Staatserinnerung

Es hat sich herumgesprochen: In der Geschichtspolitik geht es nicht um Geschichte, sondern um Politik. Die Deutung der Vergangenheit dient dazu, die Gegenwart zu bestimmen und künftige Entwicklungspfade von Staat und Gesellschaft abzustecken. Daher gibt die Frage, wie Russland den 100. Jahrestag der Revolutionen im Februar und Oktober 1917 begeht, Auskunft über das Selbstverständnis der politischen Führung im Kreml, das Weltbild der gesellschaftlichen Gruppen und die Werte der Menschen in Russland. Dies gilt ebenso für alle anderen Staaten, die bis 1991 zur Sowjetunion gehört hatten.

In der Sowjetunion galt die Oktoberrevolution als Ereignis von welthistorischer Bedeutung, als Auftakt zur Befreiung des Menschen von materieller Not, politischem Zwang, Gewalt und Krieg. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sollte abgeschafft, Gleichheit und Gerechtigkeit hergestellt werden. Sowohl die Imperien als auch die Nationalstaaten sollten überwunden, die Völker in einer weltweiten Union Sozialistischer Sowjetrepubliken aufgehoben werden. Nicht weniger als der Ewige Frieden auf Erden war das Ideal der Revolution.

Doch die Bolschewiki konnten mit ihrer Utopie nie eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich scharen. Am Anfang der kommunistischen Weltbewegung stand eine gewaltsame Machtergreifung, die Russland vom Ersten Weltkrieg unmittelbar in den Bürgerkrieg führte. Schon bald diente der Geist der Utopie zur Rechtfertigung von unermesslicher Gewalt: von Massenerschießungen, Lagern, Vernichtung durch Hunger, Terror.

Russlands staatliche Erinnerungspolitik verdrängt beides: die Utopie wie die Gewalt. Sie möchte nichts von Tätern wissen und nicht der Opfer gedenken. Sie kennt nur eine Tragödie, die wie ein Naturereignis über die Gesellschaft hereingebrochen sei – und den Staat, der angeblich einzig Rettung zu bringen vermag.

Der Umgang mit dem 100. Jahrestag der Revolutionen von 1917 ist daher für Russlands Führung eine geschichtspolitische Quadratur des Kreises. Wie an Ereignisse erinnern, die für den Niedergang und die Zerstörung eines Staates, des Russischen Reiches stehen? Wie an die Ideale, zu denen die herrschende Elite ein so zynisches Verhältnis hat, und auf denen doch der Staat und seine Apparate errichtet wurde, denen sie entstammt? Das kann ohne erinnerungspolitische Inkonsistenzen nicht gelingen. Der Säulenheilige der Revolution, Vladimir I. Lenin, ist tief gefallen. Bereits vor Jahren machte Präsident Putin Lenin und dessen Nationalitätenpolitik für die Zerstörung des Russischen Imperiums verantwortlich. Gleichzeitig ist Putin, der seinen Aufstieg einer Karriere im KGB und FSB verdankt, bis heute stolz darauf, in der Tradition der kommunistischen Geheimpolizei Tscheka zu stehen. Deren Gründung jährt sich 2017 ebenfalls zum einhundertsten Mal: am 20. Dezember.

Die Fixierung des Regimes auf den starken Staat und das Stabilitätsmantra, in dem sich die Angst vor jeglicher Veränderung spiegelt und mit dem jegliche Reformforderung aus der Gesellschaft als Aufruf zur Revolution diffamiert wird, führt zu einer Verdrängung des Jahres 1917. Dieses soll nicht mehr als Zäsur gesehen werden. Die geschichtspolitischen Leitlinien geben vor, die Jahre 1914–1922 als eine einzige Phase zu betrachten. Historiographisch gibt es Gründe für diese Ausweitung des Horizonts. Erinnerungspolitisch hat sie jedoch die Funktion, eine Kontinuität zwischen dem Russischen Reich und der Sowjetunion zu behaupten. Was Kritiker der Sowjetunion stets vorgehalten hatten, dass sie eine Fortsetzung des Imperiums mit anderer Ideologie sei, ist – positiv gewendet – zu Russlands Staatsideologie geworden.

Kulturminister Vladimir Medinskij hatte bereits 2015 den Interpretationsrahmen vorgegeben: Die Revolutionsperiode sei wie die dynastische, soziale und nationale Krise Anfang des 17. Jahrhunderts eine zweite „Zeit der Wirren“ gewesen, die zum Verlust des Imperiums geführt habe. Ursache für den Niedergang des Staates sei zum einen die Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg gewesen, zum anderen die Spaltung der Elite in „Rote“ und „Weiße“. Unbedingte Einheit sei die Lehre aus der Geschichte. Das Menetekel der „Wirren“, das Medinskij an die Wand malt – ein Begriff, den das Regime und seine Anhänger auch für die 1990er Jahre verwenden – rechtfertigt die Unterdrückung gesellschaftlicher Pluralität. Und wenn bis in höchste Kreise davon die Rede ist, die Revolution von 1917 sei eine Verschwörung fremder Mächte gegen den russischen Staat gewesen, so klingt nicht zufällig die Kampagne gegen die als „ausländische Agenten“ diffamierte Zivilgesellschaft an.

Dieses Weltbild passt ausgezeichnet in jenes der Russisch Orthodoxen Kirche. In der zentralen Stoßrichtung der Erinnerungspolitik und des aktuellen politischen Denkens üben sich Kirchenspitze und Staatsspitze in nationalpatriotischem Gleichklang. Im „harmonischen“ Gedenken an die Ordnung, die 1917 gestürzt worden war, lässt sich vergessen, dass Priester und Gläubige unter den Bolschewiki besonders zu leiden hatten – und ebenso, dass die Kirche tief in die Gewaltstrukturen der Sowjetunion verstrickt war.

Diese Form der Erinnerung rechtfertigt die autoritäre politische Ordnung ebenso wie Russlands Abkehr von Europa und die Ablehnung jedes selbstverantwortlichen, freiheitlichen Denkens. Nichts ist der herrschenden Elite so fremd wie die Idee aufgeklärter, mündiger Menschen, die wünschen, Bürgerinnen und Bürger zu sein, Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen, die ihre Repräsentanten in freien Wahlen bestimmen und die Regierung durch die Herrschaft des Rechts und die Teilung der Gewalten kontrollieren wollen. Das waren die freiheitlichen Ideale der Februarrevolution. Diese sind nach 70 Jahren Sowjetherrschaft, einem kurzen Interregnum und fast zwei Jahrzehnten Putin-Herrschaft vollkommen verdrängt. Umso größer war der Schock für die Herrschaft im Kreml, als der Majdan in der Ukraine das revolutionäre Potential eines demokratischen Aufbruchs in Erinnerung rief.

 

Berlin, im September 2017

Published 10 November 2017
Original in German
First published by Osteuropa 6-8/2017

Contributed by Osteuropa © Manfred Sapper, Volker Weichsel / Osteuropa / Eurozine

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