanchot schickt einige trockene Zeilen: “Es gibt keinen guten Nationalismus. Der Nationalismus neigt immer dazu, alles, alle Werte, zu integrieren – so wird er allumfassend, das heißt der einzige Wert. Die Anforderung des Internationalen: Ich erlaube mir, Sie auf die Ausgabe 11 der Zeitschrift Lignes zu verweisen, die das Dossier der Revue internationale (1960-1964) veröffentlicht hat. Sie legt unsere Bestrebungen dar, als französische, italienische, deutsche, englische Schriftsteller. Das Scheitern unseres Projektes hat nicht bewiesen, dass es eine Utopie war. Was nicht gelingt, bleibt doch nötig. Es ist noch immer unser Bestreben.”21

Anders gewendet: Was sich nicht realisiert, wird nicht deshalb unmöglich – es bleibt, im Gegenteil, möglich. Utopisch Gescheitertes speist das Sehnsuchtssystem des Kosmopolitismus. Auf dieses Potenzial im rechten Moment zurückzugreifen, ist die Aufgabe von Publizistik als Kairologie.

Als Heft 7 von Elio Vittorinis und Italo Calvinos Zeitschrift Il menabò di letteratura, Turin 1964.

Daniel Defoe: An Essay Upon Projects (1697), http://www.gutenberg.org

Zur Figur des Projektemachers siehe Markus Krajewskis gleichnamiges Buch (Berlin: Kadmos 2004).

Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Ich folge seiner Darstellung.

ebd., S. 135.

ebd., S. 130.

ebd., S. 129.

Ernst Bloch an Karola Piotrkowska, zitiert nach Benjamin und Brecht, S. 148f.

Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme. Teil 1: Von den Anfängen bis zum Zeitalter der Romantik. Wiesbaden: Otto Harrossowitz 1958, S. 251-252.

Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973/1959, S. 1.

Maurice Blanchot: "[Projekt]", in: Politische Schriften 1958-1993. Aus dem Französischen von Marcus Coelen. Berlin: diaphanes 2007, S. 61. Blanchot hat die Projektskizze 1961 verfasst.

Die Geschichte der Revue Internationale habe ich ausführlich rekonstruiert in Die unmögliche Gemeinschaft. Maurice Blanchot, die Gruppe der rue Saint-Benoît und die Idee einer internationalen Zeitschrift. Berlin: Kadmos 2009. Dort auch weitere Quellen. Die wichtigsten Konzeptpapiere und Briefe sind veröffentlicht im "Dossier de la Revue Internationale" in: Lignes (Paris), n° 11, 1990.

"Dossier de la Revue Internationale", a.a. O., S. 285.

Maurice Blanchot: "[Projekt]", S. 63.

ebd.

ebd., S. 62.

Siehe Uwe Johnsons Protokoll des Treffens im Anhang seines Briefwechsel mit Siegfried Unseld: Uwe Johnson, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 1123-1136.

Siehe Bernd Neumann: Uwe Johnson. Berlin: Ullstein 2000/1994, S. 504.

Maurice Blanchot: Der Name Berlin -- Le nom de Berlin. Berlin: Merve 1983, S. 9. Blanchot verfasste den Text unmittelbar nach dem Mauerbau für die geplante erste Ausgabe der Revue Internationale.

Christophe Bident: Maurice Blanchot. Partenaire invisible. Seyssel: Champ Vallon 1998, S. 438.

Maurice Blanchot: "[Sur le nationalisme]", in: La règle du jeu n° 3, 1991, S. 221f.

Published 26 May 2010
Original in German
First published by Wespennest 158 (2010)

Contributed by Wespennest © Roman Schmidt / Wespennest / Eurozine

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